Auszug
Jeder Akt der Kritik setzt sich aus zwei Momenten zusammen: Der Kritiker trifft erstens eine Unterscheidung; er versieht zweitens eine Seite der Unterscheidung mit einer wertenden Markierung und erklärt das, wovon er sich absetzt, für verwerflich, unwahr, stümperhaft, hässlich oder sonst wie ungenügend. Er sagt »ich sehe es anders« und sagt »ich will es nicht«. Der Kritiker ist ein Richter ohne Gesetzbuch, sein Urteil zugleich Verurteilung. Vor dem Tribunal der Kritik gibt es niemals einen Freispruch, aber stets eine Fortsetzung der Beweisaufnahme. Und für jeden Schuldspruch gilt: Revision zugelassen.
Der folgende Beitrag ist zuerst erschienen in: Mittelweg 36 15/4 (2006), S. 93–100; für die vorliegende Publikation wurde er geringfügig überarbeitet.
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Literatur
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Bröckling, U. (2007). Kritik oder die Umkehrung des Genitivs. In: Huber, J., Stoellger, P., Ziemer, G., Zumsteg, S. (eds) Ästhetik der Kritik oder Verdeckte Ermittlung. Springer, Vienna. https://doi.org/10.1007/978-3-211-70899-6_3
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