Zusammenfassung
Für Heidegger, sagt Ernst Tugendhat, wurde der Begriff der Wahrheit „zum philosophischen Grundbegriff“1. In der Tat wird in allen Schriften Heideggers die Frage nach dem, was Wahrheit ist bzw. als was sie allen-falls gedacht werden soll, zum zentralen Thema seiner Überlegungen, und zwar schon in seinen frühesten Veröffentlichungen, welche bereits im Titel diesen Problembereich abgrenzen2, in der Habilitationsschrift3, in „Sein und Zeit“4, wo die eigentliche Bedeutungsbestimmung in extenso entwickelt wird, und in allen danach erscheinenden Schriften bis hin zum klärenden Aufsatz „Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Den-kens“5. Daß bei einer derart eingehenden Beschäftigung mit dem — wie Nicolai Hartmann es kennzeichnet — „wichtigsten Problem der Erkenntnis, ja vielleicht der ganzen Philosophie“6 der Wahrheitsbegriff Heideggers sowohl hinsichtlich seines Umfangs als auch seines Inhalts z.T. recht befremdlich oszilliert, darf zum Anlaß genommen werden, dessen intensive terminologische Festlegung in der eigentlichen Wahrheitsschrift7 zu inter-pretieren. Interpretation bedeutet aber nicht, die Sache — das Bedenken der „Pilatusfrage“ — besser machen zu wollen, vielmehr soll das Vorfindliche an seinem Ort aufgesucht, erörtert, mit den herkömmlichen Vorstellungen konfrontiert und damit die Fragestellung unter einem anderen Aspekt erneut vorgebracht werden. Hinzu kommt, was erst recht für ein nachvollziehendes Bedenken spricht, daß eben vieles in Heideggers Schriften nicht eindeutig abgefaßt und bisweilen sogar recht dunkel formuliert ist.
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Anmerkungen
E. Tugendhat: Heideggers Idee von Wahrheit; in: Wahrheitstheorien, hrsg. von G. Skirbekk, Frankfurt a. M. 1977 (S. 431-448), S. 431.
GA Bd. 1: Das Realitätsproblem in der modernen Philosophie (1912). M. Heidegger: Die Lehre vom Urteil im Psychologismus (1914); in: Frühe Schriften, Frankfurt a. M. 1972, vgl. S. 117 ff.
M. Heidegger: Die Kategorien-und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1916); in: Frühe Schriften, vgl. z.B. S. 207 ff., S. 210, S. 212 und S. 221.
SuZ, §44, S. 212-230.
M. Heidegger: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens; in: Zur Sache des Denkens, 2. Aufl., Tübingen 1976, S. 65 ff.
N. Hartmann: Einführung in die Philosophie, hrsg. von K. Auerbach, 2. Aufl., Osnabrück 1952, S. 99.
WdW. Vgl. dazu: Aristoteles: Metaphysik 993 b, 19. Hier steht auch jener Satz, der richtungsweisend für die formale Ansicht von Heideggers Wahrheitsaufassung gewesen sein dürfte (993 b, 23 ff.): „Die Wahrheit aber wissen wir nicht ohne Erkenntnis des Grundes... Den höchsten Grad von Wahrheit hat also dasjenige, welches für das Spätere Ursache der Wahrheit ist.“
F. Heinemann: Existenzphilosophie lebendig oder tot? Zürich/Wien 1954, S. 88. Vgl. dazu auch K. Löwith: Heidegger — Denker in dürftiger Zeit, 2. Aufl., Göttingen 1960, S. 9 ff. — Übrigens spricht Heidegger sogar selbst von den „unzureichenden Deutungen des eigenen Vorhabens“, welche „unausweichlich der zeitgenössischen Vorstellungsweise und Sprache verhaftet“ (Vorwort zu: Heidegger — Through Phenomenology to Thougth, W. J. Richardson, 2. Aufl., Den Haag 1967, S. XV) blieb.
M. Heidegger: Piatons Lehre von der Wahrheit, Bern 1947, S. 119; s. auch ders.: Über den Humanismus, 17.-22. Tausend, Frankfurt a. M. 1968, S. 47.
A. a. O., speziell S. 207 ff.
SuZ, S. 212-230.
Vgl. SuZ, vgl. WdW, S. 29: „Die entscheidende Frage... nach dem Sinn, d. h.... nach dem Entwurfbereich, d. h. nach der Offenheit, d. h. nach der Wahrheit des Seins und nicht nur des Seienden, bleibt absichtlich unentfaltet.“
WdW, S. 28.
Vgl. SuZ, S. 4.
SuZ, S. 5: „Dieses durchschnittliche und vage Seinsverständnis ist ein Faktum.“
SuZ, S. 215 (im Original nicht gesperrt).
SuZ, S. 1, im Anschluß an das Sophisteszitat.
Vgl. SuZ, S. 214. Eine Nachzeichnung der Daseinsanalytik würde über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen. — Übrigens ist es bemerkenswert, daß Heidegger an dieser Stelle die zweite der drei Thesen in seinem Sinne wiedergegeben hat, da er übersetzt: „Das Wesen der Wahrheit liegt in der ‚Übereinstimmung ‘des Urteils mit seinem Gegenstand“ (SuZ, ebd., im Original nicht gesperrt). Thomas von Aquins Definition lautet jedoch: „Omnis autem cognitio perficitur per assimilationem cognoscentis ad rem cognitam, ita quod assimilatio dicta est causa cogni-tionis: sicut visus per hoc quod disponitur per speciem coloris, cognoscit colorem. Prima ergo comparatio entis ad intellectum est ut ens intellectui correspondeat: quae quidem correspondentia, adaequatio rei et intellectus dicitur; et in hoc formaliter ratio veri perficitur“ (Quaest. disp. de veritate, qu. I, art. I c). Wenig später heißt es (ebd., art. 3 c): „Veri enim ratio constitit in adaequatione rei et intellectus.“ Und in der „Summa Theologiae“ wird ähnlich definiert: „... veritas invenitur in intellectu, secundum quod apprehendit rem ut est“ (1. I q., XVI a., V c). Das von Heidegger hinzugefügte Possessivpronomen würde aber, wenn es wirklich gälte — und natürlich gilt es nicht — eine Auseinandersetzung mit der Abbildtheorie überflüssig machen, da letztere in dieser solipsistischen Form überhaupt keine Aussagen über das Zutreffen von wahr (richtig) oder unwahr (falsch) zulassen würde, weil hierbei der korrelative Sachverhalt nicht einmal mehr vergegenständlicht und mithin ausgeschlossen wäre. Ein HyperSubjektivismus kann jedoch nicht gemeint sein.
SuZ, S. 212.
Auf die Tatsache, daß Heidegger z.T. recht eigenwillig übersetzt hat, kann hier nicht eingegangen werden, auch nicht darauf, daß und weshalb er das Denken der Vorsokratiker für das zutreffendste hält.
SuZ, S. 213.
Ebd.
Vgl. für Kopula, wo es einleuchtend ist: Die Lehre vom Urteil im Psychologismus, S. 117 ff., speziell S. 119 und SuZ, S. 4f.; für Konjunktion: Zur Sache des Denkens, a. a. O., S. 4 und vor allem: Kant und das Problem der Metaphysik, Bonn 1929, S. 233.
SuZ, S. 213 (im Original nicht gesperrt).
SuZ, S. 216.
SuZ, S. 218.
SuZ, ebd. E. Tugendhat, a. a. O., S. 437-440, zeichnet die Entwicklung des Wahrheitsbegriffs Heideggers peinlich genau — Pflege des Buchstabens! — nach und weist auch auf zwei wesentliche Schwachstellen in Heideggers Argumentation hin.
Vgl. SuZ, § 24, S. 110 ff. und speziell § 27, S. 129.
SuZ, S. 220.
Ebd.
Ebd.
Vgl. Met. 1051b ff. (aletheia versus pseudos): vgl. auch ebd., 993 a 30 ff. und 993 b 25 ff.
Parmenides; in: W. Capelle: Die Vorsokratiker — Die Fragmente und Quellenberichte, Leipzig 1935, fr. 1. Die Fragmente sind an dieser Stelle in der Anordnung mit Diels/Kranz identisch, die Stelle selbst mit Diels (vgl. Anm. 1, S. 164).
SuZ, S. 220 f.
SuZ, S. 222.
Ebd.
Vgl. SuZ, S. 219 f. und S. 226: Ursprünglicher Sinn von aletheia.
SuZ, S. 226.
SuZ, S. 133; vgl. dagegen SuZ, S. 350, wo das Dasein „gelichtet“ ist.
Vgl. SuZ, S. 12 ff., vor allem S. 13: „Die existenziale Analytik ihrerseits aber ist letztlich existenziell d. h. ontisch verwurzelt.“
SuZ, S. 226.
SuZ, S. 228. Das Voraussetzenmüssen hat nicht den gleichen Sinn wie die Vernunftspostulate Kants, Gott, Freiheit, Unsterblichkeit (vgl. Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von R. Schmidt, Nachdruck der 2. Aufl., Hamburg 1976, A 669 ff., B 697 ff. und A 798, B 826 und Vorrede zur 2. Aufl., B XXX), weil Heidegger den Bereich des kritischen Bewußtseins überwunden zu haben glaubt (vgl. Was ist Metaphysik? 10. Aufl., Frankfurt a. M. 1969, S. 43ff.).
Vgl. SuZ, S. 215.
I. Kant, a. a. O., A 508ff., B 536ff.
Vgl. SuZ, S, 229.
SuZ, S. 297. Die Ausarbeitung der Entschlossenheit als „das verschwiegene, angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein“ (ebd.) bringt zwar hinsichtlich der Wahrheitsproblematik kein prinzipiell neues Moment in die Diskussion (vgl. SuZ, S. 298), wohl aber in Bezug auf die Hermeneutik des Daseins.
M. Heidegger: Was heißt Denken? 3. Aufl., Tübingen 1971, S. 128.
SuZ, S. 19. Zum Begriff „Destruktion“ vgl. SuZ, S. 22.
Vgl. SuZ, S. 22.
SuZ, S. 297, vgl. dazu SuZ, S. 192.
M. Heidegger: Zur Sache des Denkens, a. a. O., S. 76. Die dadurch angeschnittene Problematik, daß Heidegger meint, die transzendentale Selbstauffassung und die phänomenologische Begründung der Logik Husserls überwunden zu haben, bedarf einer eigenen Ausarbeitung.
SuZ, S. 344.
SuZ, S. 234.
Vorwort zu: Heidegger — Through Phenomenology to Thought, a. a. O., S. XIII.
Vgl. SuZ, S. 13.
WdW, S. 5.
Ebd.
WdW, S. 7.
SuZ, S. 38.
WdW, S. 6.
Vgl. die Kopernikanische Wende Kants (Vorrede zur 2. Aufl. der K. d. r. V., B XVI und Anm. zu B XXII). Vgl. dazu auch: G. Prauß: Einführung in die Erkenntnistheorie, Darmstadt 1960, S. 164. Prauß zeigt auf, daß Kant eben nicht einer Adäquationstheorie das Wort redete, wie Heidegger (SuZ, S. 215) meinte.
WdW, S. 10.
Obwohl sich Heidegger dagegen verwahrt, „psychologischen“ oder „bewußtseinstheoretischen“ (WdW, S. 11) Vorstellungen Vorschub zu leisten, bleibt die Tatsache bestehen, daß das Denken als Vorstellen realer oder idealer Gegebenheiten Gegenstand der Psychologie ist. Daß dies zur Zeit der Entstehung der Wahrheitsschrift beinahe in Vergessenheit geraten war — vor allem unter dem Einfluß des Behaviorismus —, ändert am Faktum nichts.
Vgl. ebd. — Auf die damit angesprochene Art des Erkennens als durch den Menschen Hervorgebrachtes sei lediglich hingewiesen.
WdW, S. 11.
WdW, S. 12.
WdW, S. 13.
Ebd.
Ebd.
WdW, S. 15.
WdW, S.16.
Ebd. — Der von Heidegger angesprochene „Anfang“ ist zwar — zumindest explizite — recht spät aufzufinden. Im VI. Buch, Kap. 3 ff. der Nikomachischen Ethik gibt Aristoteles das Entbergen als Methode zur Erlangung von Erkenntnis an; siehe vor allem Kap. 4.
Ebd. — Dadurch ist der direkte Bezug zu „Sein und Zeit“ hergestellt. Zugleich wird offenbar, weshalb an dieser Stelle vom Dasein und nicht vom Menschen die Rede ist, wie sonst fast durchwegs in der Schrift „Vom Wesen der Wahrheit“.
Vgl. dazu die im WS 1961 an der FU Berlin von W. Weischedel gehaltene Vorlesung: „Aspekte der Freiheit“ (ohne Angaben), wo der gesamte traditionelle Bedeutungskatalog von Freiheit erörtert wird.
WdW, S. 16. — An dieser Stelle wird erstmals die Deutung und Bedeutung von ‚Gelassenheit ‘ersichtlich.
Damit verdeutlicht Heidegger seine Auffassung, daß die Zeit der Sinn von Sein ist.
WdW, S. 17.
WdW, S. 18.
WdW, S. 19 (im Original nicht gesperrt).
Vgl. SuZ, S. 137.
WdW, S. 19 f. Auf die Nähe zum Hegeischen Wahrheitsbegriff sei lediglich hingewiesen.
WdW, S. 20.
WdW, S. 21.
Ebd.
WdW, S. 23.
Beachtenswert ist bei dieser Darlegung die Fortführung der Untersuchung: Von der Wahrheit des Seienden (in „Sein und Zeit“) zur Wahrheit des Seins (in „Vom Wesen der Wahrheit“).
Diese erweiterte Bestimmung der Erschließung des Daseins als Entschlossenheit im Vorlaufen knüpft an die zentrale Thematik von „Sein und Zeit“ an. In der Irre befindet sich das Dasein in der existenzialen alltäglichen Uneigentlichkeit des Man-selbst. Allerdings wird nun versucht, in umgekehrter Richtung, d. h. vom Sein her, die Existenzialien zu begründen.
WdW, S. 25.
WdW, S. 28. Dieser Teil des als „Anmerkung“ bezeichneten Anhangs ist erst in der 5. Aufl. hinzugekommen.
Vgl. dazu besonders M. Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks; in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1950. S. 41 ff., S. 76; sowie vom gleichen Autor: Das Ende der Philosphie und die Aufgabe des Denkens.
WdW, S. 12.
Vgl. Aristoteles: Metaphysik, 993 a 30 ff.
WdW, S. 11.
Ebd.
WdW, S. 29.
WdW. S. 28.
Hierbei ist zu beachten, daß „Da-sein“ (ebd., S.29) nicht gleichbedeutend ist mit dem Dasein als Existenz. „Da-sein“ entspricht dem Seienden im Ganzen.
M. Heideggers Schrift „Kant und das Problem der Metaphysik“ erschien 1929; vgl. in diesem Zusammenhang vor allem S. 235.
WdW, S. 29.
Vgl. H. Barth: Philosophie der Existenz; in: Jb. der Schweiz Philos. Gesellschaft, Vol. II, Basel 1942, S. 22-46, besonders S. 33ff.-S. auch vom gleichen Autor: Transzendierende Existenz; in: Studia Philosophica, Jb. der Schweiz. Philos. Gesellschaft, Vol. VII, Basel 1947, S. 4-26; hier formuliert H. Barth: „Erkenntnis beruht letztgültig auf Sein, Vernunft und Wahrheit“ (S. 25).
Über den Humanismus, a. a. O., S. 45.
WdW, S. 25.
Valide Quellen zur politischen Verfehlung M. Heideggers sind überaus schwer zugänglich. Vgl. dazu K. Löwith: Gesammelte Abhandlungen, Stuttgart 1960, S. 118 ff. sowie G. Schneeberger: Ergänzungen zu einer Heidegger-Bibliographie; in: Zs. für philos. Forschung, Bd. 11, H. 3, Bern 1960 und ders.: Nachlese zu Heidegger, Bern 1962.
R.M. Rilke: Sämtliche Werke, hrsg. vom Rilke-Archiv, 8.-10. Tausend, Frankfurt a. M. 1962, S. 732. Das Sonett endet wie folgt: „In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch. Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind.“ Es wäre zu untersuchen, ob diese Kennzeichnung der Wahrheit grundsätzlich immer in der Bedeutung des Wahrheitsbegriffes mehr oder minder ausdrücklich mitschwingt.
M. Heidegger: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, S. 77; vgl. auch ebd. die Anmerkung sowie S. 76 und vor allem S. 78: „Dann ist aber auch die Behauptung von einem Wesenswandel der Wahrheit, d. h. von der Unverborgenheit zur Richtigkeit, nicht haltbar.“ Aus dieser Berichtigung erwächst indessen die Aufgabe, die früheren Schriften, worin die nun ungültige Wahrheitsauffassung im Zentrum des Gedankengangs steht, auf ihren Aussagewert überhaupt zu kontrollieren.
Dies eindeutig entgegen der Intention Heideggers. Daß sie dessen ungeachtet zweifelsfrei erwiesen ist, kann hier nicht dargestellt werden.
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Hartmann, W.E. (1985). Zur Problematik von Martin Heideggers Wahrheitsbegriff. In: Cesana, A., Rubitschon, O. (eds) Philosophische Tradition im Dialog mit der Gegenwart. Birkhäuser, Basel. https://doi.org/10.1007/978-3-0348-5423-8_8
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