Zusammenfassung
Ich glaube nicht, daß die Hölle ein Ort ist, sondern ein Zustand des menschlichen Seins. «Das Böse an sich existiert nicht», schrieb Augustinus, «sondern ist lediglich die Abwesenheit oder Negation des Guten.» Derlei Feinheiten liegen außerhalb meiner Kompetenz; ich bin Naturwissenschaftler, kein Theologe. Ich weiß nicht, woraus das Böse entsteht, aber ich habe gesehen, was es anrichtet. Ich habe seine Auswirkungen untersucht, als es bereits über die Sanftmütigen, Schwachen und Unschuldigen gesiegt hatte. Auf meinem Labortisch habe ich gesehen, welche Sprache das Böse sprechen kann. Ich war auch bei Hinrichtungen und Autopsien von Verbrechern anwesend und sah die schwarzen Brandstellen, die der elektrische Stuhl an ihren rasierten Köpfen und Beinen hinterlassen hatte. Ich sah, wie man ihre Schädel aufschnitt und ihr Gehirn entnahm. Doch böse Geister, die wie Fledermäuse im Autopsieraum herumschwirren, habe ich nie gesehen. Dennoch betrachte ich das Hirn eines Mörders immer mit einer gewissen prickelnden Neugier: was mag in diesen korallfarbenen, grauen Windungen verborgen liegen? Was geschah auf den komplizierten Wegen durch die feinen Vernetzungen aus Axonen und Dendriten, deren winzige und unzählige Funken die physikalische Grundlage unseres Denkens bilden? Ich weiß es nicht. Während meiner langjährigen Arbeit bin ich mit den schrecklichsten Gewalttaten und unverbesserlichen Mördern konfrontiert worden, aber einen Weg, die Abgründe der menschlichen Natur zu ergründen und ihrem Treiben ein Ende zu setzen, habe ich bis heute nicht gefunden.
Mir schien,
Als würde das Leben geschwind den endlosen Raum durchschreiten, Und nur einen Augenblick später brachen die ansteigenden Wogen Des Meeres der Vergangenheit über seinen Spuren Und verschlangen sie, wie ein nachjagendes Grab... Da lagen sie, in stumpfes Licht gehüllt, Unter dem Leichtuch einer klaren Nacht, Wie feierliche Erscheinungen, in ewige Ruhe gebettet — Mit ihnen war die Zeit eingeschlafen, wie auf einer Sonnenuhr im
Dunkeln,
Wo die Sonne niemals scheint. Thomas Hood (1799–1845), Das Meer des Todes
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Welge, K., Maples, W.R., Browning, M. (1996). «Wo die Sonne niemals scheint». In: Knochengeflüster. Birkhäuser, Basel. https://doi.org/10.1007/978-3-0348-5089-6_9
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