Auszug
In Umberto Ecos historischem Kriminalroman Der Name der Rose lernen wir in einer geheimnisumwitterten italienischen Benediktinerabtei einen fiktiven Mikrokosmos kennen.01 Es ist eine abgeschiedene Welt vermeintlich fest gefügter, scholastisch abgesicherter Ordnungen inmitten einer Zeit des Umbruchs, des Chaos und des Wandels. Da man in diesem mönchischen locus amoenus plötzlich zu viel zu wissen verlangt, was die überlieferten Machtstrukturen aus den Fugen zu heben droht, nimmt im Spätherbst des Jahres 1327 das Verhängnis seinen Lauf. Unverständliche, geheimnisvolle und schreckenerregende Geschehnisse suchen die Abtei heim. Der Roman macht uns dabei vertraut mit den Denk- und Argumentationsweisen der damaligen Zeit, die der kundige Semiotiker und Mediävist aus Bologna geschickt mit unseren heutigen über-blendet. Er führt uns ein in die historisch und kulturell bedingte Auffassung von Kategorien wie Nichtwissen und Nichtverstehen respektive Wissen, Verstehen, Erkenntnis und Wahrheit,02 ja in eine Kunst der verkehrten Welt. Diese Begriffe und Kategorien — in ihrer Geschichtlichkeit auch relativ gesetzt — sind dabei, wie uns der Protagonist des Buches, der Franziskaner William von Baskerville, lehrt, von tradierten Vorstellungen maßgeblich mitgeprägt.03
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
— Umberto Eco, Der Name der Rose (1980), aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, München 272003. Für ein anregendes Gespräch über das Buch danke ich Matthias Oberli, Zürich.
— Zu diesen Kategorien und ihrer historischen Bedingtheit vgl. Werner Kogge, Die Grenzen des Verstehens: Kultur — Differenz — Diskretion, Weilerswist 2002; Eckhard Schumacher, Die Ironie der Unverständlichkeit: Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man, Frankfurt am Main 2000.
— In Bezug auf Bücher vgl. Eco (wie Anm. 1), S. 37, 157 und passim.
— Vgl. Dietmar Kamper, »Das Ende der Unbescheidenheit: Umberto Ecos Siebentagewerk einer Geschichte, die sich selbst erzählt«, in: Burkhart Kroeber (Hg.), Zeichen in Umberto Ecos Roman »Der Name der Rose«: Aufsätze aus Europa und Amerika, München/Wien 1987, S. 176–185.
— Das Erfolgsrezept seines Buches erklärt uns Eco in seiner innert Dreijahresfrist verkaufstechnisch geschickt nachgelieferten Nachschrift mit dem Verweis auf Manzoni: »Was aber tut Manzoni? Er nimmt das 17. Jahrhundert, eine Zeit der Versklavung Italiens, und lauter niederträchtige Typen, der einzige Haudegen ist ein Schuft, und Schlachten kommen nicht vor, und er traut sich sogar, die Geschichte noch zu belasten mit Zeitdokumenten und Schreien... Und das gefällt den Leuten, es gefällt einfach alien, Gebildeten wie Ungebildeten, Großen wie Kleinen, Frömmlern wie Pfaffenfressern! Warum? Weil Manzoni intuitiv erfasst hatte, dass genau dies es war, was die Leser seiner Zeit brauchten, auch wenn sie’s nicht wussten, auch wenn sie nicht danach verlangten, auch wenn sie nicht glaubten, dass es verdaulich sei. Anpassung? Haschen nach Publikumsgunst? Leicht gemacht? Ach je... Gearbeitet hat er, und wie! Mit Feile, Säge und Hammer, und mit dem Poliertuch, um sein Produkt genießbar zu machen. Um die empirisch vorhandenen Leser zu zwingen, sich in den Idealleser zu verwandeln, der ihm vorgeschwebt hatte.« (Umberto Eco, Nachschrift zum »Namen der Rose« [1983], München/Wien 31984, S. 58.)
— Eco (wie Anm. 5), S. 55. Vgl. dazu auch Eco (wie Anm. 1), passim.
— Originalversion: Il nome delta rosa / le nom de la rose, deutsch-französisch-italienische Produktion (Video 1987), mit Sean Connery in der Rolle von William von Baskerville und Helmut Qualtinger in jener von Remigio de Varagine. Zum Verhältnis von Buchvorlage und Film vgl. Ursulina Pittrof, Der Weg der Rose vom Buch zum Film: Ein Vergleich zwischen dem Buch »Il nome della rosa« und seiner filmischen Umsetzung, Marburg 2002.
— Vgl. dazu Kroeber (wie Anm. 4), S. 7; Thomas Stauder, Umberto Ecos »Der Name der Rose«: Forschungsbericht und Interpretation-Mit einer kommentierten Bibliographie der ersten sechs Jahre internationaler Kritik (1980–1986), Erlangen 1988, bes. S. 42–50.
— Er habe, so Eco wiederholt in ironisch-postmoderner Geste, fast nichts an diesem Buch »selbst« geschrieben. Vgl. dazu Kroeber (wie Anm. 4), passim.
— Vgl. z.B. die von Kroeber (wie Anm. 4), S. 11, zitierte Kritik an der Rose des deutschen Benediktiners Paulus Gordan, in: Erbe und Auftrag 59, H. 3 (1983): »Der Bestseller entpuppt sich als ein schlechtes, durch und durch verlogenes Buch. Auch >dichterischer Freiheit< ist es nicht erlaubt, eine so völlig unglaubwürdige Benediktinerabtei mitten in eine historisch genau bekannte Epoche einzuschmuggeln. [...] Schauplatz und >dramatis personae< sind total verzeichnet. Das Klima des Ganzen ist drückend, ein mephitischer Hauch von Satanismus durchzieht die Buchseiten.« Vgl. auch Giorgio Celli, »Wie ich Umberto Eco umgebracht habe« (1981), S. 7: »Dieser kryptothomystische Krimi, dieses Vom Winde verweht mit Latein anstelle von Clark Gable [...], dieses Delirium einer kulturellen Ökumene, diese Collage aus längst verstaubten Erzählstrategien des 19. Jahrhunderts hat in mir zunächst nichts als dumpfen Ärger, dann eine Art schmerzlichen und glühenden Hass und schließlich ein befreiendes Verlangen nach Gerechtigkeit hervorgerufen.«
— So Mersch in Bezug auf diesen und die übrigen Romane Ecos, vgl. Dieter Mersch, Umberto Eco zur Einführung, Hamburg 1993, S. 13.
— Teresa De Lauretis, »Die semiotische Phantasie«, in: Kroeber (wie Anm. 4), S. 32–33. Erstabdruck: Teresa De Lauretis, »L’immaginazione semiotica«, Kap. 3, in: dies., Umberto Eco (La Nuova Italia), Florenz 1981.
— Vgl. dazu Mersch (wie Anm. 11), S. 13.
— Dazu Eco (wie Anm. 1), S. 52, 56, 210, 244, 286 f., 417.
Ebd., S. 173, 210, 242, 286 ff.
— So Adson von Melk in Eco (wie Anm. 1), S. 243. Es ist der blinde Jorge von Burgos, der in seinem Fanatismus die Bibliothek unzugänglich hält und schließlich das Feuer, das den gesamten Bücherbestand zerstören wird, ausbrechen lässt: Eco (wie Anm. 1), S. 633.
— Eco (wie Anm. 1), S. 19, 56, 204, 272 f., 381, 418, 524, 635.
Ebd., S. 25.
Ebd., S. 23.
Ebd., S. 260, 269, 294, 296, 299, 300, 303, 327, 418.
— Zur Charakterisierung des Programms einer allgemeinen Semiotik als »Theorie der Lüge« vgl. Umberto Eco, »In Richtung einer Theorie der Kultur», in: ders., Im Labyrinth der Vernunft: Texte über Kunst und Zeichen, hg. von Michael Franz und Stefan Richter, Leipzig 41999, S. 13–45, hier S. 15.
— Eco (wie Anm. 5), S. 11: »die Rose ist eine Symbolfigur von so vielfältiger Bedeutung, dass sie fast keine mehr hat«.
— »[...] der Kriminalroman [ist] eine Konjektur-Geschichte im Reinzustand«, Eco (wie Anm. 5), S. 63.
— Was sich als falsch erweisen wird. So William von Baskerville in Bezug auf seinen Irrtum: »Dann habe ich mir ein falsches Muster zurechtgelegt, um mir die Schritte des Schuldigen zu erklären, und der Schuldige hat sich diesem falschen Muster angepasst« (Eco [wie Anm. 1], S. 615 f.).
— Dazu Gilles Deleuze / Félix Guattari, Rhizom, Berlin 1977; Eco (wie Anm. 5), S. 65.
— Eco (wie Anm. 1), S. 307.
— So der Abt des Klosters: Eco (wie Anm. 1), S. 590.
— So Adson von Melk angesichts des Kirchenportals der Abtei: Eco (wie Anm. 1), S. 60. Zur gewohnten Erfahrungswelt mit ihren Codes als Voraussetzung für das Verstehen bildlicher Darstellungen vgl. Oliver R. Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildlicher Darstellung, Frankfurt am Main 22004, S. 176. Zum Verstehen und Nichtverstehen (von Bildern): ebd., S. 163 ff. sowie die in Anm. 46 aufgeführte Literatur.
— Zur verkehrten Welt vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern / München 61967; Michael Egli, »Mundus Inversus: Das Thema der >verkehrten Welt< in reformationszeitlichen Einblattdrucken und Flugblättern«, in: Georges-Bloch-Jahr-buch des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Zürich 4 (1997), S. 41–59; Wilhelm Fraenger, Das Bild der »Niederländischen Sprichwörter«: Pieter Bruegels Verkehrte Welt, neu hg. von Michael Philipp, Amsterdam 1999; Michael Kuper, Zur Semiotik der Inversion: Verkehrte Welt und Lachkultur im 16. Jahrhundert, Berlin 1993; Luigi Castagna / Gregor Vogt-Spira (Hgg.), Pervertere: Ästhetik der Verkehrung — Literatur und Kultur neronischer Zeit und ihre Rezeption, München / Leipzig 2002; Die Verkehrte Welt: Moral und Nonsens in der Bildsatire (Ausstellungskatalog Goethe-Institut), Amsterdam 1984.
— Eco (wie Anm. 1), S. 111.
— Curtius (wie Anm. 29), S. 106.
— Zum Kunstwerk-und zum Schönheitsbegriff des Mittelalters vgl. Rosario Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter (Neuausgabe), Köln 1982, bes. S. 29 ff., 64 ff.; Umberto Eco, Kunst und Schönheit im Mittelalter, München 1993; Götz Pochat, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie: Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Köln 1986, bes. S. 179 ff., 186 ff.; U. Mörschel, »Kunsttheorien im Mittelalter«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. V, München / Zürich 1991, Sp.1573–1576.
— Eco (wie Anm. 1), S. 113.
— Vgl. dazu z.B. die Passagen in Eco (wie Anm. 1), S. 36 ff., 41 ff. und passim. Zum Namen der Rose als semiotisches Modell vgl. Mersch (wie Anm. 11), S. 13 ff.
— Eco (wie Anm. 1), S. 594.
Ebd., S. 66, 113, 125, 232. Zur Bedeutung des Lachens in Ecos Roman vgl. Massimo Parodi, »Silenzio o riso. Ipotesi di una lettura filosofica di >Il nome della rosa<«, in: Quaderni medievali (Juni 1981), S. 143–149. Zum Lachen im Mittelalter vgl. Jacques Le Goff, Das Lachen im Mittelalter, mit einem Nachwort von Rolf Michael Schneider, Stuttgart 2004; T. Vogel (Hg.), Vom Lachen: Einem Phänomen auf der Spur, Tübingen 1992. Die Forschungen zum Lachen zusammengefasst bei Stauder 1988 (wie Anm. 8), S. 306.
— Zum Bezug zu Borges vgl. u. a. Alfredo Giuliani, »Die Rose von Babel«, in: Kroeber (wie Anm. 4), S. 15–20, hier S. 17; Kroeber (wie Anm. 4), passim.
— Zur Bejahung des Lachens durch Aristoteles vgl. Le Goff (wie Anm. 36), S. 18, 48.
— Eco (wie Anm. 1), S. 132, 149, 176, 178, 260, 618.
— So Jorge in Eco (wie Anm. 1), S. 620 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Kritik der verkehrten Welt in der Kunst durch Bernhard von Clairvaux. Zum Lachverbot durch den Hl. Benedikt, den Ordensgründer der Benediktiner, vgl. Curtius (wie Anm. 29), S. 422; Le Goff (wie Anm. 36), S. 59.
— Eco (wie Anm. 1), S. 150 f., 174 f., 179, 618. Zur frühchristlich-mittelalterlichen Lehrmeinung, dass Christus nie gelacht habe, vgl. Le Goff (wie Anm. 36), S. 52; K.-J. Kuschel, »>Christus hat nie gelacht<? Überlegungen zu einer Theologie des Lachens«, in: Vogel (wie Anm. 36), S. 106–128. Zur kirchlichen Einstellung zum Lachen vgl. auch Curtius (wie Anm. 29), S. 421–423.
— Eco (wie Anm. 1), S. 630. Eco beschreibt dabei das Lachen Jorges in sämtlichen Nuancen vom Grinsen bis hin zum gewalttätigen Lachen und unterdrückten Schluchzen (S. 629 f.).
— Vgl. den Umstand, dass die frühchristliche und mittelalterliche Lehrmeinung überwiegend auf der (platonischen) Ächtung des Lachens beruht, während mit den Bettelorden die kulturelle und gesellschaftliche Aufwertung des Lachens einsetzt, die auf Aristoteles rekurriert. William von Baskerville gehört jenem Orden an, dessen Gründer dem Lachen und Lächeln gegenüber nachweislich aufgeschlossen war und dessen Mitglieder (z.B. Alexander von Hales) mit bedeutenden Abhandlungen zum Thema das Lachen propagierten.
— vgl. dazu Eco (wie Anm. 32), S. 218 f. und passim. Zur mittelalterlichen Ästhetik vgl. bes. Assunto (wie Anm. 32). Für die beiden Romanfiguren Jorge und William als Repräsentanten von Mittelalter und Neuzeit vgl. auch Mersch (wie Anm. 11), S. 65.
— »[...] es ist das Proprium des Wissens als einer göttlichen Sache, dass es abgeschlossen und vollständig ist seit Anbeginn in der Vollkommenheit des Wortes, das sich ausdrückt um seiner selbst willen«, so Jorge von Burgos in Eco (wie Anm. 1), S. 527.
— Zum Je ne sais quoi vgl. Erich Köhler, »Je ne sais quoi: Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen«, in: Romanistisches Jahrbuch 6 (1953/54), S. 21–59; Evelyn Chamrad, »Der Mythos vom Verstehen: Ein Gang durch die Kunstgeschichte unter dem Aspekt des Verstehens und Nichtverstehens in der Bildinterpretation«, Diss. phil., Universität Düsseldorf 2001, bes. S. 21 ff.
— Zur Enzyklopädie als Labyrinth vgl. Umberto Eco, »Die Enzyklopädie als Labyrinth«, in: Eco (wie Anm. 21), S. 104–109.
— Eco (wie Anm. 1), S. 643, 645.
Ebd., S. 654 F.
— Vgl. dazu Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente (Lizenzausgabe), Frankfurt am Main 1998.
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2005 Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst (ith)
About this chapter
Cite this chapter
Imesch, K. (2005). Verstehen und Nichtverstehen, Wahrheit, Kunst und Lachen in Umberto Ecos »Der Name der Rose«. In: Albrecht, J., Huber, J., Imesch, K., Jost, K., Stoellger, P. (eds) Kultur Nicht Verstehen. Springer, Vienna. https://doi.org/10.1007/3-211-27392-1_5
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/3-211-27392-1_5
Publisher Name: Springer, Vienna
Print ISBN: 978-3-211-24235-3
Online ISBN: 978-3-211-27392-0