FormalPara Zusammenfassung

Die Einführung einer elektronischen Patientenakte in Deutschland verzögert sich seit Jahren. Im Vergleich zur Bundesrepublik sind hier international strukturähnliche Länder – insbesondere diejenigen mit skandinavischer Prägung wie Dänemark und Estland – bei der Etablierung von elektronischen Patientenakten sehr viel weiter ( Kapitel 7 in diesem Band). Diesen Vorsprung erreichten diese Länder mittels starker Governance und durch frühzeitige Setzung verbindlicher Ziele und zeitlicher Rahmen bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Inhalte und Funktionen der elektronischen Patientenakte wurden von Anfang an klar definiert und technische sowie Interoperabilitätsstandards vorgegeben. Deutschland sollte sich diese Best-Practice-Länder und deren Wissensvorsprung zum Vorbild nehmen, um die elektronische Patientenakten nach über 14 Jahren des gefühlten Stillstandes auch hierzulande erfolgreich umzusetzen.

The implementation of an Electronic Patient Record in Germany has been delayed for years. Thus, it is lagging behind in comparison to other European countries ( chapter 7 in this volume). Pioneers in this field are Denmark and Estonia. Both countries achieved a lead in the development of Electronic Patient Records through strong governance, setting binding goals and time frames for the digitisation of their healthcare system. The contents and functions as well as technical and interoperability standards were clearly defined from the outset. Germany should use the expertise arising from these best practice countries in order to successfully implement the Electronic Patient Record after more than 14 years of perceived stagnation.

1 Einleitung

Seit Jahren verzögert sich die Einführung einer elektronischen Patientenakte in Deutschland – im internationalen Vergleich hinkt die Bundesrepublik mittlerweile insbesondere Vorreiterländern skandinavischer Prägung weit hinterher (Amelung et al. 2016).

Rein theoretisch kann die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte, basierend auf dem GKV-Modernisierungsgesetz vom 14. November 2003, als Beginn der Erneuerung und Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens in der Bundesrepublik angesehen werden (Bundesanzeiger 2003). Mit dem am 21. Dezember 2015 verabschiedeten E-Health-Gesetz (Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen) wurde die Einführung einer elektronischen Patientenakte in Deutschland auch formal als wesentlicher Teil der Telematikinfrastruktur verankert (Bundesanzeiger 2015).

Zwar erfolgte die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte durch die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (gematik) stufenweise seit dem 01. Oktober 2011 und gilt seit 01. Januar 2015 als ausschließlicher Berechtigungsnachweis für die Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen. Doch neben diesem einfachen Update der Krankenversichertenkarte ist von den hochgesteckten Zielen der in der gematik vertretenen wichtigen Institutionen des Gesundheitswesens bisher wenig ersichtlich und erfolgreich: Angefangen von der Telematikinfrastruktur über „nutzbringende Telematikanwendungen“ wie einem Notfalldatenmanagement, den Aufbau „einrichtungsübergreifender Kommunikationsinfrastruktur“ wie dem elektronischen Arztbrief bis hin zu einer „elektronischen Fallakte“ oder elektronischen Patientenakte (GKV-Spitzenverband 2018a).

Gemäß aktuellem Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist die Einführung einer elektronischen Patientenakte bis 2021 vorgesehen (Bundesregierung 2018). In einem gerade erschienenen Positionspapier zu E-Health weist die Arbeitsgruppe Gesundheit der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag (2018) ferner daraufhin, dass eine Neuauflage des E-Health-Gesetzes notwendig sei, um die Digitalisierung im Gesundheitswesen allgemein voranzutreiben. Im Speziellen wird dabei die Forderung laut, die Telematikinfrastruktur inklusive ihrer Anwendungsformen wie der elektronischen Patientenakte flächendeckend und konsequent einzuführen. Dabei soll das Parlament die Selbstverwaltung – namentlich die gematik – stärker als bisher „eng […] begleiten, den Ausgleich zwischen widerstrebenden Interessen […] fördern, ordnend und nötigenfalls auch korrigierend ein[zu]greifen“. Zudem hat die Bundesregierung angekündigt, bis Ende des Jahres 2018 eine Strategie zur Umsetzung von Digitalvorhaben zu beschließen (Gerlof 2018).

1.1 Elektronische Patientenakten – Ein buntes Potpourri an Begrifflichkeiten

Das Verständnis über elektronische Patientenakten ist national wie auch international nicht immer eindeutig. Synonym werden dabei häufig Begriffe und Abkürzungen beziehungsweise Akronyme verwendet wie beispielsweise

  • Elektronische interne Patientenakte (iEPA; im Englischen als Electronic Medical Record (EMR) oder Electronic Patient Record (EPR) bezeichnet),

  • Elektronische Gesundheitsakte (eGA oder ELGA),

  • Einrichtungsübergreifende medizinische Fallakte (eFA),

  • Einrichtungsübergreifende Elektronische Patientenakte (eEPA; im Englischen als Electronic Health Record (EHR) oder Electronic Patient Record (EPR) bezeichnet),

  • Persönliche Elektronische Patientenakte (pEPA; im Englischen als Personal Electronic Health Record (PHR) oder Personally Controlled Health Record (PCHR) bezeichnet) oder

  • Patienten- (im Englischen als Patient Portal bezeichnet) oder Bürgerportal (im Englischen als Citizens oder State Portal bezeichnet),

die nicht immer klar voneinander abgegrenzt werden und sich hinsichtlich der gespeicherten Daten, Funktionen, Verwaltung sowie der Zugriffsrechte unterscheiden (Amelung et al. 2016; Arbeitskreis EPA/EFA 2011; Haas 2017; Krüger-Brand 2018).

Im Folgenden soll der Fokus auf der einrichtungsübergreifenden elektronischen Patientenakte liegen. Diese wird definiert als Medium, das „die wichtigsten Daten und Dokumente aller Behandlungen eines Patienten über alle Gesundheitsversorgungseinrichtungen hinweg“ dokumentiert. Darunter fallen zum Beispiel ärztliche Befunde und Diagnosen, Therapien, Impfungen, Entlassberichte oder Notfalldaten von Versicherten. Die elektronische Patientenakte ermöglicht demnach aufgrund der vollständigen Abbildung der Versorgungsprozesse eine sektoren- beziehungsweise einrichtungsübergreifende Kommunikation über die Gesundheitsdaten der Versicherten (Arbeitskreis EPA/EFA 2011).

1.2 Funktionalitäten und Potenziale elektronischer Patientenakten

Das deutsche Gesundheitssystem ist gekennzeichnet durch fragmentierte Versorgungsstrukturen, was eine koordinierte und sektorenübergreifende Versorgung von Patienten erschwert und zu erheblichen Mehrkosten für das Gesundheitssystem führen kann, beispielsweise bedingt durch Informationsverluste zwischen Behandlern, unnötigen (Doppel-)Untersuchungen oder unkoordinierten Behandlungsprozessen (Haas 2017). Durch den Einsatz einer elektronischen Patientenakte sollen auch in Deutschland diese Barrieren überwunden und Transparenz, Effektivität und Effizienz der Versorgung gesteigert werden (Heinze und Hilbert 2008; Schneider 2016).

Wie Tab. 1.1 eindrucksvoll unterstreicht, sind die Funktionalitäten und Potenziale einer elektronischen Patientenakte sehr umfassend.

Tab. 1.1 Auswahl der Bandbreite an potenziellen Inhalten und Funktionalitäten, die in elektronische Patientenakten integriert werden können (adaptiert nach Amelung et al. 2016 und Rode et al. 2012)

Durch digitale Lösungen kann die sektorenübergreifende Koordination und Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren im Gesundheitssystem optimiert werden. Die Dokumentation aller Diagnosen und Therapien aus der Behandlungshistorie in einer elektronischen Patientenakte kann eine Informationstransparenz schaffen, auf deren Datenbasis beteiligte Leistungserbringer sowie Patienten selbst adäquate Therapieentscheidungen treffen können. Neben einer zielgerichteten Behandlung können auf diesem Wege außerdem unnötige Doppeluntersuchungen oder unnötige Folgebehandlungen reduziert oder vermieden werden. Darüber hinaus kann beispielsweise durch die Speicherung des stationären Entlassungsberichts der Übergang zur anschließenden ambulanten Versorgung oder die weitere Versorgung durch verschiedene Fachärzte besser koordiniert stattfinden (Haas 2017; Krüger-Brand 2018; Schneider 2016).

Der hohe Bedarf an koordinierter, digitaler Versorgung ist unter anderem bedingt durch die Zunahme an multimorbiden Patienten oder Patienten mit chronischen Erkrankungen. Gerade im Kontext solch komplexer Krankheitsbilder kann mit Hilfe elektronischer Patientenakten die Gesundheitsversorgung durch eine niedrigschwellige Informationsverfügbarkeit potenziell kosteneffektiver und qualitativ besser organisiert werden (Guagliardo 2018; Heinze und Hilbert 2008).

Zudem kann durch die Speicherung von Medikationsdaten die Arzneimitteltherapiesicherheit gesteigert werden. Ziel ist hierbei, Medikationsfehler und unerwünschte Neben- und Wechselwirkungsrisiken für Versicherte zu vermeiden. Die Prüfung der Arzneimitteltherapiesicherheit wird durch elektronische Patientenakten erleichtert. So können Ärzte oder Apotheker sowie Patienten selbst ad hoc einsehen, ob ein zusätzlich verordnetes Präparat im Medikationsplan eventuell ein Gesundheitsrisiko darstellt (Heinze und Hilbert 2008).

Bei Verknüpfung der elektronischen Patientenakte mit entscheidungsunterstützenden Systemen können patientenindividuelle Informationen der Akte beispielsweise mit evidenzbasiertem Wissen kombiniert werden, was wiederum zu einer leitliniengerechteren Behandlung der Patienten führen kann (Moja et al. 2014).

Mit Hilfe der elektronischen Patientenakte kann ebenso der administrative Aufwand für die an der Versorgung beteiligten Akteure reduziert werden. Benötigt der Arzt spezielle Informationen über den Patienten, kann er im Vergleich zur papierbasierten Dokumentation effizienter nach bestimmten Inhalten suchen. Aufgrund der digitalen Speicherung umfassender, sektoren- und einrichtungsübergreifender Daten eines Patienten kann auf die Anforderung von Daten wie Diagnosen oder Behandlungen anderer Leistungserbringer verzichtet werden, was sich im Versorgungsalltag zeitsparend auswirken kann. Die freiwerdende Zeit kann potenziell zielgerichteter genutzt werden, beispielsweise für eine zeitintensivere Patientenversorgung (Nguyen et al. 2014; Schneider 2016).

Die Fähigkeit eines Patienten zum Selbstmanagement im Hinblick auf seine Gesundheit kann sich durch eine elektronische Patientenakte mit entsprechendem Patientenzugriff verbessern. Der Überblick über die eigenen Krankheits- und Gesundheitsdaten führt potenziell zu einem besseren Krankheitsverständnis und damit auch zu einer besseren Therapietreue. Indem behandelnde Ärzte einen Gesamtüberblick über alle bisherigen Behandlungen eines Patienten erhalten, können Behandlungsentscheidungen auf einem breiteren Datengerüst aufbauen. Zudem kann das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten durch die Nutzung einer elektronischen Patientenakte positiv beeinflusst werden (Eckrich et al. 2016).

Zusammenfassend ergibt sich ein weitreichendes Verbesserungspotenzial durch den Einsatz einer elektronischen Patientenakte mit dem Hauptziel, die Patientenversorgung aufgrund einer verbesserten, transparenteren Informationsbasis und den damit zusammenhängenden Auswirkungen entscheidend zu optimieren sowie unnötige Ausgaben zu vermeiden und die Gesundheit und Lebensqualität der Menschen zu verbessern sowie die Handlungskompetenzen der Patienten zu stärken (Guagliardo 2018; Schneider 2016).

2 Elektronische Patientenakten in Europa

2.1 Europäischer Vergleich zum Stand der Implementierung elektronischer Patientenakten

Der Implementierungsprozess einer elektronischen Patientenakte in Deutschland stellt sich sehr komplex dar. Bis heute werden auf der elektronischen Gesundheitskarte keine gesundheitsbezogenen Daten der Versicherten gespeichert (GKV-Spitzenverband 2018a). Vorteile einer elektronischen Patientenakte werden in der Bundesrepublik nicht genutzt. Im Vergleich zu Deutschland sind hier international strukturähnliche Länder bei der Etablierung von elektronischen Patientenakten sehr viel weiter (Amelung et al. 2016).

Während Deutschland bei einer Untersuchung zum Stand der Implementierung der elektronischen Patientenakte auf nationaler Ebene (European Scorecard) aus dem Jahr 2016, bei der Indikatoren wie

  • infrastrukturelle Voraussetzungen (u. a. Verfügbarkeit von Breitband-Internetzugang oder Frequenz der Internetnutzung),

  • politische und rechtliche Rahmenbedingungen (u. a. rechtliche Verankerung der elektronischen Patientenakte oder fest definierte Standards die Interoperabilität betreffend),

  • Nutzung und Implementierung (u. a. Grad der Implementierung elektronischer Patientenakten bei Haus- oder Fachärzten) sowie

  • Inhalte und Funktionen (u. a. elektronisches Rezept oder Zugang von Patienten zu ihren Daten)

der elektronischen Patientenakten untersucht wurden, nur im unteren Mittelfeld dieses Rankings landete, waren die skandinavisch geprägten Länder Dänemark, Schweden und Estland die am weitesten fortgeschrittenen Länder (Amelung et al. 2016). Wie eine Nachfolgeuntersuchung aus dem Jahr 2018 zeigte, wurde Deutschland mittlerweile von weiteren Ländern im Ranking der European Scorecard überholt (Tab. 1.2; Oliveira Gonçalves et al. 2018).

Tab. 1.2 Platzierung der 20 betrachteten Länder der European Scorecard zum Stand der Implementierung der elektronischen Patientenakte auf nationaler Ebene (adaptiert nach Amelung et al. 2016 und Oliveira Gonçalves et al. 2018)

Insbesondere Länder mit einem steuerfinanzierten System nach Beveridge schneiden in diesem Vergleich besser ab als beitragsfinanzierte Sozialversicherungssysteme nach Bismarck beziehungsweise „Mischsysteme“. Es darf die These aufgestellt werden, dass die Struktur der Gesundheitssysteme (u. a. Art der Finanzierung, Anzahl (Selbstverwaltungs-)Partner und Player im System, potenzielle Interessenskonflikte) einen Einfluss auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens und damit einhergehend mit der Ausgestaltung und Fortschrittlichkeit elektronischer Patientenakten hat.

Um herauszufinden, was die erfolgreichen Vorreiterländer im Vergleich zur Bundesrepublik anders – sprich: besser – gemacht haben, sollen im Folgenden deshalb Estland und Dänemark in Form kurzer Case Studies näher betrachtet werden.

2.2 Case Study 1: e-Estland – Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche

Estland wird in den Medien immer wieder als europäischer Vorreiter rund um die Digitalisierung des öffentlichen Lebens und des Gesundheitswesens genannt. Das 1,3 Millionen Einwohner zählende nördlichste baltische Land konnte seit seiner (neuerlichen) Unabhängigkeit am 20. August 1991 komplett neue Verwaltungsstrukturen aufbauen und setzte dabei von Anfang an auf digitale Lösungen (Statistikaamet 2018). Hierfür wurde bereits im Jahr 2001 mit der sogenannten X-Road eine Infrastruktur zum sicheren Datenaustausch zwischen öffentlichen und privatwirtschaftlichen Einrichtungen implementiert und von da an stets weiterentwickelt (Mikk 2018). Seit dem Jahr 2005 sind beispielsweise Wahlen niedrigschwellig via Internet (E-Voting) möglich (Friedrich 2017). Mittlerweile können nahezu alle Behördengänge (E-Government; Ausnahmen bilden hier lediglich Heirat und Scheidung) und Rechtsgeschäfte (Ausnahme Immobilienkäufe) online getätigt werden (Deutsch-Baltische Handelskammer in Estland Lettland Litauen e. V. 2017). Dies geschieht über die Authentifizierung im Internet über den estnischen Personalausweis (Identifikationskarte (ID-Karte) mit zugehöriger PIN), der auch eine elektronische Signatur ermöglicht (Oderkirk 2017).

Im Jahr 2008 wurde in Estland ein landesweites E-Health-System eingeführt mit dem Ziel, Gesundheitsressourcen effizienter zu nutzen, „Papierkram“ zu reduzieren, Doppeluntersuchungen zu vermeiden und medizinische Statistiken zu verbessern. Vor allem der estnische Kostenträger Eesti Haigekassa kann hier als besonders frühzeitiger Trigger für eine Digitalisierung von Abrechnungsdaten im Gesundheitswesen identifiziert werden (Lai et al. 2013).

Gesetzliche Grundlagen für das estnische E-Health-System bilden unter anderem das Gesetz über das Gesundheitsinformationssystem aus dem Jahr 2007 sowie das Staatliche Regulierungsgesetz für den Austausch von Gesundheitsinformationen, das im Folgejahr verabschiedet wurde (WHO 2016). Die Verantwortung der Umsetzung der estnischen E-Health-Strategie liegt generell zwar beim Sozialministerium (Sotsiaalministeerium), doch dieses gründete 2005 die E-Health Foundation (Eesti E-tervise Sihtasutus) als multidisziplinäres Leitungsgremium zusammen mit drei großen Krankenhäusern sowie drei Berufsverbänden. Ihre Hauptaufgabe besteht in der Entwicklung, Förderung, Betreibung und Verwaltung des nationalen E-Health-Systems einschließlich seiner Komponenten (Lai et al. 2013).

Estland setzte bei der Umsetzung seiner E-Health-Strategie auf einen Mix aus gesetzlichen Vorschriften sowie finanziellen Anreizen und Sanktionen, um Leistungserbringer zur Mitarbeit zu motivieren (Lai et al. 2013).

Im Wesentlichen stellt das estnische E-Health-System eine flächendeckende Plattform dar, deren Sicherheit über die sogenannte Blockchain-Technologie sichergestellt werden soll. Gegenwärtig umfasst das System die folgenden Funktionalitäten (Friedrich 2017; Lai et al. 2013):

  • Elektronische Patientenakte einschließlich eines Patientenportals

  • Elektronischer Medikationsplan

  • Elektronisches Rezept

  • Digitales Bild- und Laborbefundarchiv

  • Elektronische Notfallbehandlungslösungen einschließlich eines vernetzten Krankenwagensystems

  • Informationsaustauschsystem zwischen verschiedenen Leistungserbringern

  • Elektronisches Buchungstool für Facharzttermine an Krankenhäusern

  • Statistikmodule

Die elektronische Patientenakte stellt im Prinzip seit dem Jahr 2008 die gesamte medizinische Geschichte jedes Esten von der Geburt bis zum Tod dar und umfasst nahezu die gesamte Bevölkerung des Landes (über 98 Prozent) (WHO 2016). Über das Patientenportal (www.digilugu.ee) haben estnische Patienten durch Authentifizierung via ID-Karte Zugriff auf Gesundheitsinformationen sowie all ihre medizinischen Unterlagen. Sie können Kontaktinformationen und demografische Angaben anpassen, Leistungserbringern Zugang zu medizinischen Unterlagen gewähren oder verwehren, Zugangsprotokolle einsehen – das heißt abklären, wer Zugriff auf ihre persönlichen Daten genommen hat –, auf digitale Rezepte zugreifen, Bluttransfusions-, Organ- sowie Körperspendebereitschaft für wissenschaftliche Zwecke signalisieren oder sich Gesundheitszeugnisse und Atteste ausstellen lassen (Lai et al. 2013; Oderkirk 2017). Das System hält darüber hinaus Schnittstellen für kommerzielle Anbieter von Apps oder Fitnessgeräten vor. So können Esten beispielsweise eine App des estnischen Anbieters Medikeep nutzen, um potenziell gefährliche Wechselwirkungen von Arzneimitteln im elektronischen Medikationsplan aufzudecken (Deutsch-Baltische Handelskammer in Estland Lettland Litauen e. V. 2017).

Esten haben eine sogenannte Opt-out-Möglichkeit, das heißt sie können die elektronische Patientenakte ganz oder teilweise sperren lassen. Dass nur 0,6 Prozent der Einwohner von dieser Option Gebrauch gemacht haben, unterstreicht, wie hoch das Vertrauen der Bevölkerung in die E-Health-Strategie des Landes ist (Deutsch-Baltische Handelskammer in Estland Lettland Litauen e. V. 2017).

Fast alle Haus- und über die Hälfte der Facharztpraxen sowie alle 55 estnischen Krankenhäuser sind mittlerweile Bestandteil des E-Health-Systems und somit in der Lage, die elektronische Patientenakte einzusehen, um aktuelle Diagnose- und Behandlungsinformationen zu ergänzen oder Medikationspläne von Patienten zu aktualisieren. Darüber hinaus können die integrierten Leistungserbringer digital kommunizieren und untereinander beispielsweise Ergebnisse von Laboruntersuchungen und Bildgebung austauschen (Oderkirk 2017; Statistikaamet 2018).

Das durch das estnische Unternehmen Helmes innerhalb von nur drei Jahren bei Kosten von lediglich 300.000 Euro entwickelte elektronische Rezept zählt – neben der elektronischen Steuererklärung – zu den erfolgreichsten und meistgenutzten digitalen Anwendungen in Estland (Deutsch-Baltische Handelskammer in Estland Lettland Litauen e. V. 2017; Friedrich 2017). Nur 15 Monate nach der Implementierung des elektronischen Rezepts wurden 85 Prozent der Rezepte digital ausgestellt und mittlerweile erfolgen über 98 Prozent aller Verschreibungen auf elektronischem Wege (Friedrich 2017; WHO 2016).

Mit dem Estonian eHealth Strategic Development Plan 2020 hat das estnische Sozialministerium den Grundstein für die Weiterentwicklung des E-Health-Systems gelegt. So sollen die Dateninfrastruktur der X-Road weiter ausgebaut, die Qualität und Austauschmöglichkeiten von Daten verbessert oder digitale Lösungen zur Behandlungsunterstützung entwickelt werden. Hierbei soll insbesondere die personalisierte Medizin (personalised medicine) im Vordergrund stehen, die durch die Datenintegration unterschiedlicher Quellen (unter anderem elektronische Patientenakten, (Krebs-)Register oder die Biodatenbank des Universitätsklinikums in Tartu) ermöglicht werden soll (Deutsch-Baltische Handelskammer in Estland Lettland Litauen e.V. 2017; Volmer 2018).

2.3 Case Study 2: Dänemark – Eine über 20-jährige Vorreiterrolle bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens

Auch das dänische Gesundheitswesen ist – analog zum estnischen – durch eine umfangreiche Digitalisierung mit enger elektronischer Kommunikation zwischen den Leistungserbringern, einschließlich digitalisierter Arbeitsverfahren sowie einer systematischen Nutzung von Daten, charakterisiert (Sundheds- og Ældreministeriet 2016). Insbesondere die Tatsache, dass das Vertrauen der etwa 5,8 Millionen Dänen in ihre Regierung und deren Handeln hoch ist, erleichtert häufig im Vergleich zu anderen Staaten die Einführung moderner Technologien auf nationaler Ebene (Harrell 2009; Statistics Denmark 2018).

Bereits im Jahr 1977 wurde in Dänemark durch die Implementierung eines landesweiten Patientenregisters, das Ärzte – zunächst aus Erstattungsgründen – dazu verpflichtete, jeden Patientenbesuch beim staatlichen Gesundheitsdienst zu melden, quasi der Grundstein für die spätere erfolgreiche Einführung einer elektronischen Patientenakte gelegt (Harrell 2009). Ein erster nationaler Aktionsplan zur Digitalisierung des dänischen Gesundheitssystems wurde schließlich im Jahr 1996 eingeführt und seither in Form weiterer sogenannter nationaler Strategien (2000 bis 2002, 2003 bis 2007, 2008 bis 2012, 2013 bis 2017, 2018 bis 2022) stetig weiterentwickelt (Bruun-Rasmussen et al. 2008; Grätzel 2018; Olejaz et al. 2012; Sundheds- og Ældreministeriet 2018).

Seit dem Jahr 2004 sind Hausärzte, die in Dänemark als Gatekeeper fungieren, verpflichtet, eine elektronische Patientenakte zu nutzen und digitale Kommunikationswege zu verwenden. Dieses hausärztliche System wurde von MedCom, einer 1994 vom Gesundheitsministerium, den Regionen und Gemeinden gegründeten non-Profit-Organisation, entwickelt und ermöglicht die Verwaltung von Arztberichten, Medikationslisten, bildgebender Diagnostik, Laborergebnissen sowie das Versenden von beispielsweise Terminerinnerungen an Patienten (Kierkegaard 2015; Olejaz et al. 2012). Den Hausärzten folgte im Jahr 2006 der fachärztliche Bereich (Amelung et al. 2016).

Die Implementierung elektronischer Patientenakten im stationären Sektor kam jedoch über einzelne „Insellösungen“ – einhergehend mit etwaigen Schnittstellenproblematiken – zunächst nicht hinaus (Kierkegaard 2015). Diese Problematik löste sich insbesondere durch die Strukturreform, die im Jahr 2007 durchgeführt wurde, bei der die Zahl von 16 Regionen und 271 Gemeinden auf nur noch fünf Regionen und 98 Gemeinden reduziert wurde. Diese Reform kann als essenzieller Trigger bei der Koordinierung, Durchsetzung und Implementierung einer Gesundheits-IT auf nationaler Ebene angesehen werden (Kierkegaard 2013), denn diese Reform veränderte nachhaltig das Machtverhältnis zwischen den Regionen (und Gemeinden) gegenüber der Zentralregierung. Vor der Reform hatten nur die Regionen (und Gemeinden) Entscheidungsbefugnisse im Gesundheitswesen und dementsprechend beispielsweise Etathoheit über potenzielle Investitionen in Bezug auf Digitalisierung oder Entscheidungsfreiheiten bezüglich technischer Standards und Schnittstellen. Nun liegen diese Zuständigkeiten verstärkt in den Händen des Gesundheitsministeriums (Sundheds- og Ældreministeriet) (Grosen 2009). Dieses Vorgehen hat die Verbreitung gemeinsamer IT-Standards erleichtert und ermöglicht mittlerweile die elektronische Kommunikation zwischen allen Akteuren des Gesundheitswesens (Krankenhäuser, Haus- und Fachärzte, Labore, Pflegedienste oder lokale Behörden) (Sundheds- og Ældreministeriet 2016).

Schon im Jahr 2003 ging in Dänemark ein Patientenportal (www.sundhed.dk) als digitale Plattform in Form einer abgesicherten Cloud-Lösung online. In dieses sind mittlerweile alle Patientendaten der unterschiedlichen Leistungserbringer und Systeme integriert (Multi-Vendor-Strategie). Der Patient legitimiert seinen unmittelbaren Zugriff mittels Eingabe seiner zehnstelligen (unverwechselbaren) Sozialversicherungsnummer (Nem ID) zusammen mit einem privaten Zugangsschlüssel, der – ähnlich dem TAN-Verfahren für das Internetbanking – dem Nutzer für den Einmalgebrauch zur Verfügung gestellt wird oder in Verbindung mit einer Smartphone-App. Auch Krankenhaus- und niedergelassene Ärzte sowie weitere Leistungserbringer haben nach entsprechender Einwilligung des Patienten Zugang zur elektronischen Patientenakte (Haas 2017; Hostenkamp 2017; Nørgaard 2013).

Über das Portal sind mittlerweile die nachfolgenden Funktionalitäten integriert (Europäische Kommission 2014; Kierkegaard 2015; Lang 2016; Nørgaard 2013; Sundhed.dk 2016; Sundheds- og Ældreministeriet 2012, 2016):

  • Zentralisierte Datenbank mit Informationen von Haus- und Fachärzten und anderen – auch privaten – Leistungserbringern (P-Journalen) sowie des stationären Sektors aus allen fünf Regionen (E-Journalen)

  • Digitales Bild- und Laborbefundarchiv

  • Elektronischer Medikationsplan

  • Elektronisches Rezept einschließlich Folgeverschreibungen

  • Elektronisches Impfregister

  • Elektronische Patientenverfügung

  • Elektronische Organspenderegistrierung

  • Weitere Anwendungen wie zum Beispiel Online-Terminvereinbarungen, Abrufen von Echtzeitwartezeiten aller öffentlichen Krankenhäuser, Bewertungen von Krankenhausaufenthalten, Einschreibung in Screeningprogramme, Registrierung als Blut- oder Eizellspender, Einschreibung in medizinische Studien oder webbasierte Kommunikation mit behandelnden Leistungserbringern

Eine mittlerweile ins Portal integrierte Interaktionsdatenbank beschreibt Wechselwirkungen mit Medikamenten und bietet den Bürgern die Möglichkeit, diese online zu überprüfen (Venkatraman et al. 2015).

Über das Patientenportal besitzt der Patient bestimmte Schreibrechte. So kann er beispielsweise seine Adressdaten aktualisieren oder Kontaktdaten von Verwandten hinterlegen. Medizinische Inhalte jedoch können lediglich durch (nicht-)ärztliches Personal hinzugefügt oder geändert werden (Lang 2016). Unter der Rubrik My log hat ein Patient Einsicht, welcher Leistungserbringer wann auf seine Daten zugegriffen hat. Jeder Datenzugriff wird transparent mit dem Namen des Leistungsanbieters sowie Datum und genauer Uhrzeit des Zugriffs protokolliert (Europäische Kommission 2014).

Im dänischen (Rechts-)Verständnis wird generell unterstellt, dass ein Patient durch seine Zustimmung zu einer Behandlung gleichzeitig dem behandelnden Leistungserbringer die Zustimmung erteilt, die für die Behandlung notwendigen und relevanten Informationen in der elektronischen Patientenakte einsehen zu dürfen. Allerdings können Patienten von einer Opt-out-Möglichkeit Gebrauch machen und einem bestimmten Leistungserbringer die Zugriffrechte auf seine Gesundheitsdaten verweigern. Eine leistungserbringerseitige Opt-out-Möglichkeit besteht in Dänemark nicht – die Leistungserbringer sind mittlerweile alle gesetzlich verpflichtet, Patienteninformationen digital zu erfassen (Europäische Kommission 2014).

Dänemark führte für die elektronische Patientenakte keine separaten Gesetze oder Regularien den Datenschutz und die Privatsphäre betreffend ein. Für diese gelten die gleichen Gesetze, die zuvor auch schon bei papierbasierten Patientenakten galten. Der dänischen Gesundheitsforschung stehen darüber hinaus Daten aus der elektronischen Patientenakte auch ohne vorherige, explizite Zustimmung seitens der Patienten als Sekundärdaten zur Verfügung (Amelung et al. 2016).

Zahlen aus der Praxis unterstreichen eindrucksvoll den Erfolg der dänischen E-Health-Strategie, denn bereits im Jahr 2013 nutzten nahezu alle Hausärzte und Apotheker, 98 Prozent der Fachärzte, 85 Prozent der Chiropraktiker sowie 50 Prozent der Zahnärzte Dänemarks die elektronische Patientenakte einschließlich digitaler Wege zur Kommunikation und zum Datenaustausch (Kroigaard 2013). Im Jahr 2014 waren 85 Prozent der dänischen Krankenhäuser an die elektronische Patientenakte angeschlossen (Europäische Kommission 2014). Inzwischen sind dies alle dänischen Leistungserbringer (Gerlof 2017). Mindestens 85 Prozent aller Rezepte werden aktuell auf elektronischem Wege versendet (Kostera und Briseño 2018). Durch eine stetig steigende Zahl an Zugriffen auf sundhed.dk kann auch das Patientenportal als Erfolg angesehen werden. So besuchen pro Monat im Durchschnitt 1,7 Millionen Dänen das Portal (Gerlof 2017).

Die aktuelle nationale Strategie zur digitalen Gesundheit für die Jahre 2018 bis 2022 sieht unter anderem vor, Patienten noch mehr als bisher einzubinden und den Austausch von Behandlungsdaten weiter zu verbessern sowie Datensicherheits- und Vertraulichkeitsaspekte zu optimieren. Ein Fokus soll ferner auf populationsbezogenen Gesundheitsmaßnahmen und Prävention liegen. Die gegenwärtig etablierte E-Health-Infrastruktur soll darüber hinaus flexibler werden, das heißt, das Andocken mobiler Anwendungen, beispielsweise zur Unterstützung eines gesundheitsförderlichen Lebensstils, soll ermöglicht werden. Durch die Fokussierung auf vorausschauende Analytik soll aus der datenübermittelnden, elektronischen Patientenakte langfristig eine Plattform für personalisierte Präzisionsmedizin werden. Eine Anbindung der Akte an eine nationale Genomdatenbank ist – wie in Estland – perspektivisch auch für Dänemark angedacht (Grätzel 2018; Sundheds- og Ældreministeriet 2018).

3 Schlussfolgerungen und Ausblick

Während die zuvor vorgestellten europäischen Vorreiterländer Estland und Dänemark in ihren nationalen E-Health-Strategien für die kommenden Jahre bereits darüber nachdenken, wie die etablierten elektronischen Patientenakten verbessert und mit weiteren Datenbanken verknüpft werden können (Deutsch-Baltische Handelskammer in Estland Lettland Litauen e.V. 2017; Sundheds- og Ældreministeriet 2018), steckt Deutschland betreffend der Entwicklung, Implementierung und effektiven Nutzung einer elektronischen Patientenakte nach wie vor in den Kinderschuhen.

Ob zeitnah große Meilensteine in Sachen elektronischer Patientenakte in Deutschland erreicht werden können, wird sich in unmittelbarer Zukunft zeigen, denn positive Grundvoraussetzungen sind gegenwärtig dafür vorhanden. Im aktuellen Koalitionsvertrag der amtierenden Regierungskoalition aus CDU, CSU und SPD heißt es auf Seite 99 im Absatz Prävention „[m]it einem Nationalen Gesundheitsportal wollen wir, dass sich die Patientinnen und Patienten verlässlich schnell und umfassend im Internet […] informieren können“. Ebenso im Koalitionsvertrag findet sich im Absatz E-Health und Gesundheitswirtschaft der Passus „[w]ir werden die Telematikinfrastruktur weiter ausbauen und eine elektronische Patientenakte für alle Versicherten in dieser Legislaturperiode einführen“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2018). Diese Absätze deuten darauf hin, dass das Voranbringen einer elektronischen Patientenakte in Deutschland einen neuen Impuls seitens Politik erfahren wird. Diese Beobachtungen werden durch Aussagen des amtierenden Bundesministers für Gesundheit, Jens Spahn (CDU), unterfüttert. Diesem zufolge sind derzeit alternative Lösungsansätze – wie die Kopplung einer elektronischen Patientenakte an das von der Bundesregierung geplante Bürgerportal als sogenannter elektronischer Kommunikationsplattform im Internet – denkbar, denn „[d]ie Zeit von Kartenlesegeräten an Desktop-Computern als alleinige, vorgeschriebene Login-Variante ist in jedem Fall […] nicht der Zugang, den sich die Bürger im Jahre 2018 mehrheitlich wünschen – und vor allem auch nicht nutzen werden“ (Becker und Mihm 2018). Dies erinnert stark an das estnische Vorgehen, wo die erfolgreiche Einführung der elektronischen Patientenakte im Tandem mit der Implementierung von E-Government-Anwendungen stattfand.

Sowohl der Koalitionsvertrag als auch die Äußerungen des Bundesgesundheitsministers lassen jedoch gleichzeitig darauf schließen, dass gegenwärtig völlig unklar ist, ob die elektronische Patientenakte in Deutschland derart ausgestaltet wird, wie von Seiten der gematik seit nunmehr über 14 Jahren gedacht und vorangetrieben. Es scheint so, als sei die Zeit der Ausblendung alternativer, internationaler, empirisch erprobter Best-Practice-Konzepte hinsichtlich der Ausgestaltung und Umsetzung der elektronischen Patientenakte seitens deutscher Politik vorbei. Dies ist insbesondere mit Blick auf die in den Case Studies betrachteten Vorreiterländer skandinavischer Prägung ein längst überfälliger Schritt – sowohl in Politik als auch im Gesundheitswesen.

Die deutsche Politik und die Selbstverwaltungspartner sollten sich Best-Practice-Länder zum Vorbild nehmen sowie deren Wissensvorsprung durch gezielten Wissenstransfer für die Bundesrepublik nutzbar machen, wie dies schon beispielhaft und erfolgreich bei der Einführung des DRG-Systems anhand eines australischen Vorbildes durch das Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000) im Jahr 2003 erfolgte (GKV-Spitzenverband 2018b), denn

  • warum sollten Fehler, die andere Länder bei der Etablierung elektronischer Patientenakten begangen haben, wiederholt werden? und

  • warum sollten komplett eigene Lösungen kreiert werden, statt bereits etablierte und unter Alltagsbedingungen funktionsfähige Standards zu übernehmen?

Dies muss nicht zwangsläufig die Übernahme eines kompletten Systems eines Landes und dessen vollständige Übertragung und Adaption an das deutsche Gesundheitssystem und die Bedarfe von sowohl Patienten als auch Leistungserbringern und Kostenträgern bedeuten. Vielmehr können auch besonders erfolgreiche und zuverlässige Teilmodule aus anderen Ländern „eingekauft“ und als Blaupause für die deutsche Patientenakte nutzbar gemacht werden. Durch das Importieren von Know-how aus Vorreiterländern könnte Deutschland den entstandenen Rückstand bei der Implementierung einer elektronischen Patientenakte und ihrer vielen potenziellen Funktionen leichter aufholen. Dies sollte auch unter der Maßgabe geschehen, dass perspektivisch die elektronische Patientenakte ein zentrales Element im zukünftigen gesamteuropäischen Versorgungsprozess darstellen wird.

Für eine solche Strategie ist es entscheidend, dass die gegenwärtig heterogene IT-(Infra-)Struktur in Deutschland, die bisweilen durch geringe Internetgeschwindigkeiten und einen Mangel an Interoperabilität gekennzeichnet ist, schnellstmöglich in Angriff zu nehmen. Ob hierfür das im E-Health-Gesetz vorgesehene Interoperabilitätsverzeichnis eine ausreichende und zufriedenstellende Lösung ist, Kompatibilität herzustellen, darf bezweifelt werden, denn die bestehenden Interessenskonflikte der Selbstverwaltungspartner können damit keineswegs beseitigt werden. Die Grundprämisse des deutschen Weges, komplett auf die Anwender zu setzen und diese im gesamten Prozess mitzunehmen, ist prinzipiell sinnvoll, doch sollte dieser Bottom-Up-Ansatz, der seit fast zwei Dekaden die deutsche Gesundheitspolitik bestimmt, als gescheitert angesehen werden, da die konträren Interessen zu erheblichen Verzögerungen geführt haben. Es bedarf nunmehr einer stärkeren Governance, wie sie in den Case Studies von Dänemark und Estland deutlich wurde, wo der Staat die Spezifikationen vorgab, die dann von den jeweiligen Anbietern von E-Health-Lösungen eingehalten werden mussten. Insbesondere Dänemark zeigt hier, dass Top-Down-Entscheidungen schnell für Einheitlichkeit sorgen und Politik, Ärzte, Krankenhäuser und Patienten dennoch an einem Strang ziehen können. Dass die beiden Vorreiterländer Opt-Out-Regulatorien gewählt hatten, hat die Durchdringung der elektronischen Patientenakte zusätzlich beflügelt. Wie erfolgreich Opt-In-Möglichkeiten sind, lässt sich in Deutschland beispielsweise an der Organspendebereitschaft der Bevölkerung ablesen.

Obwohl im deutschen Diskurs um die elektronische Patientenakte stets eine Patientenzentrierung postuliert wird – der Patient als „Herr“ seiner Daten –, ist davon im Sachkontext meistens wenig zu spüren. Während Dänemark und Estland ihre Patienten synonym als Bürger wahrnehmen, die als solche Zugang zu ihren Daten haben, bleiben Patienten im Deutschland des 21. Jahrhunderts schlicht Patienten. Die Tatsache, dass Patientendaten in Deutschland an den unterschiedlichsten Stellen liegen und für Patienten alles andere als transparent und verfügbar sind, wird in Diskussionen über elektronische Patientenakten und deren Potenziale zumeist komplett außen vor gelassen. Insbesondere die Case Study Dänemark konnte aufzeigen, dass ein solides Grundvertrauen sowohl in die Entscheidungsträger als auch in digitale Lösungen essenziell dafür ist, dass eine elektronische Patientenakte erfolgreich umgesetzt und implementiert werden kann. Die Tatsache, dass partiell destruktive, irrationale und ambivalente Datenschutzdiskussionen – Stichworte sind hierbei, neben weiteren, der „Gläserne Patient“ oder der „Gläserne Arzt“ – den Einsatz von Technologie im Gesundheitswesen in Deutschland behindern (Amelung et al. 2016), zeigt, dass dieses Grundvertrauen anwenderseitig gegenwärtig lediglich sporadisch vorhanden ist und entsprechend an Relevanz und Aktualität nicht verloren hat. So ergab eine aktuelle BefragungFootnote 1 zur E-Government-Situation und zur Zufriedenheit von Anwendern in Deutschland, dass 55 Prozent der Befragten Datenschutzbedenken hegen, 54 Prozent Angst vor Datendiebstahl haben und 55 Prozent kein Vertrauen in die Sicherheit bei der Datenübertragung aufweisen (Initiative D21 e.V. 2017). Eine UmfrageFootnote 2 des Digitalverbands Bitkom und der Bayerischen TelemedAllianz ergab, dass 60 Prozent der Befragten eine elektronische Patientenakte nutzen würden und nur 34 Prozent dieser ablehnend gegenüber eingestellt sind (6 Prozent keine Angabe oder „weiß nicht“) (Rohleder und Jedamzik 2017).

Datenschutzbedenken überblenden zumeist, dass ausgereifte elektronische Patientenakten, wie sie in den betrachteten Ländern skandinavischer Prägung implementiert wurden, stets eine Rückverfolgbarkeit von (unrechtmäßigen) Datenzugriffen ermöglichen und Sanktionen von Datenmissbrauch durch Dritte klar geregelt sind, Datenschutz- und -sicherheitsanforderungen ausreichend Genüge tragen und sowohl in Estland als auch in Dänemark Missbrauchsfälle kaum bekannt sind. Der Blick insbesondere nach Dänemark zeigt, dass dort in der öffentlichen Wahrnehmung eine umgekehrte Sichtweise zur deutschen vorherrscht: Die Verfügbarkeit essenzieller Informationen für Leistungserbringer gebündelt an einer Stelle, die in entscheidenden Situationen mitunter Leben retten können, hat hier einen höheren Stellenwert inne als zum Teil unberechtigte datenschutzrechtliche Bedenken. Die Tatsache, dass weder in Estland noch in Dänemark eine Evaluation der elektronischen Patientenakte durchgeführt wird, suggeriert, dass hier ein höheres Vertrauen in Politik und Technik gesetzt wird. Es wird anerkannt, dass die Digitalisierung auch vor dem Gesundheitswesen nicht Halt macht (Amelung et al. 2016).

Dass elektronische Patientenakten Effizienz und Transparenz im Gesundheitswesen enorm steigern können und Anwendungen wie das elektronische Rezept oder der elektronische Medikationsplan einen unmittelbaren Patientennutzen haben können, steht außer Frage. Dies haben auch einige deutsche Kostenträger erkannt und entwickeln gegenwärtig – partiell losgelöst von der gematik – eigeninitiativ elektronische Patientenakten in Form sogenannter „Insellösungen“. Sowohl die Techniker Krankenkasse in Zusammenarbeit mit IBM als auch die AOK Nordost zusammen mit Cisco entwickeln im Moment eigene Akten, die kompatibel zur Telematikinfrastruktur sein sollen (AOK-Bundesverband 2017; Handelsblatt 2018). Damit hieraus – sobald weitere Kostenträger dieses Geschäftsfeld für sich entdecken – kein „Flickenteppich“ nicht kompatibler Anwendungen entsteht, sollte der Gesetzgeber schnellstmöglich verbindliche und bundesweit einheitliche

  • Zielsetzungen,

  • zeitliche Rahmen,

  • Investitionsvolumina,

  • Inhalte und Funktionen,

  • technische und Interoperabilitätsstandards,

  • Datenstrukturen,

  • Terminologien sowie Zugriffsmanagement sowie

  • Datenschutzbestimmungen

zur elektronischen Patientenakte formulieren. Nur auf dieser Grundlage von identischen Standards können durchaus auch Akten verschiedener Anbieter parallel existieren. Unter Beachtung dieser Maßgaben sowie durch eine Neujustierung der Aufgabenfelder der gematik kann die elektronische Patientenakte vielleicht auch in Deutschland irgendwann wie insbesondere in Skandinavien als Erfolgsgeschichte gefeiert werden.

3 Danksagung

Die Erstellung der European Scorecard im Jahr 2016 und deren Update im Jahr 2018 wurde von der Stiftung Münch unterstützt.