Zusammenfassung
Betrachten wir rückblickend die Positionen der wichtigsten Vertreter in der Erklären-Verstehen-Kontroverse, so können wir feststellen, daß sie in der abstrakten Bestimmung des Ziels wissenschaftlicher Forschung — der Formulierung gültiger, allgemeiner und von der Subjektivität des einzelnen Forschers unabhängiger Aussagen über die Realität — übereinstimmen: zu diesem Ziel bekennen sich Droysen, Dilthey oder Schütz ebenso ausdrücklich wie Durkheim, Hempel oder Albert. Auch in bezug auf die Geltung einer grundlegenden Logik in allen Wissenschaften besteht zwischen ihnen kein Dissens (wenn auch die Bedeutsamkeit dieses Aspektes für sie unterschiedlich groß ist) — an der Frage allerdings, wie dieses Ziel zu erreichen, wie diese Logik in konkrete Forschungsoperationen umzusetzen ist, brechen die diese Kontroverse bestimmenden Divergenzen auf.
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Literatur
In beiden Fällen ist damit nicht gesagt, daß Überlegungen in die jeweils andere Richtung gänzlich fehlen würden, doch war für die Entwicklung der Erklären-Verstehen-Kontroverse gerade diese unterschiedliche Profilierung grundlegend.
Dabei muß es hier dahingestellt bleiben, in welcher Weise im konkreten Fall über die Einlösung dieser Kriterien zu entscheiden ist.
Nur am Rande verwiesen werden soll auf ein fünftes Modell: auf die Bestimmung des Verstehens als einem subjektiv befriedigenden Gefühl, das sich dann einstellt, wenn Unbekanntes unter Bekanntes subsumiert und damit ein Gefühl der Spannung und Unsicherheit abgebaut werden konnte — dieses Extrembeispiel einer Suhjektivierung des Verstehenskonzeptes trägt sicherlich nichts zur Klärung seines methodologischen Stellenwertes bei, es ist eher eine Illustration für den unfruchtbaren polemischen Zug, den diese Diskussion gelegentlich annahm — vgl. Frank Cunningham, Bemerkungen über das Verstehen in den Sozialwissenschaften, in: Albert, Theorie und Realität, 1972, 227–233; aber auch Abel, The Operation Called Verstehen, 187f.
Zumindest von einigen Autoren wird zwar den Handelnden die Konstitution ihrer Wirklichkeit durch ihre Sinnzuschreibungen zugestanden, doch wird übersehen, daß der Forscher sich in bezug auf die Analyse dieser Wirklichkeit in genau derselben Situation befindet wie die Handelnden, daß also auch der Forscher eine spezifische Wirklichkeitskonstitution vornimmt — auf diesen Aspekt ist zum Schluß dieses Abschnitts ausführlich einzugehen.
Diese Kritik desavouiert nicht die Ergebnisse empirischer Studien, die sich im jeweiligen Kontext der Modelle des Verstehens oder des Erklärens verortet haben: beide Modelle verfügen über einen je spezifischen Realitätsbezug, und solange sie sich in diesen (engen) Bereichen bewegen, erweist sich die zugrundegelegte methodologische Orientierung als durchaus ausreichend. Allerdings reflektieren sie zumeist weder ihre Mängel noch die diese Mängel ausgleichenden Maßnahmen, die implizit angewendet werden müssen, um die entstehenden Brüche zu überdecken.
Diese Überlegung ist im übrigen auch dazu geeignet, die Beschreibung aus der Marginalisicrung zu befreien, in die sie durch eine Sozialforschung, die die sinnhafte Konstitution sozialer Phänomene für problemlos gegeben hält, gedrängt worden ist: wenn die Verständlichkeit sozialen Handelns nicht fraglos gegeben ist, dann hat seine Beschreibung (die sein Verstehen impliziert) einen eigenen Stellenwert und ist nicht nur vernachlässigbares Vorspiel erklärenden Forschens — vgl. Mutthes, Die Soziologen und ihre Wirklichkeit, 59ff. In eine ähnliche Richtung zielt auch die Forderung von Heinz Hartmann, die Beziehung zwischen Soziologie und Sozialreportage neu zu überdenken: Sozialreportagen und Gesellschaftsbild, in: Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Kultur und Alltag, Göttingen: Schwarz (Soziale Welt, Sonderband 6) 1988, 341–352.
Schütz, Gesammelte Aufsätze 1, 5. Dabei ist nachdrücklich zu betonen, daß Schütz’ Fehler darin liegt, hier stehengeblieben zu sein — theoretisch angelegt sind die im folgenden dargestellten Überlegungen zum Verhältnis zwischen Alltagswelt und Wissenschaft zweifellos schon bei ihm selbst, doch hat er seine theoretische Konzeption der Konstitution von Wirklichkeit nicht (selbst)kritisch mit seinem methodologischen Konzept der „Epoché der wissenschaftlichen Einstellung“ konfrontiert. Bei manchen Anhängern der qualitativen Sozialforschung, die sich in der Nachfolge von Schütz begreifen, hat diese Ausblendung zu dem Mißverständnis geführt, man könne — indem man bei den Deutungen der Handelnden ansetzt — einen direkten Zugriff auf soziale Phänomene bekommen. (Vgl. hierzu die Ausführungen in Abschnitt III/3.3.)
Insofern bedarf die Schützsche Systematik doch nicht der Ergänzung um Konstruktionen,nullter’ Ordnung — dies wäre sogar irreführend, da es die irrige Vorstellung eines absoluten Anfangs suggerieren würde. Ihre Einführung hier sollte nur dazu dienen, die zeitliche Perspektive auf den Forschungsprozeß zu erweitern und zu zeigen, in welcher Weise die genannten Konstruktionen in diesen eingehen.
Dies hat auch Schütz im Auge, wenn er die Konstruktion wissenschaftlicher Modelle beschreibt — er bezieht es jedoch nicht explizit auf die Konstruktionen zweiter Ordnung, da er nicht zu einer systematischen Reflexion der methodologischen Implikationen seiner Theorie der sozialen Wirklichkeit gekommen ist — vgl. etwa Gesammelte Aufsätze I, 48.
Nachdrücklich hat Matthes auf die Uneinlösbarkeit der Hoffnung verwiesen, die Einbindung des Soziologen in die Gesellschaft „durch einen denkerischen und sprachlichen Gewaltakt bannen zu können“ — Das Erfahren von Erfahrung, 4.
Auf die zusätzlichen Probleme, die dadurch entstehen, daß die Lebenswelt des Forschers in der Regel nicht mit derjenigen der Handelnden identisch ist (wie groß oder gering die Abweichungen auch immer sein mögen), ist hier nicht näher einzugehen — ihre Unterscheidung ist prinzipiell erforderlich, würde aber für unsere Zwecke zu weit führen. Offensichtlich bietet sich an dieser Stelle auch ein Ansatzpunkt für eine Reflexion über Probleme fremdkultureller Forschung.
m vorliegenden Kontext muß davon abgesehen werden zu diskutieren, inwieweit eine Reflexion über diesen Rahmen überhaupt möglich ist (der Forscher müßte sich in dieser Reflexion von diesem Rahmen freimachen!) und welche praktischen methodischen Konsequenzen sie zeitigen würde, inwieweit hier also nicht-transzendierhare Grenzen der Erkenntnis angesprochen sind — für eine erkenntnistheoretische Fundierung erscheint es jedoch unerläßlich, sich der Existenz dieser Grenzen bewußt zu werden.
Vgl. hierzu die ausführliche Diskussion in Abschnitt 111/3.1.
So z.B. in dem Abschnitt „Erkenntnis als Kulturleistung“ in: Albert, Kritik der reinen Erkenntnislehre, 39ff.
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Meinefeld, W. (1995). Erklären und Verstehen — eine erste Synthese. In: Realität und Konstruktion. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11243-3_4
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