Zusammenfassung
Es werden verschiedene Formen eines Ikaros-Komplexes beschrieben. Eine davon versteht darunter die Form eines besonderen Narzissmus (kynosuralen Narzissmus), verbunden mit dem Drang zu Höherem und der bewussten oder unbewussten Sehnsucht nach tiefem Fall, der Besessenheit von Feuer, dem Verständnis von Frauen als Objekte, die der narzisstischen Befriedigung dienen, Bisexualität, urethralem Erotismus etc. Aus keiner der uns bekannten Variationen des Ikaros- Mythos lassen sich Schlussfolgerungen ziehen, die zu einem so gearteten Ikaros-Komplex führen könnten. Eine weitere Definition eines Ikaros-Komplexes meint eine Disproportion zwischen Wunsch und Erreichbarkeit, die auch die Möglichkeit des Fallens bzw. des Misserfolges in sich trägt bzw. steigert. Der Solar-Komplex bestehe aus den gleichen Komponenten wie der Ikaros-Komplex, zu der zusätzlich eine sehr starke Ego-Struktur komme, unterstützt von tatsächlich belegten Fähigkeiten, die dazu dienten, die waghalsigen Ambitionen der Jugend zu dämpfen und sie in den Rahmen des Machbaren zu zwingen; dadurch werde auch die Gefahr des tiefen Falls neutralisiert. Der Solar-Komplex wird – in schwer nachzuvollziehender Weise – aus den Mythen von Ikaros und Phaëthon abgeleitet.
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Notes
- 1.
S. Marneros „Mein Bruder Sisyphos, mein Freund der Minotauros“.
- 2.
Hier nach der Übersetzung von Christian Gottlob Moser und Dorothea Vollbach.
- 3.
Ebenfalls in IV, 77.
- 4.
Offensichtlich beschrieb der französische Philosoph und Epistemiologe Gaston Bachelard auch einen Ikaros-Komplex. Jean-Paul Sartre berichtet darüber bei der Beschreibung einiger Aufs und Abs des französischen Autors und schweren Kriminellen Jean Genet. Auf Seite 175 der in den Bibliographischen Anmerkungen zitierten deutschen Edition ist zu lesen: „So ist dieses Universum aus Bergfrieden, Minaretten, Kampanilen, dieses phallische Emporstehen der Natur die Vision eines Mannes, der im Begriff ist zu fallen und der hohe Mauern über sich aufsteigen sieht, die ihm sogar den Himmel verdecken. Genets Sexualität ist der Dynamismus des Fallens, die Schwerkraft des Bösen, die im Fleische empfunden wird. Bachelard würde bei ihm von einem „Ikaruskomplex“ sprechen.“
Obwohl ich mehrere der vom fleißigen Komplexschöpfer Bachelard beschriebenen Komplexe – allerdings nicht im klassischen psychoanalytischen Sinne, die meisten davon gehören nicht in dieses Buch – ausfindig machen konnte, ist es mir leider nicht gelungen, für diesen die Quelle zu lokalisieren.
- 5.
Murray verwendet dafür den Begriff „cathexion“. Aus dem Kontext ist zu vermuten, dass „cathection“ synonym mit dem (falschen) Wort „cathexis“ verwendet ist, s. Fußnote im Kapitel „Prometheus-Komplex“.
- 6.
Murray, S. 636.
- 7.
Ikaros kennen wir alle. Aber Phaëthon? Er ist der Sohn des Sonnengottes Helios. Er nötigt seinen Vater, ihm den Sonnenwagen zu überlassen, den aber nur der Sonnengott selbst lenken kann. Helios Mahnungen und Bedenken haben keinen korrigierenden Einfluss auf Phaëthon – ähnlich wie die des Dädalos auf Ikaros. Und so kommt es, wie es kommen muss: Phaëthon steuert den Sonnenwagen zu nah an die Erde, so dass sie verbrennt; dann entfernt er sich zu weit von ihr, so dass alles auf der Erde erfriert. Und so geht es auf und ab – bis Gottvater Zeus mit seinen Blitzen Phaëthon selbst verbrennt und so dem Spuk ein Ende bereitet. Diese archetypische Legende psychologisch erzählt findet man in Marneros „Mein Bruder Sisyphos, mein Freund der Minotauros“.
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Marneros, A. (2018). Der Ikaros- und der Solar-Komplex. In: Warum Ödipus keinen Ödipus-Komplex und Adonis keinen Schönheitswahn hatte. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-56731-9_12
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Publisher Name: Springer, Berlin, Heidelberg
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