Zusammenfassung
Der inhaltliche Austausch auf Augenhöhe, aber auch die organisatorische Einebnung hierarchischer Unterschiede repräsentieren zwei Seiten eines modernen Gleichheitsverständnisses, das sich auch in einem medizinischen Alltag bereits an vielen Stellen durchgesetzt hat. Gegenläufig zu diesen gesellschaftlichen Symmetrieerwartungen lassen sich in Organisationen jedoch auch weiterhin große Asymmetrien zwischen spezialisierten Berufsgruppen und ihrem Laienpublikum beobachten. Die soziologische Kritik der Arzt-Patienten-Beziehung konzentriert sich typischerweise auf die Figur des „dominanten Arztes“, um diese Asymmetrie einzuebnen. Der vorliegende Text bricht mit dieser erwartbaren Kritik an Asymmetrien. Am Beispiel von empirischem Material wird gezeigt, dass sich das ungleiche Gespräch zwischen Arzt und Patient besser verstehen lässt, wenn man es als Teil der medizinischen Behandlung begreift. Deutlich wird dann, dass der Unterschied zwischen der hochspezialisierten Fachlichkeit einer „medizinischen Sprache“ und einer Laienperspektive unüberbrückbar ist. Darüber hinaus liegt gerade in dieser Fachlichkeit die Begründung für die Funktionalität der medizinischen Kommunikation.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Kapitel das generische Maskulinum verwendet. Dieses impliziert natürlich immer auch die weibliche Form. Teilweise wird auch das generische Femininum eingesetzt (z. B. schließt die Verwendung des Begriffs Krankenschwester immer auch den Krankenpfleger mit ein). Sofern die Geschlechtszugehörigkeit von Bedeutung ist, wird selbstverständlich sprachlich differenziert.
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Notes
- 1.
Seit Robert Straus’ Einteilung wird typischerweise zwischen ‚sociology in medicine‘ und ‚sociology of medicine‘ unterschieden (vgl. Straus 1957). Im Deutschen wäre das die Medizinsoziologie als Teil der Soziologie und die medizinische Soziologie als Teil der Medizin.
- 2.
Die soziologische Beschreibung dieses Phänomens firmiert unter dem Namen Individualisierung. Gemeint ist damit, dass der Einzelne nicht über seine Herkunft festgelegt ist, sondern sich im Rückgriff auf seine Biografie über sich selbst Auskunft geben muss (vgl. Nassehi 2000).
- 3.
Eine interessante Ausnahme hierzu stellen die Studien von Gesa Lindemann dar, die auf die komplizierte Choreografie der medizinischen Hirntodfeststellung aufmerksam macht (Kap. 13). Aber auch hier leben die Beschreibungen des medizinischen Diagnostizierens von ihrem unerklärlichen Kontrast zur Laienperspektive. Auch die Professionssoziologie interessiert sich für die spezielle Form des unsicheren Wissens von Professionsmitgliedern. Vogd (Kap. 4) sieht hierin jedoch nur eine spezielle Wissensform und nicht die Funktionalität einer von Personen unabhängigen Kommunikationsform (vgl. Nassehi 2007), die die Grundlage für die Generierung von Wissen ist.
- 4.
Das hier zitierte Primärdatenmaterial stammt aus Interviews, die mit einem Onkologen einer Knochenmarktransplantationsambulanz, mit einer Krankenschwester einer neurochirurgischen Station, mit einem Rettungssanitäter, mit einem Professor für Ethik sowie mit einem Professor für Rechtsmedizin geführt wurden und aus zwei Beobachtungsprotokollen von Mitarbeiterbesprechungen auf Palliativstationen. Diese Daten wurden im Rahmen von zwei Forschungsprojekten der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) erhoben („Todesbilder in der modernen Gesellschaft“, Leitung: Armin Nassehi, Georg Weber, Na 307/1-2; „Übersetzungskonflikte“, Leitung: Armin Nassehi, Irmhild Saake, Sa 1016). Im „Todesbilder-Projekt“ wurden insgesamt 63 biografische und 86 Experteninterviews geführt. Im „Übersetzungskonflikte-Projekt“ wurden 18 Interviews mit Angehörigen unterschiedlicher Berufsgruppen in der palliativen Versorgung geführt, außerdem wurde eine einwöchige, ganztägige Beobachtung auf einer Palliativstation durchgeführt, die vollständig protokolliert ist. Die Daten wurden mit einem qualitativen Auswertungsverfahren analysiert, die Methode ist die der systemtheoretischen Hermeneutik (vgl. Nassehi und Saake 2002; Saake und Kunz 2006).
- 5.
Betonte Wörter werden mit einem Doppelpunkt vor dem Wort gekennzeichnet.
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Saake, I. (2018). Die Dominanz des Arztes. In: Klinke, S., Kadmon, M. (eds) Ärztliche Tätigkeit im 21. Jahrhundert - Profession oder Dienstleistung. Springer-Lehrbuch. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-56647-3_16
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