Zusammenfassung
Der Geist der Geisteswissenschaften hat es in sich. Denn er besteht nicht bloß aus einer Attitüde oder einem Habitus von Wissenschaftlern im Umgang mit einem spezifischen Erkenntnisbereich, sondern er macht zugleich ein wichtiges, wenn nicht gar das wesentliche Element dieses Erkenntnisbereichs selber aus. Er ist also subjektiv und objektiv zugleich, ja er ist die Synthese von beidem; und genau darin besteht seine Eigenart.
Diejenigen, die den Geist aus den Geisteswissenschaften austreiben, sind offensichtlich in eine Schwierigkeit geraten. Sie möchten Tinte, Druckerschwärze und Papier analysieren, trauen sich aber kein Chemiestudium zu.
Gunter Scholtz (Scholtz: Bücherstaub-Fragmente, 2002, S. 163)
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Notes
- 1.
Koselleck: Historia Magistra Vitae, 1979; Koselleck u. a.: ,Geschichte‘, 1971–1997.
- 2.
Meines Wissens zuerst bei Droysen 1843: Die sog. Privatvorrede, 2007, S. 237.
- 3.
Humboldt: Über den Geist der Menschheit, S. 515.
- 4.
Droysen: Historik, Teilband 2.1: Texte in Umkreis der Historik, 2007, S. 237 (Historik. ed. Rudolf Hübner, 1960, S. 378).
- 5.
Dazu Rüsen: Wissenschaftskultur und Bildung, 2010.
- 6.
Das habe ich am Beispiel der Geschichtswissenschaft deutlich zu machen versucht: Faktizität und Fiktionalität der Geschichte, 2006.
- 7.
Gumbrecht: The task of the humanitites today, 2004.
- 8.
„Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst. Dadurch bekommt die Betrachtung der Historie, und zwar des individuellen Lebens in der Historie, einen eigentümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für sich Gültiges angesehen werden muß und der Betrachtung höchst würdig erscheint.“ (Ranke: Über die Epochen der neueren Geschichte, 1971, S. 60).
- 9.
Ranke hat das so formuliert: „Wenn nun aber auch jede Epoche an und für sich ihre Berechtigung und ihren Wert hat, so darf doch nicht übersehen werden, was aus ihr hervorging. Der Historiker hat also fürs zweite auch den Unterschied zwischen den einzelnen Epochen wahrzunehmen, um die innere Notwendigkeit der Aufeinanderfolge zu betrachten.“ (Ebd. S. 61 f.).
- 10.
Auch einen solchen Gegenwartsbezug hat Ranke unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: Es sei „[…] die Aufgabe der Historie, das Wesen des Staates aus der Reihe der früheren Begebenheiten darzutun und dasselbe zum Verständnis zu bringen, die der Politik aber, nach erfolgtem Verständnis und gewonnener Erkenntnis es weiter zu entwickeln und zu vollenden.“ (Ranke: Über die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik, 1877, S. 288 f.).
- 11.
Ranke: Über die Epochen der neueren Geschichte, 1971, S. 80.
- 12.
Zur Eigenart dieser Teleologie siehe Rüsen: Kann Gestern besser werden?, 2003, S. 26 ff.
- 13.
Reill: Vitalising nature in the Enlightenment, 2005.
- 14.
Dafür steht der oben zitierte Text von Humboldt , wo der Geistbegriff ganz unvermerkt in den der Kraft übergeht, da er analog zur griechischen αρετη „die volle, ächte, und eigenthümliche Kraft anzeigt und ebensogut von der innern, als äussern Bildung gebraucht wird.“ (Über den Geist der Menschheit, 1960, S. 517).
- 15.
Dieser Naturverlust ist nicht untypisch für die Gender Studies und die dort häufig anzutreffende heftige Leugnung naturaler Elemente in der menschlichen Geschlechterdifferenzierung (Judith Butler). Eine ontologisch überzeugende Vermittlung von Natur und Kultur, die die entsprechenden Wissenschaftsbereiche wirklich synthetisiert, scheint mir nicht in Sicht. Dazu müssten sich die Geisteswissenschaften erst einmal den Erkenntnisgewinn einer naturwissenschaftlich orientierten Anthropologie öffnen. Umgekehrt gilt das Gleiche.
- 16.
Dazu Rüsen: Traditionsprobleme eines zukunftsfähigen Humanismus, 2009.
- 17.
Dazu Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam?, 2009.
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Rüsen, J. (2020). Vom Geist der Geisteswissenschaften. In: Geschichte denken. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29275-1_13
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