Im Jahr 1912 hat Durkheim mit Les formes élémentaires de la vie religieuse ein Werk vorgelegt, das die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Religion bis heute prägt. Mit den Formes bot Durkheim eine umfassende Theorie von Religion und Gesellschaft, er definierte Religion, erklärte ihren Ursprung und ihre soziale Funktion und rekonstruierte ihr inneres Funktionieren. Schlüsse zog er dabei nicht nur zu Religion und ihrem Zusammenhang mit der Gesellschaft, sondern auch hinsichtlich der Konstitution von Gesellschaft und des menschlichen Denkens und Handelns überhaupt.

Wie kaum ein anderes Werk zeitigen die Formes für die Thematisierung von Religion bis heute Auswirkungen in der Soziologie, der Ethnologie und der Religionswissenschaft. Dafür gibt es verschiedene Ursachen: Einerseits liegt es an der Prominenz von Durkheim, die er schon mit früheren Werken begründet hatte. Andererseits liegt es an der Tatsache, dass er eine umfassende Theorie der Religion ausarbeitete, die er nicht philosophisch, sondern auf empirischen Daten begründete. Und für die Religionswissenschaft und Religionssoziologie besteht die Relevanz gerade auch darin, dass Durkheim Religion aus einer nicht-religiösen Position eine fundamentale Rolle für das menschliche Leben zuwies. Dass mit Durkheim Religion eine zentrale Funktion für die Gesellschaft einnimmt, kommt einer Wissenschaft, die mit Religion einen Gegenstand hat, an dessen Verschwinden immer wieder geglaubt wird, entgegen.

Die Antworten, die Durkheim in den Formes auf Fragen nach Ursprung, Funktionieren und Funktion von Religion gegeben hat, haben klassischen Charakter. Ein solcher Charakter als Klassiker bedeutet gemäss Niklas Luhmann, dass die Formes zwar einerseits Forschungsfragen definiert haben, die bis heute Gültigkeit hätten, andererseits jedoch Antworten auf diese Fragen boten, die heute nicht mehr akzeptiert werden. Man könne am klassischen Text, so Luhmann (1992a: 21), „ablesen, was zu leisten wäre; aber nicht mehr: wie es zu leisten ist.“ Tatsächlich kann nach über 100 Jahren Rezeption, Kritik und Modifikation das, was Durkheim zum Ursprung, der Funktion und dem Funktionieren von Religion schreibt, nicht mehr ohne Weiteres übernommen werden. Grund dafür ist nicht nur, dass man unterdessen bessere Antworten zu kennen glaubt, sondern auch, dass Durkheims Antworten gar nicht so eindeutig zu identifizieren sind, wofür die höchst unterschiedlichen Rezeptionen seines Werkes ein Beleg sind: Die scheinbare Konsistenz der Formes als Werk und Theorie wurde zum Ausgangspunkt für verschiedene Rezeptionslinien, die an unterschiedlichen Aspekten des Werkes ansetzen und sie unterschiedlich interpretieren. Es besteht inzwischen eine Uneinigkeit über die im klassischen Werk stehenden Antworten, ihren Stellenwert und sogar die dahinter stehende Fragestellung. Sieht Durkheim Glaubensvorstellungen oder Praktiken als primär an? Ist seine Position idealistisch? War seine Fragestellung überhaupt eine religionssoziologische und nicht vielmehr eine epistemologische?

Neben ihrer anhaltenden Wirkung macht gerade diese Verweisungsoffenheit und die darauf folgende Verschiedenheit der Interpretationslinien die Formes zu einem ergiebigen Ausgangspunkt für ein weiteres Buch – das vorliegende. Verfolgt wird darin eine Frage, die in den Formes zwar neben anderen stehen mag, auf jeden Fall aber zentral war: Was ist die Rolle von religiösen Ritualen für die Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Ordnung? Wie lässt sich der Einfluss von religiösen Ritualen auf die Gesellschaft analytisch fassen?

Angesichts der eben angestellten Überlegungen zur Relevanz und zum klassischen Status von Durkheims Formes dienen letztere hier nicht nur als Ausgangspunkt für die Fragestellung, sondern auch für die sich darin findenden Antworten darauf oder zumindest den Ansätzen dazu. Zur Verfolgung und Ausarbeitung dieser Ansätze wird verschiedenen Linien gefolgt, in denen die Rezeption Durkheims hinsichtlich der Frage nach dem Zusammenhang von religiösen Ritualen und sozialer Ordnung verlief. So können unterschiedliche Argumentationen gegeneinander abgewogen werden, was die Ausgangslage für die Erarbeitung einer neuen Position herstellt.

Dabei soll keine „Theoriegeschichte in systematischer Absicht“ geschrieben werden, wie sie Habermas (1981b: 201) betrieb, eher geht es um Theoriebildung unter Rekonstruktion und Einbezug ihrer theoriegeschichtlichen Einbettung. Was ist der Gewinn eines solchen Vorhabens? Erstens wird damit der Tatsache Rechnung getragen, dass auch ein zeitgenössischer Ansatz nur als Teil einer Geschichte wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Thema zu verstehen ist. Gerade die Geschichte dieser Auseinandersetzung hat die Fragestellungen hervorgebracht, die heute anders beantwortet werden mögen. Der wissenschaftliche Anspruch an Selbstreflexion verpflichtet dazu, sich dieser Situiertheit bewusst zu werden. Zweitens wird davon ausgegangen, dass in dieser Geschichte Diskussionen geführt, Fehler gemacht und erkannt wurden, die durch die Kenntnis der Fachgeschichte vermieden werden können. Damit verdankt sich gerade ein solcher Blick zurück einem wissenschaftlichen Fortschrittsglauben. Drittens soll, gemäss einem Diktum von Jürgen Habermas (1981b: 201), dieser Rückbezug dazu verhelfen, der Partikularität gegenwärtiger Strömungen nicht unvermittelt ausgeliefert zu sein. Gerade die Verlockungen von theoretischen Positionen, die zur Zeit en vogue sind, wie die im Folgenden wichtigen Praxistheorien, gilt es durch eine theoriegeschichtliche Kontextualisierung der Partikularität zu entheben, die sie zu ihrer Profilierung typischerweise propagieren.

Für ein solches Projekt der Theoriebildung unter Berücksichtigung der Theoriegeschichte mit Ausgangspunkt Emile Durkheim muss aus der Vielfalt von Durkheimrezeptionen notwendigerweise ausgewählt werden. Verfolgt wird in erster Linie die soziologische Diskussion, wobei darin wiederum die strukturfunktionalistische Rezeption einerseits und die mikrosoziologische andererseits im Zentrum stehen. Dies bringt eine Konzentration auf angelsächsische Autoren mit sich und führt beispielsweise dazu, dass die französischen Erben und Rezeptionslinien Durkheims, wie beispielsweise Marcel Mauss oder auch der Strukturalismus, kaum berücksichtigt werden. Dies ist der Kapazität des Autors und des Buches geschuldet, dessen Umfang durch diese Selektionen eingeschränkt und dessen Übersichtlichkeit erhöht werden soll.

Zudem wird es nicht darum gehen, ein Verständnis davon zu erarbeiten, was Durkheim wirklich gemeint hat und damit nicht um die Frage, welche Rezeptionslinie denn auf einer richtigen Interpretation basiert. Dies würde den Aussagen in den Formes eine Eindeutigkeit unterstellen und würde einer exegetisch überprüfbaren Richtigkeit nacheifern, die auch bei einem allfälligen Erreichen nur wenig zum eigentlichen Ziel der soziologischen Arbeit beitragen würde: einem adäquaten Verständnis der sozialen Welt, nicht Emile Durkheims. Und schliesslich unterstellt die Beanspruchung Durkheims für die eine oder andere Lesart, z. B. die mikrosoziologische, praxistheoretische oder strukturfunktionalistische, dass die entsprechenden Zuordnungen, die erst im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden sind, überhaupt sinnvoll auf Durkheim anwendbar sind.

Zudem folgt die Diskussion nicht bloss Durkheim und seiner Rezeption. Im Zentrum der Untersuchung steht ein Verständnis von Praxis, das für das hier entwickelte Verständnis von Ritualen zentral ist, womit in gewisser Weise ein Kontrapunkt zu Durkheim gesetzt wird: Das erarbeitete Praxisverständnis verdankt sich anderen Theoretikern als Durkheim, zentrale Referenzen sind Marx, Wittgenstein und Bourdieu. Gerade im Rahmen einer Konfrontation eines praxistheoretischen Verständnisses mit durkheimianischen Verständnissen von sozialer Ordnung und religiösen Ritualen können die jeweiligen Schwächen bearbeitet und Defizite ausgeglichen werden.

Diesem Einleitungskapitel folgt im zweiten Kapitel die Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen, auf denen die Bearbeitung der vorliegenden Fragestellung beruht. In einem ersten Abschnitt geht es darum, nahe an Durkheim ein Grundmodell des Zusammenhanges zwischen religiösen Ritualen und sozialer Ordnung herauszuarbeiten, was im Rahmen einer kurzen Übersicht über sein Werk erfolgt. Gewissermassen als erster Kontrapunkt werden darauf insbesondere im Rückgriff auf Bourdieu Verständnisse von Praxis und Ritual erarbeitet. Auf dieser Ausgangslage werden die Konzepte Funktion, soziale Ordnung und die umstrittene Frage nach der Beziehung zwischen Glaubensvorstellungen und Ritualen diskutiert. Notwendig ist auch ein Abschnitt zum Religionsverständnis, da die vorliegende Arbeit zwar durchaus allgemeine Ritual- und Gesellschaftstheorie betreibt, sich jedoch auf religiöse Rituale konzentriert.

Der letzte Abschnitt des zweiten Kapitels ist grundlegend für die Struktur der vorliegenden Arbeit. Bei Durkheim stehen für das soziale Ganze, das durch Religion und Rituale aufrecht erhalten wird, die gemeinschaftlichen Sozialformen bei den australischen Ureinwohnern. Die entsprechenden Erkenntnisse wiederum generalisierte er auf das Bestehen der sozialen Ordnung der modernen Gesellschaft. Was bei den Aborigines in elementaren Formen bestehe, so schloss Durkheim, fände sich auch in den komplexeren Formen der Gesellschaft seiner Gegenwart wieder. Diese Annahme über die elementare Gleichheit zwischen verschiedenen Formen des Sozialen und die Verallgemeinerung über sie hinweg wird hier durch die systemtheoretische Unterscheidung zwischen verschiedenen sozialen Ordnungen, derjenigen der Interaktion, der Gemeinschaft und der Gesellschaft ersetzt. Diese sind je nicht reduzierbar aufeinander, keine stellt die elementare Form der anderen dar. Und so ist jeder dieser sozialen Ordnungen ein Kapitel gewidmet, in dem nach der Rolle religiöser Rituale gefragt wird.

Im Kap. 3 geht es um Interaktion, verstanden als Kommunikation unter Anwesenden. Für deren Analyse werden mikrosoziologische Ansätze fruchtbar gemacht und dazu einerseits auf ihre Ursprünge bei Durkheim bezogen, andererseits in Auseinandersetzung mit dem entwickelten Praxisansatz gebracht. Im Zentrum des Kapitels steht die Ausarbeitung eines Schemas zur Analyse von Interaktionen und die Frage, wie Ritualisierung Interaktion auf spezifische Weise strukturiert. Das Kap. 4 widmet sich der sozialen Ordnung der Gemeinschaft. Seit den Klassikern gilt sie als die eigentliche Sozialform von Religion. Ein auf die klassischen Referenzen aufbauendes Gemeinschaftsverständnis wird aufbereitet und einer netzwerktheoretisch motivierten Kritik unterzogen. Dies stellt die Grundlage für ein Modell von Gemeinschaft dar, auf dessen Basis nach der Rolle von religiösen Ritualen gefragt werden kann und verschiedene Formen von Gemeinschaften untersucht werden können. Kap. 5 widmet sich der modernen Gesellschaft. Der praxistheoretische Blick, der gesellschaftstheoretische Defizite aufweist, wird mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns erweitert, die gerade die Spezifität der Ordnung der modernen Gesellschaft herauszuarbeiten erlaubt. In enger Verknüpfung von Theorie mit empirischen Studien werden im Anschluss daran zwei Argumentationslinien verfolgt, mittels welcher die Rolle religiöser Rituale in der Gesellschaft analysiert werden kann: Die eine Linie folgt dem Versuch, Gesellschaft in Analogie zu Gemeinschaft zu fassen, die andere der Position, dass das Individuum die eigentliche Form der Gesellschaft sei und religiöse Rituale mit Individuumsbezug allenfalls die Nachfolge gemeinschaftlicher Praktiken einnehmen könnten.

Diese drei Kapitel bestehen aus Theoriediskussion einerseits, aber auch aus der Diskussion von empirisch erhobenen Zusammenhängen. Deren Stellenwert ist nicht bloss der einer der Anwendung und Exemplifizierung, sondern auch der Erweiterung dessen, was theoriebezogen entwickelt wurde. Die aus diesem Vorgehen gewonnene Position, ein praxistheoretisch angeleiteter, mit anderweitigen Theoriereferenzen angereicherter Blick auf die Beziehung religiöser Rituale zu sozialer Ordnung, wird im letzten Kapitel zusammengefasst.

Abb. 1.1
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Autoren, Ansätze und Rezeptionslinien

Auf dem Weg durch das Dickicht der Theorien mag die Abb. 1.1 allenfalls zur Übersicht beitragen. Verzeichnet sind die für das Folgende wichtigsten Autoren und massgeblichen Theorierichtungen, wobei je nachdem ein Autor nur teilweise einer solchen Richtung zugeordnet wird. Einflüsse, die für das Verständnis der Argumentation eine Rolle spielen (und nur sie), sind mit einem Pfeil dargestellt.