Zusammenfassung
In der Organisations- und Managementforschung ist Führung ein allgegenwärtiger Begriff. Die Literaturlage lässt dabei erkennen, welch großes Potenzial Führung zur Leistungssteigerung von Organisationen zugeschrieben wird. Angesichts dieser Relevanz erstaunt, wie wenig Führung als soziales Phänomen theoretisiert ist. Der vorliegende Beitrag schließt diese Lücke mit einer theoretisch integrierten Begriffsbestimmung von Führung. Führung wird als situativ erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten konzipiert, die sich in einer Sequenz von drei Ereignissen realisiert: Das Auslöseereignis ist eine soziale Situation, in der ein kritischer Moment entsteht, der Führung überhaupt notwendig macht (I). Darauf folgt ein kommunikativ erhobener Führungsanspruch, in dem Einflussmittel mobilisiert werden (II). Am Entstehen von Gefolgschaft (III) zeigt sich, ob Führung stattgefunden hat. Das vorgeschlagene Führungsverständnis nimmt einen dezidiert organisationssoziologischen Blickwinkel ein, indem es den Unterschied zwischen Führung und Hierarchie hervorhebt und für die Theoretisierung fruchtbar macht. Auf diese Weise erschließt sich ein problemsensibles, umfassendes, flexibles und zugleich trennscharfes Führungsverständnis. Dieser Blickwinkel berücksichtigt, dass Organisationen sich nicht immer an ihre eigenen Regeln halten, also z. B. Hierarchien nicht unumstößlich festlegen, wer in Führung geht. Er ermöglicht außerdem, interaktionale Dynamiken mitzubeobachten, die sich einer planvollen Steuerung entziehen. So wird erklärbar, dass nicht nur von oben nach unten geführt werden kann, sondern ebenfalls unter Gleichen oder von unten nach oben. Führung wird als das Ergebnis eines sozialen Prozesses zwischen allen Beteiligten konzipiert.
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Der Objektstatus der Geführten ist ein Problem, das Chester Barnard (1968) bereits seit den 1930er-Jahren dazu veranlasste, die konventionelle Perspektive auf die Beziehung von Führungskräften zu ihren Untergebenen umzudrehen. Er verfolgte die These, dass die Akzeptanz von Anweisungen in erster Linie davon abhängt, ob die Empfänger bereit sind, sich für das organisierte Sozialsystem zu engagieren, dem beide Seiten angehören.
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Bemerkenswert ist das zugrunde liegende Führungsverständnis. Wir stoßen hier im Grunde wieder auf die zuerst genannte Ausweichbewegung: Führung wird in einem sehr engen Sinn als formal institutionalisierte Führung begriffen – ihre Substitute zielen eher auf „alternatives to hierarchies“ (Herbst 1976) ab, nicht auf die Vermeidung von Führung.
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Diese Einsicht gehört zum Common Sense der Organisationssoziologie. Hier sei nur schlaglichtartig an die Entdeckung der Informalität im Zuge der Hawthorne-Studien und der Analyse informaler Machtbeziehungen (Mayo 1933) und an die Einsicht, dass sich Organisationen selbst an ihre eigenen Regeln nur bedingt halten (Luhmann 1964), erinnert, die selbstverständlich auch für Hierarchie gilt.
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Siehe weiterführend zu den Einflussmitteln niederrangiger Organisationsmitglieder, die sich nicht aus ihrer formalen Position in der Hierarchie ableiten lassen: Mechanic 1962.
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Keine explizite Berücksichtigung finden in diesem Konzept die Persönlichkeitsmerkmale von Führenden. Dieses Absehen von persönlichen Merkmalen und Kompetenzen schmälert jedoch aus unserer Sicht nicht den umfassenden Erklärungsanspruch des hier vorgelegten Konzepts. Die Frage der Persönlichkeitseigenschaften erfolgreich Führender verliert an Relevanz, wenn man von Führung als situativ erfolgreicher Einflussnahme ausgeht, da Führung dann weder eine Daueraufgabe darstellt noch auf Vorgesetzte beschränkt ist.
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Muster, J., Büchner, S., Hoebel, T., Koepp, T. (2020). Führung als erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten. In: Barthel, C. (eds) Managementmoden in der Verwaltung. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26530-4_13
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