Zusammenfassung
Die Entscheidung der Bundesregierung im Jahre 2015 Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten aufzunehmen und die darauffolgende Kritik daran, stellt einen Wendepunkt in der Karriere des Wortes „Gutmensch“ dar. Dieser Begriff wurde bereits in den 1990er Jahren verwendet, und erfreute sich Anfang der 2000er noch größerer Beliebtheit. Das Flüchtlingsthema führte jedoch dazu, dass 2015 die Bezeichnung „Gutmensch“ von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) als Unwort des Jahres gewählt wurde.
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Notes
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Dieser Ausdruck ist inspiriert von der Unterscheidung zwischen der „rechten und linken Hand des Staates“ bei Bourdieu (Bourdieu 2010, S. 129).
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Kathrin Auer bezeichnet den Begriff „Gutmensch“ ähnlich wie „political correctness“ als einen ideologischen Code, um andere zu diffamieren. Bereits 2002 stellt sie im Kontext der österreichischen Gesellschaft fest: „Mittlerweile hat sich die negative Bedeutung des Wortes „Gutmensch“ durchgesetzt und erfreut sich aufgrund seiner diffamierenden und desavouierenden Funktion auf journalistischen und alltagssprachlichen Diskursebenen ebenso wie im ideologischen Vokabular der FPÖ einer Hochkonjunktur“ (2002, S. 301).
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Die folgenden Zitate der Titel der Videobeiträge sowie alle zitierten Beschreibungen bzw. Erklärungen der Verfasser der Beiträge wurden im Original ohne Abänderung der bestehenden Fehler in Grammatik und Rechtschreibung übernommen.
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https://www.youtube.com/watch?v=fHawz3imUCE (abgerufen am 22.03.2018).
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s. o.
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Prozesssoziologische Forschungen von Norbert Elias erhellen beispielhaft wie sich eine solche langfristige Entstehung und Restauration bestimmter soziologischer und psychologischer Strukturen entwickelt. In seinen Studien über die Deutschen thematisiert er z. B. den besonderen und nachhaltigen Einfluss von militärischen Adligen auf den Verhaltenskanon der Deutschen. Seine Darstellung der vorherrschenden Stimmung in der wilhelminischen Zeit kann auch für die Erklärung des Denkstils der Gutmenschenverächter nützlich sein: „Im Vokabular der Zeit tauchen Ausdrücke auf, die Mitgefühl mit anderen stigmatisieren. Man kann solche humanen Regungen einfach dadurch schädlich abweisen, dass man sie als „Gefühlsduselei“ bezeichnet. Wo „eiserne Wille“ vorherrscht, „Schneid“ und „zackiges Verhalten“ gefordert werden, da ist „falsche Sentimentalität“ nicht am rechten Platze. Auch „Moral“ ist verdächtig. Einwände, die auf ihr beruhen, werden entkräftet durch Ausdrücke wie „Moralpredigt“ und „Moralinsäure““ (Elias 1989, S. 273).
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Ein Beispiel dieses instinktiven Selbstbewusstseins der Rechtsextremen lässt sich auch in der Selbstwahrnehmung und den Handlungen der Terror-Organisation NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) wiederfinden (vgl. Arslan 2016).
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Viele ehrenamtlich für die Geflüchteten arbeitende Studierende mit Migrationshintergrund erzählten mir, dass sie selten als Helfer, sondern meist als Flüchtlinge oder deren Verwandte betrachtet wurden. Migrant_innen kommt selten „die Ehre“ zuteil, als „Gutmenschen“ beschimpft zu werden. Ihr Engagement wird häufig als selbstverständlich und rational empfunden, weil sie ja nur das Interesse „eigener“ Gruppe vertreten würden.
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Im Ansatz von Christoph Butterwegge über den Rechtsextremismus aus dem Sicht eines ‚Standortnationalismus‘ und ‚Wohlstandschauvinismus‘ lassen sich pointierte Analysen dieser Haltung finden (Butterwegge 1998).
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https://www.youtube.com/watch?v=4Oww2I9PQt8 (abgerufen am 22.03.2018).
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https://www.youtube.com/watch?v=9yBpdgDYQiY (abgerufen am 22.03.2018).
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https://www.youtube.com/watch?v=9KS4rIxL27I (abgerufen am 22.03.2018).
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https://www.youtube.com/watch?v=ITT51xoDVeA (abgerufen am 22.03.2018). Der Titel des Beitrags „Wenn Migranten einer Gutmensch/in eine Lektion erteilen!!!“ suggeriert, dass der Nutzer Migranten gegenüber eher positiv eingestellt ist. Die Inhalte des Beitrags zeigen jedoch, dass es sich hierbei um eine Instrumentalisierung handelt. Dieser Titel verdeutlicht gleichzeitig die These, dass nicht die Migranten, sondern nur die alteingesessenen Deutschen „Gutmenschen“ sein können.
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Harald Martenstein, der als Journalist in den Mainstream-Medien die „Gutmenschen“ und „politische Korrektheit“ kritisiert, berichtet über eine eigene Erfahrung mit kriminellen Migranten: „Vor längerer Zeit bin ich von ein paar Jugendlichen verprügelt worden, auf dem abendlichen Heimweg. … Wie ihrem Akzent zu entnehmen war, hatten sie den sogenannten Migrationshintergrund. Ich war nicht ernsthaft verletzt und ging nicht zur Polizei, zum Teil aus Scham. (..) Jahre später, als der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowski als Rassist beschimpft wurde, weil er geschrieben hatte, es gebe in Berlin ein Problem mit gewalttätigen Jugendlichen speziell aus muslimischen Familien, erinnerte ich mich an diesen Vorfall. Ich schrieb eine Kolumne. (..) Darin stand, dass der Vorfall, falls ich Migrant wäre, statt der Täter, gewiss als Beweis für Ausländerfeindlichkeit gewertet würde. Da ich aber urdeutsch aussehe, beweist der Vorfall gar nichts. Ich hatte einfach Pech.“ (Martenstein 2014). Mit Bezugnahme auf das gleiche Phänomen hinterfragt er in einer anderen Zeitung die Haltung mancher Menschen mit Migrationshintergrund: „Aber wieso fühlen sich eigentlich manche Menschen mit Migrationshintergrund persönlich angegriffen, wenn man Geschichten aus dem Leben erzählt? Für mich ist das so, als fühle sich ein Deutscher persönlich angegriffen, wenn man etwas gegen Neonazis sagt“ (2012). Die Darstellungsweise von Martenstein über die unerfreuliche Erfahrung mit den aggressiven Jugendlichen zeigt meines Erachtens noch mal die strukturelle und soziale Bedingtheit der individuellen Wahrnehmung. Sowohl die von ihm berichtete „Überempfindlichkeit“ der Menschen mit Migrationshintergrund als auch seine eigene Blindheit gegenüber den ungleichen Machtdifferenzen zwischen Mehrheitsgesellschaft und deren Minderheit sind Produkte struktureller Gegebenheiten wie die Benennungsmacht und pars-pro-toto Darstellung der Etablierten. Während bei Minderheiten und Außenseitern eine kriminelle Tat mit der ganzen Gruppe identifiziert wird (z. B. nicht die Grauen Wölfe oder die Salafisten, sondern Türken oder Muslime), wird eine kriminelle Tat bei den Etablierten differenziert (z. B. nicht Deutschen oder Christen, sondern Neo-Nazis oder Sekten) betrachtet. Und während diese strukturelle Disparität sich bei unreflektierten Menschen wie Martenstein als Normalität oder „Geschichten aus dem Leben“ erlebt wird, führt sie bei Menschen mit Migrationshintergrund zusätzlich zu einem schwer bestimmbaren Druck und Unbehagen.
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Dieses Phänomen wurde bereits ausführlich in der Sozialpsychologie mithilfe eines Testinstrumentes untersucht. Der IAT (Implicit Association Test), den eine Forschungsgruppe um Anthony Greenwald entwickelt hat (Greenwald et al. 1998; zitiert nach Brehm et al. 2005, S. 198), misst unbewusste/implizite Überzeugungen der Menschen. Probanden werden Bilder und Bewertungsadjektive (gut vs. Schlecht) in einer randomisierten Paarung am Computer präsentiert und sie müssen per Tastendruck reagieren. Anhand der Reaktionsgeschwindigkeit lässt sich dann herausfiltern, welche Assoziation (Bild + Bewertungsadjektiv) stärker im Unbewussten der Person verankert ist. Entwickelt wurde der Test zunächst zur Erfassung der impliziten rassistischen Überzeugungen gegenüber schwarzen Amerikanern. Inzwischen kann mit diesem Instrumentarium jedoch auch der persönliche Bias u. a. hinsichtlich Gewicht, Alter, Sexualität etc. getestet werden (https://implicit.harvard.edu/implicit/germany/takeatest.html).
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Die Bezeichnung „Nafri“ wurde als Täterprofil von der Kölner Polizei für ihre nach der Kölner Silvesternacht durchgeführten Polizeikontrollen am Hauptbahnhof erstellt. Dabei wählten sie die betreffenden Personen ausschließlich nach ihrer Hautfarbe aus und bezeichneten sie als Nordafrikaner, unabhängig davon ob es Menschen mit türkischem, bulgarischem, marokkanischen oder israelischem Migrationshintergrund waren.
Literatur
Arslan, E. (2016). Geschichten der Nation und des Menschen: Das Mythische und das Erlebte. In K. Bozay, et al. (Hrsg.), Die haben gedacht, wir waren das: MigrantInnen über rechten Terror und Rassismus. PapyRossa: Köln.
Auer, K. (2002). „Political Correctness“ – Ideologischer Code, Feindbild und Stigmawort der Rechten. ÖZP, 31(3), 291–303.
Balibar, E. (1992). Gibt es einen „Neo- Rassismus“? In E. Balibar & I. Wallenstein (Hrsg.), Rasse-Klasse-Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg: Argument.
Bourdieu, P. (1976). Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bourdieu, P. (2001). Meditationen: zur Kritik der scholastischen Vernunft. In Kapitel 5: „Symbolische Gewalt und politische Kämpfe“. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bourdieu, P. (2005). Die männliche Herrschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bourdieu, P., et al. (2010). Das Elend der Welt. Konstanz: UVK.
Brehm, S. S., Kassin, S., & Fein, S. (2005). Social psychology. Boston: Houghton Mifflin Company.
Butterwegge, C. (1998). Abschied vom Sozialstaat. Standortnationalismus und Wohlstandschauvinismus als geistig-politische Anknüpfungspunkte des Rechtsextremismus. In W. Gessenharter & H. Fröchling (Hrsg.), Rechtsextremismus und Neue Rechte in Deutschland Neuvermessung eines politisch-ideologischen Raumes? (S. 147–161). Opladen: Leske + Budrich.
Drieschner, F. (18. Mai 2017). Meint Ihr mich?. Die Zeit.
Elias, N. (1989). Studien über Deutschen: Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Elias, N., & Scotson, J. L. (2002). Etablierte und Außenseiter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Hall, S. (1989). Rassismus als ideologischer Diskurs. Das Argument, 178.
Hanisch, A., & Jäger, M. (2011). Das Stigma ‚Gutmensch‘. DISS-Journal, 22. http://www.diss-duisburg.de/2011/11/das-stigma-gutmensch/. Zugegriffen: 19. März 2018.
Heine, M. (23. März 2015). Wer Gutmensch sagt, verdient sich seinen Shitstorm. Die Welt.
Martenstein, H. (01. Oktober 2012). Wenn ich verprügelt werde, ist das kein großes Ding. Der Tagesspiegel.
Martenstein, H. (17. Mai 2014). Über Kritik von allen Seiten. ZEITmagazin, 21.
Mecheril, P. u. a. (2010). Migrationspädagogik. Beltz: Weinheim und Basel.
Trojanow, I. (25. November 2017). Verteidigung des Gutmenschen. FAZ.
Weiß, A. (2013). Rassismus wider Willen: Ein anderer Blick auf eine Struktur sozialer Ungleichheit. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
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Arslan, E. (2019). Die Symbolische Ordnung schlägt zurück: Wie die etablierten Kräfte „Gutmenschen“ angreifen. In: Arslan, E., Bozay, K. (eds) Symbolische Ordnung und Flüchtlingsbewegungen in der Einwanderungsgesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22341-0_8
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