Zusammenfassung
Das Normativitätsproblem in der Sozial- und Erziehungswissenschaft hängt eng mit der Kontingenz sozialer Phänomene zusammen. Anhand dieser These wird der Umgang mit Kontingenz und Normativität in der qualitativen Unterrichtsforschung diskutiert. Dabei wird die These vertreten, dass eine pädagogische Empirie nicht ohne normativ ausgerichtete Objekttheorien denkbar ist. Daher wird dafür argumentiert, dass die Kontingenz dieser normativen Objekttheorien reflektiert und innerhalb einer reflexiven Methodologie in der Erziehungswissenschaft diskutiert werden muss, anstatt auf soziologische Objekttheorien auszuweichen.
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Es ist deswegen terminologisch verwirrend, wenn man „Normativität in der qualitativ-rekonstruktiven Forschungspraxis“ analysiert und dabei auf die im Feld vorherrschenden Normen Bezug nimmt (vgl. Fuhrmann et al. 2018). Dass Normen des Feldes gerade nur dann analysiert werden können, wenn man sich von seinen eigenen normativen Wertungen distanziert, ist eine seit langem bekannte Position insbesondere in der Ethnografie. Soziale Normen empirisch zu rekonstruieren, gehört quasi zum Kerngeschäft der deskriptiv-analytischen Sozialwissenschaft.
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Der Reproduktionsmediziner wird auf die Probleme seiner Forschung keine Lösungen in Werten und Normdiskussionen finden. Für seine Arbeit im Labor ist dies buchstäblich wertlos. Für die rechtliche Frage wiederum ist die Frage nach der technischen Realisierbarkeit höchstens ein Randaspekt. Ob etwas erlaubt werden sollte, hängt nicht daran, ob es bereits technisch möglich ist. Wohl aber daran, welche Konsequenzen die Technik hat.
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Ein jüngeres Beispiel ist das von Udo Kelle begründete Mixed-Methods-Verfahren. Qualitative und quantitative Verfahren zeichnen sich nach seiner Argumentation dadurch aus, dass sie jeweils „spezifische Stärken und Schwächen im Umgang mit kontingenten Strukturen“ (Kelle 2010, S. 28) aufweisen, die durch eine Kombination ergänzt und kompensiert werden könnten.
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Für die Biografieforschung sei dies beispielsweise die Setzung der Homologie von Erzählung und erlebter Wirklichkeit, für die objektive Hermeneutik der vertretene Strukturalismus, für die Konversationsanalyse die Prämisse der Regelhaftigkeit der Kommunikation, die sich insbesondere im Prinzip des „order at all points“ ausdrückt. All diese methodischen Prinzipien verhindern, dass Daten als zufällige Ereignisse erscheinen und so einer Interpretation zugänglich werden, die die Daten als Ausdruck von etwas Bestimmten verstehbar macht und damit Unbestimmtheit ausklammert.
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Dass hinter diesem Modell auch eine nicht unwesentlich normative Vorstellung darüber vorherrscht, welche Funktionen und Aufgaben Schule zu übernehmen habe, wird dabei durchaus in Rechnung gestellt: „Lehrerhandeln schließt also immer an institutionelle Vorentscheidungen an, die auf normativen Prämissen und sozial verteiltem Erfahrungswissen beruhen und das Bildungsprogramm, seine sachliche, zeitliche und soziale Organisation sowie die Beurteilung und Graduierung von Schülerleistungen betreffen“ (Baumert und Kunter 2006, S. 472). Dies habe deutliche Konsequenzen für das Lehrerhandeln, das mit einer „Vorentscheidung zugunsten professioneller Distanz“ (ebd.) verbunden sei. Damit wird deutlich, dass der gesellschaftlich normative Rahmen, was Schule sein solle, die Theorie- und Forschungsperspektiven deutlich eingrenzt. Es ist gerade diese klassisch strukturfunktionalistische Argumentation, gegen die eine kritische Theorie immer wieder Einwände formuliert hat (vgl. klassisch Adorno 1955).
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Hingegen wird in Ansätzen, die diese Prämisse nicht teilen, der reflexive Umgang mit Kontingenz als Umgang mit Ungewissheit selbst zum Thema professionellen Lehrerhandelns, siehe dazu jüngst Paseka et al. (2018).
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Der Rückgriff auf Ergebnisse der Entwicklungspsychologie zur normativen Bewertung von Unterricht scheint dabei durchaus eine gängige Praxis zu sein (vgl. Hollstein und Meseth 2016, S. 206).
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Beier, F. (2019). Der Umgang mit Normativität und Kontingenz in der Unterrichtsforschung. In: Meseth, W., Casale, R., Tervooren, A., Zirfas, J. (eds) Normativität in der Erziehungswissenschaft. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21244-5_18
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