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Taugt Aristoteles als Vorbild der Kommunitarier?

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Handbuch Kommunitarismus
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Zusammenfassung

Wann immer über historische Vorbilder des Kommunitarismus gesprochen wird, fällt der Name des Aristoteles. Vor allem ist es Alasdair MacIntyre, der in seinem Buch After Virtue eine, wie er sagt, Aristotelische Tugendtheorie zu erneuern versucht. Tatsächlich bestehen gewisse Ähnlichkeiten zwischen der tugendtheoretischen Ausprägung des Kommunitarismus und Aristoteles’ praktischer Philosophie. Der vorliegende Text untersucht, ob diese Ähnlichkeiten einer genaueren Überprüfung standhalten. In wichtigen Hinsichten ergeben sich dabei einschneidende Unterschiede. Vor allem fällt es dem Kommunitarismus schwer, Aristoteles’ Berufung auf die menschliche Natur zu integrieren. Die Aristotelische Auffassung, jede Polis strebe nach einem gemeinsamen Gut, sieht der kommunitaristischen Theorie auf den ersten Blick ähnlich, doch zeigt sich auch hier, dass die Tugenden bei Aristoteles nicht ihrem Inhalt nach vom besonderen Gut verschiedener Gemeinschaften abhängig sind.

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Notes

  1. 1.

    Siehe Aristoteles, Nikomachische Ethik VIII 13, 1161b6-7: „Es scheint nämlich für jeden Menschen etwas Gerechtes jedem anderen Menschen gegenüber zu geben, der in der Lage ist, an Gesetz und Vertrag teilzuhaben.“ (Übersetzung vom Verfasser).

  2. 2.

    MacIntyres After Virtue, zuerst erschienen 1981, wird im Folgenden unter auf die deutsche Übersetzung von 1995 (= Verlust der Tugend) zitiert.

  3. 3.

    In Rapp 1994 und der erweiterten deutschsprachigen Version Rapp 1997 habe ich MacIntyres Aristoteles-Interpretation frontal angegriffen. Dass Alasdair MacIntyre selbst sowie seine Anhänger von dieser Kritik wenig erbaut waren, ergibt sich aus der Natur der Sache. Aber auch der besonnenere Th. Gutschker 2002, S. 366, Fußn. 48, kommt zu der Auffassung, dass das in meinen Schriften entworfene „universalistische“ Gegenmodell der Komplexität von MacIntyres Auffassung nicht gerecht werde. Im Grunde stimme ich Gutschker darin zu, dass ein platter Universalismus als Aristoteles-Interpretation ebenso wenig überzeugend wäre wie MacIntyres kommunitaristische Lesart. Die genannten Schriften sind in der Tat unausgewogen, insofern sie alle möglichen Stellen und Lesarten versammeln, die man gegen MacIntyre anführen kann, ohne damit jedoch zu beanspruchen, eine kohärente Interpretation der Aristotelischen Philosophie vorzulegen. Gerne räume ich daher ein, dass es hier Interpretationsspielraum in Richtung auf eine Kommunitarismus-freundlichere Verwendung der Aristotelischen Schriften gibt. An den beiden zentralen Thesen dieser frühen Arbeiten halte ich dennoch fest, nämlich erstens dass eine Interpretation der Aristotelischen Ethik, die die Berufung auf die menschliche Natur zu eliminieren versucht, den Kern derselben verfehlen muss und zweitens dass die kommunitaristische Interpretation der Aristotelischen Tugenden nicht hinreichend zwischen den Bedingungen des Erwerbs von Tugenden und deren Inhalt unterscheidet.

  4. 4.

    Zumindest listet er diese Güter in Kapitel I 5 der Rhetorik auf; jedoch sollte der argumentationstheoretische Kontext dieses Kapitel davor warnen, dieser Liste allzu viel Bedeutung beizumessen.

  5. 5.

    In einem solchen Sinn charakterisiert der MacIntyre-Kommentator Lutz 2012, S. 173 f., die Intention von Verlust der Tugend: „Where Aristotle seeks an explanation of teleology in the metaphysics of substances composed of matter and form […], MacInytre’s AV [= After Virtue] simply prescinds from the metaphysical question altogether. AV studies the phenomena of teleology in intentional actions and social practices, whole human lives, traditions, and institutions. […] the teleology of MacIntyre’s AV is socially discovered, but remains metaphysically unexplained“.

  6. 6.

    Siehe z. B. Knight 2007, S. 1, der zwischen dem „ethical image“ und „its theoretical projector“ unterscheidet.

  7. 7.

    Der MacIntyre-Kommentator Lutz 2012, S. 173, meint den Kern der obsoleten theoretischen Voraussetzungen auf Seiten von Aristoteles in einer Theorie der „teleologically ordered substances“ ausmachen zu können. Dieser theoretische Hintergrund sei von der modernen Wissenschaft, besonders durch die Entdeckung der Chromosomen, widerlegt worden; daher sei es für einen modernen, säkularen Denker wie MacIntyre nur verständlich, dass er auf eine derart falsifizierte Naturphilosophie verzichte (Lutz 2012, S. 174 f.). Ein netter Versuch (der Autor scheint anzunehmen, die moderne biologische Vererbungslehre desavouiere den metaphysischen Formbegriff) – jedoch scheint die Entdeckung der Chromosomen das geringste Problem der Aristotelischen Ethik zu sein.

  8. 8.

    Nussbaum 1993 unternimmt bekanntlich einen solchen Versuch – wenngleich in einem Textgenre, das nicht wirklich beansprucht, eine Exegese der Aristotelischen Schriften zu betreiben.

  9. 9.

    Auch Höffe 1998 spricht von einer „universalistischen Tugendethik“ des Aristoteles und kennzeichnet den Situationstyp, auf den jede der Tugenden antwortet, als allgemeingültig; denn es unterliege keinen bloßen Üblichkeiten, sondern anthropologischen Bedingungen, dass der Mensch Tapferkeit, Freigebigkeit, usw. brauche.

  10. 10.

    Siehe Nussbaum 1993.

  11. 11.

    Bei der Vorstellung der Charaktertugenden in Nikomachische Ethik II 7 nimmt Aristoteles immerhin eine gewisse Strukturierung vor, indem zwischen Tugenden für die Verwendung von Geld und Besitz, Tugenden für den Umgang mit Ehre, sozialen Tugenden usw. unterscheidet. In der entsprechenden Passage der früheren Eudemischen Ethik (II 3) findet sich nicht einmal eine solche basale Bemühung.

  12. 12.

    Siehe das oben genannte Beispiel der Tapferkeit.

  13. 13.

    Die Aristotelische Tugend der Wahrhaftigkeit zum Beispiel ist kein breiter, situationsübergreifender Charakterzug wie unsere Ehrlichkeit, sondern betrifft allein die Angemessenheit bei der Darstellung eigener Verdienste und Vorzüge.

  14. 14.

    Während sich MacIntyre in Verlust der Tugend bei seinen Ausführungen zu Aristoteles vor allem auf die Nikomachische Ethik stützt, beruht sein Aristoteles-Bild in Whose Justice? vor allem auf Politik I und VII sowie Exzerpten aus Nikomachische Ethik V und VI.

  15. 15.

    Siehe MacIntyre 1988, S. 122: „So there is no standard external to the polis by which a polis can be rationally evaluated in respect of justice or any other good.“

  16. 16.

    Auch wenn es vielleicht angemessener wäre zu sagen, dass bei Aristoteles die Politische Theorie nicht ohne die Ethik zu verstehen ist, als umgekehrt wie MacIntyre zu betonen, dass bei Aristoteles die Ethik nicht ohne die politische Theorie verstanden werden kann.

  17. 17.

    MacIntyre fährt an dieser Stelle fort: „Als moderne Beispiele eines solchen Projekts könnten wir an die Gründung oder Weiterführung einer Schule, eines Krankenhauses oder einer Kunstgalerie denken.“ Die Beteiligung an einem solchen Projekt gehe mit einer besonderen Form von Wertung einher, nach welcher Geistes- und Charaktereigenschaften, die zur Verwirklichung des gemeinsames Gutes beitrügen, als lobenswert zu gelten haben.

  18. 18.

    Siehe die vorige Fußnote.

  19. 19.

    Siehe MacIntyre 1988, S. 106: „But in all of them he will especially need to learn both to understand the principle of just distribution and to be moved by a disposition to abide by it. To do so he will have to come to recognize who owes which good to what persons in a variety of situations, something which in Aristotle’s view requires experience and habituation, as well as right reason.“

  20. 20.

    Siehe MacIntyre 1988, S. 106: „Justice thus occupies a key position among the virtues.“

  21. 21.

    Siehe MacIntyre 1988, S. 106 f.: „But concepts of desert have application only in contexts in which two conditions are satisfied. There must be some common enterprise to the achievement of whose goals those who are taken to be more deserving have contributed more than those who are taken to be less deserving; and there must be a shared view both how such contributions are to be measured and of how rewards are to be ranked.“

  22. 22.

    Genau genommen nennt Aristoteles in Politik III die Demokratie unter den schlechten „entarteten“ Verfassungsformen; für den modernen Leser erweckt das den falschen Eindruck, Aristoteles sei demokratiefeindlich gesonnen. Richtig ist, dass er auch eine positive Form von Volksherrschaft anerkennt – diese liegt vor, wenn die mittellose Mehrheit zum Wohle aller regiert. Diese Verfassung nennt er „Politie“ nach der griechischen Bezeichnung für alle Verfassungen „politeia“.

  23. 23.

    Die Anerkennung „externer“ Standards drückt sich auch in Aristoteles’ einflussreicher Bemerkung aus, dass das politisch Gerechte einerseits gesetzlich, andererseits natürlich sei (Nikomachische Ethik V 9, 1134b18 ff.). Die Bedeutung dieses Begriffs des von Natur aus Gerechten ist kontrovers und wurde in der Aristotelischen Tradition oftmals überschätzt. Es scheint aber deutlich, dass Aristoteles an Gerechtigkeitsvorstellungen appellieren will, die nicht von der einen oder anderen Polis abhängig sind. Zu MacIntyres skizzenhaftem Versuch, die natürliche Gerechtigkeit (wie er es nennt) auf die Gerechtigkeit der besten Polis zurückzuführen, siehe MacIntyre 1988, S. 120 f.

  24. 24.

    Aristoteles spricht in dem nämlichen Kapitel bevorzugt von „der Tugend des guten Mannes“, was aber nichts zur Sache beiträgt, da sich die damit gemeinten Tugenden grundsätzlich bei allen Menschen finden.

  25. 25.

    Wobei man bei den ausführlichen Einlassungen zu Aristoteles in den verschiedenen Werken von A. MacIntyre schon den Eindruck bekommt, dass MacIntyre Aristoteles nicht nur in systematisch-heuristischer Absicht explorieren, sondern auch eine gewisse interpretatorische Valenz seiner Ausführungen zu Aristoteles beanspruchen will. Zumindest wird MacIntyre von seinen Anhängern so verstanden.

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Rapp, C. (2019). Taugt Aristoteles als Vorbild der Kommunitarier?. In: Reese-Schäfer, W. (eds) Handbuch Kommunitarismus. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16859-9_2

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