Zusammenfassung
So unterschieden also, außer Naturvölkern, von denen wir es heute wissen, die Griechen sowohl wie die Römer und die Hebräer scharf zwischen der Lebensseele und dem Totengeist. Und wir dürfen überzeugt sein, daß dieselbe Trennung sich im Glauben noch vieler alter oder primitiver Völker finden würde, wenn man bei ihrer Untersuchung mit derselben Genauigkeit und Vorurteilslosigkeit vorginge. Der Totengeist oder Schatten, d. h. der Verstorbene selbst, geht nach dem Tode als Gespenst um, oder er weilt unter den Anderen seines Gleichen im Totenreich. Er ist streng individuell. Nicht so der Lebens-, geist. Er mag sich wiederverkörpern, wie er schon während des nunmehr abgeschlossenen Einzellebens sich in anderen fortpflanzen konnte — man kennt ja die Bedeutung des Hauches bei der Zeugung (vgl. Preuss, Globus 86, 362) — oder er geht an einen höheren Ort zurück, in den Himmel, zur Gottheit, von wo er gekommen sein soll. Die Römer nannten diese Lebensseeleanima oder, in einem höheren Sinn, Genius. Bei Homer heißt sie vµóς Der Totengeist dagegen hatte bei ihm den Namen ψvxń. Wir mußten lernen, daß dieses Wort für ihn „Leben“ bedeutet, und nur in diesem Sinne von ihm gebraucht wird, solange nicht vom Tode die Rede ist. Seine etymologische Bedeutung tut nichts zur Sache. Wenn auch ursprünglich der „Qdem“ gemeint war, die homerische Sprache weiß nichts mehr davon. Sie kennt ψvxń nur noch in der Bedeutung „Leben“. Daraus aber wurde uns auch begreiflich, wie dieser Ausdruck später, im schärfsten Gegensatz zum homerischen Sprachgebrauch, gerade den Lebensgeist bezeichnen konnte. Hier hat der Unsterblichkeitsglaube der Mysterien und der idealistischen Philosophie angeknüpft.
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Otto, W.F. (1923). Die allgemeine Unterscheidung zwischen der Lebensseele und dem Totengeist. In: Die Manen Oder von den Urformen des Totenglaubens. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-94473-4_3
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