Todd Haynes’ Film [SAFE] (USA 1995) erzählt die Geschichte von Carol White, die in einer US-amerikanischen Vorstadt ein sehr tristes und einsames Leben als Hausfrau führt, bis sie plötzlich an immer stärker werdenden körperlichen (Über-) Reaktionen auf chemische Stoffe und Abgase zu leiden beginnt. Sie bricht beim Baby shower einer Freundin und im Waschsalon zusammen oder bekommt im Straßenverkehr keine Luft mehr. Ihre immer schlimmer werdenden Attacken bringen sie dazu, dass sie sich bei verschiedenen Stellen Hilfe sucht, wodurch sie erfährt, dass sie in ihrem Leiden nicht allein ist: „Multiple Chemical Sensitivity“ sei eine „environmental illness“ oder auch „die Krankheit des 20. Jahrhunderts“, die mittlerweile pandemische Ausmaße angenommen habe.Todd Haynes’ Film [SAFE] (USA 1995) erzählt die Geschichte von Carol White, die in einer US-amerikanischen Vorstadt ein sehr tristes und einsames Leben als Hausfrau führt, bis sie plötzlich an immer stärker werdenden körperlichen (Über-) Reaktionen auf chemische Stoffe und Abgase zu leiden beginnt. Sie bricht beim Baby shower einer Freundin und im Waschsalon zusammen oder bekommt im Straßenverkehr keine Luft mehr. Ihre immer schlimmer werdenden Attacken bringen sie dazu, dass sie sich bei verschiedenen Stellen Hilfe sucht, wodurch sie erfährt, dass sie in ihrem Leiden nicht allein ist: „Multiple Chemical Sensitivity“ sei eine „environmental illness“ oder auch „die Krankheit des 20. Jahrhunderts“, die mittlerweile pandemische Ausmaße angenommen habe. Ihr wird geraten, sich von Umwelteinflüssen möglichst fern zu halten und ihren Körper weitestgehend zu „reinigen“, so dass sich Carol letztlich entschließt, in eine Art spirituelles Sanatorium zu ziehen, das in der Wüste liegt und von der Außenwelt abgeschieden ist. Doch auch hier hören ihre Anfälle nicht auf, am Ende bewegt sich Carol nur noch mit einer Sauerstoffflasche umher und bewohnt schließlich ein Porzellan-Iglu, das sie in größtmöglichem Maße vor allen schädlichen Umwelteinflüssen schützen soll. Die letzten Szenen von [SAFE] wirken, als zeigten sie eine surreale Mondlandschaft. Während also der Film die Existenz der Gefahr, der Carol ausgesetzt ist, nicht leugnet, macht er auf eine grundlegende Ironie aufmerksam: Das exzessive Streben nach Sicherheit für das Leben führt letztlich in eine Isolation, die selbst absolut unlebbar ist.

1 If You See Something Say Something (Die Angst vor Ansteckung als Pathologie der Immunität)

Ist Haynes’ Film zuallererst als eine Metapher auf die Aids-Krise der 80er Jahre zu lesen, kann er doch auch in einem allgemeineren Sinne als Reflexion über das Verhältnis von Leben und Immunität verstanden werden. Die Aufforderung, sich vor Ansteckung zu schützen, ist in [SAFE] von der Sexualität gelöst und zu einem universellen Modus der Subjektivierung geworden.Footnote 1 Genau diese – spezifisch moderne – Subjektivität hat der italienische Philosoph Roberto Esposito zum Gegenstand einer intensiven Auseinandersetzung gemacht. Vor allem seinen drei thematisch miteinander zusammenhängenden Büchern Communitas (1998, dt. 2004), Immunitas (2002, dt. 2004) und Bíos (2004, engl. 2008), aber auch in mehreren kürzeren Interventionen zu benachbarten Themenbereichen, hat er die politische Grundkonstellation der Moderne als das Verhältnis von Gemeinschaft und Immunität zu dechiffrieren versucht.Footnote 2 Die Gemeinschaft versteht er dabei weder als eine Substanz noch als eine Eigenschaft, die man „haben“ kann, sondern als ein gemeinsames Schuldigsein; denn weil, wie Esposito in Anspielung auf die Gabe-Soziologie von Marcel Mauss ausführt, jede Gabe zugleich eine Verpflichtung beinhaltet, können wir nicht mit anderen zusammen leben, ohne ihnen beständig etwas zu schulden. Jedes Gemeinschaftliche ist so immer zugleich verpflichtend: munus ist der lateinisches Ausdruck sowohl für Geschenk, als auch für Dienst, Pflicht oder Aufgabe.Footnote 3 Der Begriff der Immunität bildet den Gegenpol zur Gemeinschaft: Immun ist derjenige, der von diesen Pflichten dispensiert ist (und der somit von der Gemeinschaftlichkeit selbst freigestellt ist). Dies entspricht dem Alltagsverständnis dieses Begriffs: Ein Amtsträger, der Immunität genießt, ist von der juristischen Verantwortung entbunden, die für alle anderen gilt; und wer gegen eine Krankheit immun ist, ist ebenfalls von einer ansonsten allgemeinen Last befreit. Die Immunität, so Esposito, unterbricht so die Zirkulation des Gebens, welche die Gemeinschaft konstituiert, und ist daher strukturell anti-sozial und genuin „undankbar“Footnote 4. Esposito argumentiert nun, dass Kommunität und Immunität zwar Widersprüche sind, sich aber dennoch gegenseitig enthalten, kein Begriff kann ohne den jeweils anderen existieren: Jede Gemeinschaft ist auf immunisierende Prozeduren angewiesen, um sich selbst zu schützen. Er setzt voraus, dass ohne solche elementaren stabilisierenden Schutzmechanismen die Gesellschaft sich unweigerlich dissoziieren, implodieren oder explodieren würde. Der Immunisierungsvorgang ist somit bereits konstitutiv ein „antinomischer“ oder „aporetischer“ Prozess, denn er schützt das Leben (in) der Gemeinschaft, gegen die er gleichzeitig gerichtet ist.

Klingt dies noch wie eine rein strukturlogische Reflexion zur Kategorie der Immunität, wird die politische Brisanz von Espositos Arbeit deutlicher, wenn man seine zeitdiagnostischen Überlegungen hinzuzieht. Der Begriff der Immunität, behauptet er nämlich, sei die „Schlüsselfigur des gesamten Paradigmas der Moderne“Footnote 5. Zeitgenössische Emanationen des immunitären Paradigmas sind auf den ersten Blick so unterschiedliche Phänomene wie der Kampf gegen Seuchen, der Kampf gegen die Auslieferung eines ausländischen Staatsoberhaupts, der Kampf gegen Einwanderung, der Kampf gegen Computerviren und, am extremsten, der Kampf gegen den biologischen Terrorismus – all diese Bestrebungen haben gemeinsam, „Schutzreaktionen gegenüber einem Risiko“Footnote 6 zu sein. Dieses Risiko ist das Risiko der Ansteckung, welches die bisherige (Selbst-) Konzeption der eigenen Identität in Frage stellt oder elementar bedroht. Diese Bedrohung ist zwar dem Leben als solchem inhärent – leben ist lebensgefährlich – aber, so lautet Espositos recht plausible Gegenwartsdiagnose, der Sog der Ansteckung wird im Zeitalter der Globalisierung immer akuter: Weltweite Migrationsbewegungen unterlaufen die Fiktion nationaler Homogenität, die Effekte von elektronisch verbreiteten Viren lassen sich nicht mehr lokal begrenzen, der Pluralismus von Rechtsordnungen (verbunden mit den von einigen Ländern bereits eingeführten neuen kosmopolitischen juristischen Modellen, die es ermöglichen, Menschenrechtsverletzungen überall zur Anklage zu bringen, unabhängig vom Ort des Verbrechens oder der Staatsangehörigkeit von Tätern oder Opfern) macht es immer schwieriger, Amtsträger vor allgemeinen straf- oder zivilrechtlichen Ansprüchen zu schützen, und last but not least ist auch die buchstäbliche Kontamination mit Seuchen oder anderen Krankheiten in der global vernetzten Welt viel akuter als jemals zuvor (so dass es kein Wunder ist, dass man auf den Straßen internationaler Städte immer häufiger und immer mehr Menschen mit Atemmasken und Schutz-Handschuhen sieht).Footnote 7

Während also der Nexus von Kommunität und Immunität ein konstitutiver ist – keine Gemeinschaft ohne Immunisierung und umgekehrt – ist es doch eine genuin geschichtlich-politische Frage, wie eine konkrete Gemeinschaft diesen Zusammenhang genau ausagiert. Erst in der Moderne, argumentiert Esposito, ist der Begriff der Immunität zu einem zentralen politischen Paradigma geworden, dem andere Gemeinschaftsfunktionen radikal untergeordnet werden. Hierfür bietet er eine Reihe von Erklärungen an, deren wichtigste zum einen die privative Struktur des römischen Rechts, zum anderen die Entstehung der Biopolitik ist.Footnote 8 Die gesellschaftliche Hintergrundentwicklung, die beiden Prozessen zugrunde liegt und sie beschleunigt, scheint Esposito dabei in der Durchsetzung des Kapitalismus zu sehen. Dem Kapitalismus korrespondiert eine spezifische Subjektivität, der die unbedingte Dankbarkeit, zu welcher die kommunitäre Gabe auffordert, untragbar geworden ist und dessen wichtigste psychische Stütze darum die Angst vor Ansteckung mit Gemeinschaftlichkeit ist:

Die Individuen werden erst dann wirklich modern […], wenn sie präventiv von der ‚Schuld‘ befreit sind, die sie aneinander bindet. Wenn sie freigestellt, entlastet, entbunden sind von jenem Kontakt, der ihre Identität bedroht, indem er sie dem möglichen Konflikt mit ihrem Nächsten aussetzt. Der Ansteckung der Relation. (Esposito 2004a, S. 26.)

Weil der moderne Mensch (der, könnte man vielleicht sagen, homo oeconomicus) jede Leistung an einen Preis knüpft, sind ihm die Schulden, die er den Anderen und der Gemeinschaft gegenüber durch die von ihnen empfangenen Gaben hat, und der Konflikt, den die Relation zu den Anderen unweigerlich mit sich bringt, eine Zumutung geworden. Das immunitäre Paradigma erlaubt es den Einzelnen, sich von dieser Bürde der Gemeinschaft zu entlasten, indem es das primordiale munus suspendiert. So kann entstehen, was Marx als Aggregat isolierter Monaden beschrieben hat: eine Gesellschaft, die paradoxerweise gerade durch die Absonderung des Menschen vom Menschen und vom Gemeinwesen zusammengehalten wird und die daher eminent antigesellschaftlich ist.Footnote 9 Esposito formuliert das so: „Sie leben im und durch den Verzicht aufs Zusammenleben.“Footnote 10

Das zentrale Vehikel dieser immunitären Dispensierung von der Bürde der Gemeinschaft ist das römische Recht, das Esposito mit Bezug auf unterschiedliche Theoretikerinnen und Theoretiker, vor allem Simone Weil, René Girard und Niklas Luhmann, als strukturell privativ beschreibt. Das Recht erlaubt es den Einzelnen, sich vom Rechtfertigungs- und Reziprozitätsdruck seitens der Anderen zu befreien und sich – im Rahmen des Legalen – auf die Verfolgung rein egoistischer Willkürinteressen zu beschränken. Daher ist das (römische) Recht nicht bloß zufällig, sondern seiner Struktur nach privativ: Die Rechtssubjektivität bildet einen Schutzwall, hinter der die Menschen von den Anforderungen, Meinungen oder Interessen der Gemeinschaft oder der anderen Gemeinschaftsmitglieder unbeeindruckt ihre eigenen Präferenzen ausbilden und umsetzen können, ohne dafür eine Begründung angeben zu müssen. Der Begriff der Person, der seit Rom einen der zentralen Grundbegriffe des Rechts, aber auch der Philosophie und der Theologie bildet, leitet sich etymologisch vom Begriff der Maske ab; aus der monadischen Struktur des Rechts folgt, dass die einzelnen Gesellschaftsmitglieder einander als opake, undurchsichtige Akteure mit vordergründig rein strategischen Zielsetzungen begegnen.Footnote 11 Recht schützt damit vor etwas, das die Gemeinschaft wesentlich konstituiert, das gemeinsame munus. Dasjenige, das als bedrohlich wahrgenommen wird, ist die Relation, die Kontamination der eigenen Identität durch die Alterität der Anderen. Hier ist bereits der ironische Charakter der Rechtsstruktur angedeutet: Das Recht ermöglicht ein Zusammenleben zwischen den Menschen durch Ausschluss eines potentiell destruktiven Konflikts, aber auf eine selbst antisoziale Weise. Dies wird noch dadurch verschärft, dass das Recht seinem Ursprung nach ungleich und hierarchisch ist; es ist als Eigenrecht originär Vorrecht: Es immunisiert, indem es eingrenzt und Andere von etwas ausgrenzt. So konnte im alten Rom nicht jeder eine Rechtsperson werden, Rechtsperson zu sein ist immer ein Privileg, das beispielsweise Sklaven, Frauen und Kinder ausschließt, die auf diese Weise den Sachen (res) angenähert werden.

Obwohl die Immunisierungslogik also schon seit der Römischen Antike Teil des Rechts war, wird dieser Aspekt in der Moderne besonders akut. Dies kann man sich vielleicht so erklären, dass die isolierenden Effekte des Rechts unter den naturwüchsigen und familialen Gemeinschaftsformen des Feudalismus noch einigermaßen eingehegt waren, sich aber durch die ungeheuren Desintegrationstendenzen des aufkommenden Kapitalismus ungehindert Bahn brechen konnten. In diesem Zusammenhang kann auch der zweite wichtige Aspekt der modernen Immunitätslogik verstanden werden. Denn der entstehende Kapitalismus geht nicht nur mit einer bestimmten (bürgerlichen) Rechtsstruktur einher, sondern mit einer spezifischen, nicht mehr rein repressiven, sondern produktiven Form der gesellschaftlichen Machtausübung. Esposito übernimmt Michel Foucaults Analysen zur Biopolitik, wonach sich im 18. und 19. Jahrhundert in Europa ein neuer Macht-Typus herausgebildet hat, in dessen Mittelpunkt das Leben der Bevölkerung steht. Aufgrund neuer wissenschaftlicher, technologischer und politischer Möglichkeiten wird auch die Biologie immer mehr zum Zielobjekt „eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen“Footnote 12 mit dem Ziel etwa der Steigerung des Gesundheitsniveaus und anderer vitaler Funktionen. Die Sexualität rückt für Foucault so in das Zentrum des politischen Kalküls, um auf diese Weise Zugang zu den produktiven und regenerativen Prozessen der Bevölkerung zu erlangen. Zwar sind der Tod und das Töten weiterhin Teil des Maßnahmenregisters der politischen Akteure, aber nur dann, wenn sie auf einer höheren Stufe der Erhaltung des Lebens dienen.Footnote 13 So ist Foucaults berühmte Formel zu verstehen, wonach die ältere Macht des Souveräns „sterben zu machen oder leben zu lassen“ in der Biomacht abgelöst wurde „von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßenFootnote 14. Für Esposito ist die Entstehung der Biopolitik daher auf spezifische Weise mit der Ausprägung des immunitären Paradigmas verbunden: Weil die Biopolitik nicht mehr zentral eine Politik über den Tod, sondern eine über das Leben ist, sieht sie die Infektion des Lebens als ihre größte Gefahr. Nicht die Souveränitätsmacht des Mittelalters, sondern erst die moderne Biomacht reguliert das Leben, um es zu beschützen. Der juridische, der medizinische und der politische Immunisierungsdiskurs kreuzen sich so zu einem fundierenden neuen Paradigma des gesellschaftlich Imaginären.

2 Schurke, der ich bin. Die Ironie der Pharmazie

Esposito gibt der These von der biopolitischen Verfasstheit der Moderne eine andere Wendung als seine beiden prominenteren italienischen Kollegen, Antonio Negri und Giorgio Agamben. Während Negri eher die produktivenFootnote 15, Agamben eher die destruktiven TendenzenFootnote 16 der Einschreibung des Lebens in die Politik betont, versucht Esposito den Umschlag vom Schutz zur Negation des Lebens mittels des Konzepts des pharmakon zu verstehen. Denn die Pointe von Espositos Position ist, dass die immunitäre Prozedur das Leben auf eine ganz bestimmte Weise schützt, nämlich nicht durch eine reinhaltende Hygiene oder den prophylaktischen oder reaktiven Ausschluss des Gefährlichen, sondern durch seine neutralisierende Hereinnahme in den Gemeinschaftskörper. Die Immunisierung der Gemeinschaft erfolgt pharmakologisch, wobei das pharmakon (wie etwa bei einer Impfung) die Bedrohung nachahmt oder vertritt.Footnote 17 Die homöopathische Weisheit, wonach körperliche Leiden nicht mit ihrem Gegenteil – etwa Hitze durch Kälte und umgekehrt – sondern vielmehr Gleiches mit Gleichem zu kurieren sei, hat bereits in der frühen Neuzeit Paracelsus formuliert: Gegen ein bestimmtes Gift hilft, nur in anderen, erträglichen Dosierungen, das Gift selbst. Für Esposito geht in dieser Zeit das ärztliche Wissen mit der politischen Theorie eine spezifische Verbindung ein, so dass die pharmakologisch-homöopathische Rationalität zum Prinzip der Immunisierung wird.Footnote 18 Dem immunitären Mechanismus ist somit eine Opferlogik zu eigen, er schützt das Leben, indem er (etwas vom) Leben opfert. Am deutlichsten lässt sich die pharmakologische Dimension der immunisierenden Prozedur am Recht aufzeigen: Das Recht ersetzt und unterdrückt – ersetzt, indem es unterdrückt – die vor-aufklärerischen Opferrituale der Rache durch die rationale Form der Vergeltung. Doch dabei bekämpft es die Gewalt selbst durch Gewalt, es nimmt in das Gemeinwesen herein, was es gerade herausdrängen will, es schließt durch Einschluss aus.Footnote 19 Durch diese Figur des einschließenden Ausschlusses gelingt es Esposito, die jeweiligen Blickwinkel von Agamben und Negri schlüssig miteinander zu verbinden; Foucaults Biopolitik-Begriff wäre demzufolge so zu verstehen, dass sich die produktive, lebenssteigernde und -fördernde Dimension der Biopolitik nicht einfach durch unmittelbare Anreize oder die Beseitigung lebenshemmender Blockaden entfaltet, sondern eben durch die Hereinnahme ihrer irreduziblen thanatopolitischen Kehrseite: die paradoxe Bewegung eines Schutzes des Lebens durch Negation des Lebens.Footnote 20

Esposito schließt mit dieser Gedankenfigur an die späteren Arbeiten Jacques Derridas an. Derrida benennt den suizidalen oder auto-destruktiven Aspekt der Immunität mit dem Begriff der „Auto-Immunität“. Emblematisch ist für ihn das so genannte „algerische Ereignis“ von 1992, das er in Schurken schildert: Aus Angst vor dem Wahlsieg einer islamischen anti-demokratischen Partei werden die demokratischen Wahlen von den Demokraten selbst unterbrochen.Footnote 21 Weitere Beispiele sind im politischen Tagesgeschäft natürlich schnell zu finden, vor allem mit der Reaktion der USA auf die Anschläge vom 11. Sept. 2001 hat man da leichtes Spiel: Im Zuge des war on terror werden genau die demokratischen Grundrechte ausgehebelt, die der Staat zu verteidigen beansprucht; mehr noch: für Derrida sind bereits die Anschläge selbst – auf amerikanischem homeland, mittels amerikanischer Flugzeuge durchgeführt und gegen amerikanische Gebäude gerichtet (im Zeitalter der tele-technologischen Vernunft ist es nicht möglich, seine Feinde von den eigenen Ressourcen vollständig auszuschließen) – Ausdruck einer solchen suizidalen Auto-Immunität.Footnote 22 (Es hat sich eingebürgert, die Beispiele für solche Dynamiken aus der Innen- und Außenpolitik der USA zu beziehen. Angesichts der Dramatik des Anti-Terrors-Kampfs ist dies naheliegend, wirkt aber auch schnell klischeehaft. Dabei lassen sich auch in der deutschen Politik zahlreiche Beispiele finden; sie reichen von allgemeinen Strukturmerkmalen jedes Rechtsstaates, wie etwa die Tatsache, dass ausgerechnet die Polizei als Gesetzeshüter selbst zu extralegalen Verselbständigungen und zu Gesetzesbrüchen neigt, oder dass Verbrecher/innen regelmäßig gewalttätiger und verbrecherischer aus dem Gefängnis herauskommen als sie reingegangen sind, bis hin zu tagesaktuellen Beispielen wie die Diskussionen um ein NPD-Verbotsverfahren, bei dem sich herausstellt, dass der Verfassungsschutz die Verfassung so sehr schützt, dass es unmöglich geworden ist, eine verfassungsfeindliche Partei zu verbieten – weil deren Funktionäre selbst vom Staat bezahlt werden.) Der Titel Schurken spielt an auf die Rhetorik des damaligen US-Präsidenten Bush, der einige unliebsame Staaten als „Schurkenstaaten“ etikettierte. Effekt solcher rhetorischer Strategien – die ja alle möglichen Diskurse über Fragen der ‚Sicherheit‘Footnote 23 orchestrieren – ist die Vorstellung von einer klaren Trennung zwischen solchen Staaten, die auf vorgeblich universellen Werten wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie aufgebaut sind, und eben den Schurkenstaaten, denen diese normative Auszeichnung fehlt. Derridas Einsatz ist die Frage, welche Bedingungen jemanden ermächtigen, eine solche Diagnose selbst dann erfolgreich hegemoniefähig zu machen, wenn die als Schurkenstaaten identifizierten Staaten keine vorherige Verletzung etwa internationalen Rechts begangen haben.

Aber wer hat eigentlich das Recht, Recht zu geben oder das Recht zu nehmen, sich das Recht zu geben, zuzuschreiben und in souveräner Weise Recht zu setzen? Es souverän aufzuheben? (Derrida 2006, S. 7.)

Das Recht, sich das Recht zu geben, kann nicht selbst rechtsförmig sein, es hat seinen Grund in einer außer- oder vorrechtlichen Gewalt. Der Akt, das Recht sich selbst zuzuschreiben und die Schurkenstaaten aus dem Bereich legitimer Herrschaft performativ auszuschließen, ist selbst lediglich ermöglicht durch Indienstnahme eben jener nicht rechtsförmig strukturierten Gewalt, derer sich zu bedienen den Schurkenstaaten vorgeworfen wird:

Es gibt also nur Schurkenstaaten, in potentia oder in actu. Der Staat ist schurkisch. Es gibt immer mehr Schurkenstaaten, als man denkt. (Derrida 2006, S. 144.)

Die Dekonstruktion zielt hier also auf die Prekarisierung des Gegensatzes von Freund und Feind, genauer gesagt: auf den Skandal ihrer Nicht-Opposition.

Aus Derridas und Espositos Überlegungen zur Rationalität der Immunisierung lassen sich zwei wichtige Schlussfolgerungen ziehen. Erstens ist die Logik der Immunisierung ironisch: Ausgerechnet die Mittel, welche die Gemeinschaft absichern sollten, werden selbst zu einer Bedrohung. Auf diese Weise wird immer dasjenige, was geschützt werden soll, an sein Gegenteil gebunden: die Kommunität an die Immunität, die Gewaltfreiheit an die Gewalt, die Medizin an die Krankheit, die Demokratie an die Despotie, das Leben an den Tod. Im römisch-katholischen Denken, das ja mit der Entwicklung und Verbreitung des römischen Rechts eng verknüpft ist, entspricht dies der Idee des katéchon, eines Aufhalters, der sowohl die drohende Apokalypse, so aber eben auch die messianische Zeit verhindert. Zweitens ist sie jedoch auch auto-destruktiv: Die Gewalt, die nur in homöopathischer Dosierung die Zerstörung oder das Zerfließen der Gemeinschaft aufhalten sollte, neigt zu einer Verselbständigung und droht so, zur gesellschaftlichen Dominante zu werden. Die Analogie ist hier die Überreaktion in der Auto-Immunerkrankung, bei der die Antikörper den eigenen Körper anzugreifen beginnen. Der extremste Kulminationspunkt dieser Dynamik, bei der der Schutz selbst destruktiv wird, ist für Esposito der Nationalsozialismus, dessen gesamte Rhetorik um den Schutz des eigenen „Volkes“ zentriert war und der aus dieser völkischen Logik der Homogenität heraus die Juden als feindliche Elemente identifizierte (und sie wie „Ungeziefer“ vernichtete) und so das Gewebe der Gemeinschaft vollständig zerstörte; in dem sich selbst noch die Ärzte in Mörder verwandelten.Footnote 24 Dieser „Abwehr-Exzess“Footnote 25 ist aber eben der Struktur der Immunisierung selbst irreduzibel eingeschrieben, er entspricht ihrer eigenen Rationalität: „Indem es gegen alles vorgeht, was es ‚sieht‘, ist es natürlich dazu getrieben, zuallererst gegen sich selbst vorzugehen.“Footnote 26 Politisch heißt das, dass der Wunsch nach einer nicht-katastrophalen biopolitischen Normalität oder nach einem rechtlichen status quo ante (zurück zu den Rechtskategorien der bürgerlichen Gesellschaft vor dem Nationalsozialismus, „als wäre nichts gewesen“) illusorisch ist, da der fundamentalen politischen Rationalität des Abendlandes eine exzessive Disposition (die Agamben mit Schmitt als „Ausnahmezustand“ versteht) grundsätzlich latent ist. Und in der Tat, so legen sowohl Derrida als auch Esposito nahe, erleben wir heute eine verheerende Krise der (Auto-) Immunität, deren Konsequenzen für die Gemeinschaft ruinös und für die Einzelnen potentiell letal sind.

3 Eine Kur für Carol. Gibt es eine nicht-auto-destruktive kommunitäre Immunität?

Es drängt sich angesichts des strukturellen (oder „sozial-ontologischen“) Status solcher Beschreibungen freilich das Problem möglicher Alternativen und konkreter politischer Perspektiven auf. Espositos zentrale Frage lautet dementsprechend: „Wie die Immunisierung des Lebens angreifen, ohne sie in ein Werk des Todes zu übersetzen?“Footnote 27 Und an anderer Stelle formuliert er:

Ist an irgendeinem Punkt des dialektischen Zirkels von Schutz und Negation des Lebens eine Unterbrechung – oder wenigstens eine Problematisierung – zu denken? Lässt das Leben sich in einer anderen Form als der des negativen Schutzes bewahren? (Esposito 2004b, S. 26.)

Wenn es, wie Esposito ebenso wie Derrida ja behauptet hatten, eine Gemeinschaft ohne Immunität, ohne Sicherheit und Schutz, nicht geben kann (und auch nicht geben sollte), da der Nexus von Kommunität und Immunität ein struktureller ist, kann die Antwort auf diese Fragen freilich nicht unmittelbar positiv ausfallen. Wir können aus diesem Zusammenhang nicht einfach herausspringen, wir können unsere Angst vor Ansteckung nicht einfach ablegen oder uns entscheiden, Fragen der Sicherheit einfach nicht so ernst zu nehmenFootnote 28 – denn tatsächlich wäre ein Leben ganz ohne Immunität unlebbar. Esposito geht es daher nicht um die Auflösung dieses fundamentalen Zusammenhangs, sondern zunächst „um die Vertiefung seines inneren Widerspruchs“Footnote 29, das heißt um eine philosophisch-theoretische Durcharbeitung eingespielter Routinen des Politischen, die zu einer gesteigerten Sensibilität für die im Immunisierungsparadigma implementierten Gewaltverhältnisse beitragen könnte. Das heißt aber keineswegs, dass eine solche Reflexion praktisch folgenlos bleiben müsste, denn es gibt ja, wie Esposito in seinen zeitdiagnostischen Analysen deutlich gemacht hat, eminente Unterschiede in der Art und Weise, wie konkrete Gemeinschaften ihre Immunisierungseffekte organisieren.

In Derridas erster Auseinandersetzung mit dem Begriff der Auto-Immunität ist dieser noch von einer stärkeren Ambivalenz geprägt, als dies in seinen letzten, am deutlichsten „politischen“ Schriften der Fall ist (einer Ambivalenz, die in der Rezeption häufig nicht ausreichend berücksichtigt wird). In seinem Text Glaube und Wissen, einem Beitrag zu dem Gespräch, das er 1994 auf Capri mit Gianni Vattimo und Anderen über die Religion geführt hat, unterscheidet er nämlich noch prägnanter die Auto-Immunität von der Immunität. Die Religion, so Derrida, immunisiert sich, doch, und das ist hier entscheidend: sie immunisiert sich auch gegen ihre eigene Immunisierung.

Sie sondert ihr eigenes Gegengift ab, aber auch ihre eigene auto-immunisierende Kraft. Wir befinden uns in einem Bereich, in dem jeder Selbstschutz des Gesunden und Geschützten, des Heil(ig)en und Sakralen (holy) sich gegen den eigenen Schutz schützen muss, gegen die eigene Polizei, gegen die eigene Abwehrmacht, gegen das Eigene schlechthin, will sagen: gegen die eigene Immunität. (Derrida 2001, S. 71.)

Wie Esposito, so bezieht auch Derrida seine Metaphorik hier aus dem Bereich der Biologie. Wie auch der biologische Organismus Mittel besitzt, um seine eigenen Antikörper zu neutralisieren – die also eben nicht gegen die Krankheit selbst, sondern gegen die eigenen Abwehrreaktionen gerichtet sind – so entwickelt auch die Gemeinschaft (in diesem Fall die Gemeinschaft der Gläubigen) bestimmte Prozesse, um die eigenen Immunisierungskräfte zu sistieren.

Der Prozess der Auto-Immunisierung […] besteht bekanntlich darin, dass ein lebender Organismus gegen seinen eigenen Selbstschutz dadurch sich schützt, dass er seine eigenen immunitären Abwehrkräfte zerstört. (Derrida 2001, S. 72.)

Autoimmunität, so betont Derrida später immer deutlicher, hat damit grundsätzlich eine selbstmörderische Tendenz, da sie die gesellschaftlichen Schutzmechanismen hemmt oder vernichtet (daher spricht Derrida in Bezug auf die Auto-Immunisierung auch vom „Todestrieb“). Liest man seine frühen Bemerkungen aber im Lichte Espositos, so wird deutlich, dass genau hierin aber auch eine Chance liegt. Auto-Immunität ließe sich dann so verstehen, dass die Demokratie sich gegen ihren eigenen Schutz schützen muss, dass sie Kräfte mobilisieren muss, um die ihr eigenen Immunitätsanteile zu neutralisieren. Immunität ist für Derrida ein Gegenbegriff zu dem, was er das „Messianische“ oder die „Gerechtigkeit“ nennt; gerecht kann nur sein, wer bereit ist, sich dem Anderen in seiner Singularität und damit in seiner immer bedrohlichen Alterität zu öffnen, sie zuzulassen und ihr Rechnung zu tragen. Die Zerstörung der Immunität hat daher nicht nur negative Implikationen – als Bedrohung oder Zerstörung des Staates oder ganz konkret von Menschenleben –, sondern garantiert zugleich die Möglichkeit der Gerechtigkeit:

Diese gegen sich selbst sich wendende Bezeugung hält die auto-immune Gemeinschaft am Leben, will sagen: auf ein anderes hin offen, das mehr ist als sie selbst – Öffnung zum anderen, zur Zukunft, zum Tod, zur Freiheit, zum Kommen oder zur Liebe des anderen, zum Raum und zur Zeit einer geistererzeugenden Messianizität jenseits allen Messianismus. (Derrida 2001, S. 85.)

Keine Kommunität ohne Immunität, keine Immunität ohne Auto-Immunität – das heißt aber eben auch, dass die Immunität selbst einem höheren Gesetz unterworfen ist, das die Möglichkeit der Gemeinschaft auch jenseits der immunitären Prozesse sichert. Nur weil es die Möglichkeit der Ansteckung und des „radikal Bösen“ gibt, gibt es Freiheit und also Gemeinschaft. Darum wird die Immunität das gesellschaftliche Gewebe nie vollständig aufzehren können.Footnote 30

Esposito gibt dieser zunächst nur systematisch anmutenden Überlegung eine stärker politisch-praktische Pointe. Eine Art Gegenbild zum immunitären Phantasma entdeckt er am Ende des zweiten Teils seiner Trilogie, Immunitas, in der Schwangerschaft. Warum wird der Fötus nicht vom Körper der Mutter als Fremdes bekämpft und abgestoßen (oder der Körper der Mutter vom Immunsystem des Embryos)? Die Antwortet liegt darin, dass der Körper der Mutter bestimmte Hormone entwickelt, welche die eigenen Antikörper neutralisieren:

Kurz, während er gegen das andere immun macht, immunisiert er gegen sich selbst. Er immunisiert sich gegen ein Zuviel an Immunisierung. (Esposito 2004b, S. 239.)

Diese Idee einer Immunisierung gegen die eigene Immunisierung besitzt Ähnlichkeit zu Derridas Konzept der Auto-Immunisierung. Entscheidend ist hier – neben der großen symbolischen Bedeutung, die der Geburt als Neuanfang zukommtFootnote 31 – dass dieser Auto-Immunisierungsprozess nur dann initiiert wird, wenn der Fötus ausreichend genetisch fremd ist (weil er auch die Gene des Vaters enthält). Es ist gerade die Andersheit, nicht die Gleichheit des Embryos, die dafür sorgt, dass er im Körper der Mutter nicht abgestoßen wird. Genau dieser Punkt – dass das Eigene nicht erneuerungs-, nicht erhaltungs- und also nicht lebensfähig ist ohne das Andere und das Fremde – ist es, den Esposito zum Angelpunkt seiner Vorstellung von einer „affirmativen Biopolitik“ macht. Er nimmt so selbst den biologischen Diskurs sowohl als Vorbild, als auch als Einsatzgebiet des Politischen, wenn er mit Donna HarawayFootnote 32 darauf insistiert, dass der Körper ein „operatives Konstrukt [ist], das auf einen ständigen Austausch mit der es umgebenden Umwelt hin geöffnet ist“Footnote 33 und das durch diesen Austausch überhaupt nur lebensfähig ist. Dies ist nicht einfach ein anthropologisches Faktum, sondern wird im Zeitalter von Bionik, von Gen- und Cybertechnologien immer virulenter. Eigenes und Fremdes, Organisches und Technisches, Körper und Implantat, Glied und Prothese, Original und Supplement, das Intimste und das Entfernteste, mein eigener Kopf und die ganze Welt werden immer mehr ununterscheidbar. Das heißt, nicht nur für die aggressive Schließung bietet die Gegenwart neue Potentiale, sondern auch für eine kommunitäre Öffnung. Diese Öffnung ist selbst nicht jenseits der Immunität verortet, gibt ihr aber eine radikal andere Wendung: Ich wende mich dem Anderen zu, um mich vor mir selbst zu schützen.Footnote 34

Esposito will über eine Neukonzeption der persönlichen Identität, die er nicht als geschlossen und hermetisch, sondern als offen und permeabel denkt, das Verhältnis zwischen Immunität und Kommunität dynamisieren. Er bietet verschiedene Chiffren an, um eine solche weniger destruktive oder aggressive Immunisierung zu verstehen. So liebäugelt er etwa mit den vitalistischen Philosophien Bergsons und Deleuze’, wenn er davon spricht, an die Stelle einer „Politik über das Leben“ müsse eine „Politik des Lebens“, eine „affirmative Biopolitik“ tretenFootnote 35; und die Subjektivierung durch das abstrakte Personenrecht will er mit einer durch Simone Weil inspirierten „Philosophie des Unpersönlichen“ kontern.Footnote 36 Der entscheidende Einsatzpunkt ist für ihn jedoch die Reformulierung der politischen Semantik, die nicht allein als theoretische Reflexion, sondern selbst als praktische Intervention zu verstehen ist; denn durch eine solche Neuinterpretation erscheinen die Grundkonstanten des Politischen ebenso wie aktuelle Diskussionen in einem ganz anderen Licht, so dass eingefahrene diskursive Konstellationen eingeklammert und neue Optionen denkbar werden. So lassen sich etwa aus Espositos Kritik des Immunitätsparadigmas verschiedene konkrete Konsequenzen ziehen. Zunächst einmal müsste es darum gehen, Verletzbarkeit und Ansteckbarkeit als Teil unserer conditio humana anzuerkennen.Footnote 37 „Sicherheit“ kann dann nicht mehr als die individuelle Sicherheit von Leib oder Eigentum verstanden werden, sondern im Sinne gerade der Suspendierung staatlicher Protektionseffekte als die Sicherung intersubjektiver Beziehungen und der institutionellen Bedingungen zwischenmenschlicher Kommunikationen.Footnote 38 Diese erste Konsequenz ist daher die radikaldemokratische: Demokratische Entscheidungen gibt es nur als generell von den anderen affizierte Entscheidungen; demokratische Verfahren sind daher solche Verfahren, die von dem konfliktuellen Wettstreit leben und in denen der fremde Standpunkt daher zwar als gegnerischer, nicht aber als grundsätzlich feindlicher verstanden werden kann. Die Proliferation realer gemeinsamer Beratungs- und Entscheidungsmöglichkeiten schafft so die Voraussetzungen für eine Sozialität, die ihre eigene Stabilität nicht aus Identität, sondern aus der Vielheit bezieht. Der „Affekt der radikalen Demokratie“ ist daher das Vertrauen.Footnote 39 Mit diesem Punkt hängt die zweite Konsequenz eng zusammen, die man als die multitudinäre bezeichnen könnte. Mit Multitude ist eine spinozistische Denkfigur bezeichnet, die als politisches Subjekt nicht eine geschlossene, homogene Entität zugrunde legt, sondern ein Ensemble pluraler Singularitäten.Footnote 40 Weil diese Pluralität irreduzibel ist, lässt sich die Multitude nicht in einem Staat repräsentieren, weshalb ihr eine Distanz zu den etablierten politischen Apparaten inhärent ist. Dieser Begriff umspannt damit sowohl eine demokratietheoretische als auch eine strategische Dimension, er ist ein Gegenbegriff sowohl zum Volk, als auch zur „Partei“ oder anderen homogenisierenden Stratagemen innerhalb gesellschaftstranformativer Bewegungen. Scheint dies praktisch zunächst nicht viel mehr als eine Mahnung zu Offenheit und Pluralismus, also gegen Dogmatismus und Orthodoxie in den eigenen Reihen zu sein und für ein Verständnis von interner Debatte, das Kritik und Konflikt nicht als Gefahr, sondern als Bereicherung sieht, so kann er doch eine ganz handfeste institutionelle Bedeutung gewinnen, wie die sehr breit gefächerten Experimente der globalisierungskritischen Linken mit neuen Formen der Demokratie (Deliberation, Entscheidungsfindung und -umsetzung) zeigen.Footnote 41 Die dritte und vielleicht konkreteste Konsequenz ist die entgrenzende. Eines der Konzepte, die Derrida in seinen späteren politischen Schriften als Konsequenz seiner Kritik abendländischer Souveränitätsvorstellungen ins Spiel bringt, ist das der unbedingten Gastfreundschaft. Gastfreundschaft impliziert Nicht-Beherrschung und ist somit etwas Anderes als eine Aufenthaltserlaubnis oder Duldung; wer die Gastfreundschaft an Bedingungen knüpft, ist nicht gastfreundlich, sondern will den Gast nur dominieren oder betreibt seine Inklusion zum Zwecke der Exklusion Anderer. Exil, Migration und Nomadentum beinhalten die Möglichkeit der Veränderung der gegenseitigen Wahrnehmung und enthalten somit das Potential, sich im Spiegel des Anderen neu zu erfinden. Für ein kosmopolitisches Verständnis der europäischen Idee plädierend, schlägt Derrida vor, europäische Städte als Fluchtstädte (Fluchtstätten) zu verstehen, die Flüchtlingen (aber auch allen anderen Schutzbedürftigen, also: allen) ein sicheres Asyl bieten sollen.Footnote 42 Diese Idee der unbedingten Gastfreundschaft ließe sich politisch noch beträchtlich weiter fassen; das Andere und Fremde nicht zu exorzieren, sondern als Bedingung der eigenen Subjektivität anzuerkennen, würde eine beträchtliche und ganz buchstäbliche Öffnung zu beinhalten haben, die sowohl die Durchlässigkeit von Grenzen, als auch die radikale Ausweitung von Rechten und demokratischen Partizipationsmöglichkeiten für Migrant/innen und zuallererst die weltweite Abschaffung der verräumlichten Ausnahmezustände in Abschiebegefängnissen und Lagern umfassen müsste.

Wenn aber die Frage der Immunität nicht nur eine politische Frage ist, sondern auch eine der Subjektivität (bzw. als politische auch eine der Subjektivität), dann müssen mögliche Gegenstrategien auch auf diesem Terrain ansetzen. Todd Haynes’ Film endet damit, dass die Protagonistin Carol in ihrem Iglu vor dem Spiegel steht und zu sich selbst „I love you“ sagt. In dieser Geste klingt eine (potentiell feministische) Strategie des Empowerment und der Selbst-Akzeptanz nur an oder nach: Aus dem Munde Carols klingt dieser Satz blass, hohl, wie eine Phrase oder ein Klischee, als wäre die Selbstliebe allein der narzisstische Endpunkt ihrer pathologischen Angst vor Ansteckung durch etwas, das nicht sie selbst ist (denn sich selbst zu lieben ist eben nur dann erlösend, wenn man an sich etwas liebt, mit dem man nicht ohnehin schon bekannt ist, das Fremde oder Unheimliche in sich). Eine Kur für Carol würde dann darauf abzielen, dass sie lernt, sich wieder auf das Risiko der Relation einlassen und von der Heterogenität des Anderen affizieren lassen zu können – eine Behandlung, der es nicht darum ginge, die Wunde zu heilen oder den Virus abzutöten, sondern darum, Infektion und Kontamination als Teile der eigenen Existenzbedingungen zu bejahen. Freilich wäre es für Carol keine Lösung, statt sich selbst wieder ihren genauso sterilen Ehemann zu lieben. Darum ist Carols Befreiung gerade keine Frage einer individuellen Therapie. Die Idee, allgemeine Bedingungen für die Möglichkeit zu schaffen, sich ohne Angst vom Anderen anstecken zu lassen – „eine Freiheit ohne Autonomie, eine Heteronomie ohne Knechtschaft“ – ist das Versprechen einer gewaltlosen Allianz von Singularität und Universalität, das nur gesellschaftlich einzulösen ist.