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Bilder halten uns gefangen – und andere draußen

Ideen zu einer philosophischen Kritik der politischen Sprache

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Der Begriff des Flüchtlings
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Zusammenfassung

Immer wieder und ganz selbstverständlich wird in politischen, rechtlichen, öffentlichen, aber auch philosophischen Diskursen bei der Begründung von Hilfspflichten gegenüber Geflüchteten auf bestimmte Bilder und Analogien zurückgegriffen. So werden beispielsweise Nationalstaaten als wohleingerichtete Häuser betrachtet, mit Booten verglichen oder mit Rettungsschwimmern an einem See usw. Diese Bilder, teilweise Szenarien werden häufig in Analogien verwendet, die es erlauben sollen, befremdlich erscheinende Erfahrungen mit Vertrautem zu verbinden. Sie dienen somit der Orientierung im Entscheiden, Handeln und auch im Raum der Gründe. Werden diese Sprachbilder im weiten Sinne jedoch nicht genau reflektiert, dann verbinden sich gerade mit diesem erschließenden Potential auch Gefahren. Allzu leicht nämlich werden Denk- und Argumentationsschemata tradiert, die nicht nur an sich problematisch sind, sondern auch das möglicherweise Neuartige einer – unserer gegenwärtigen – historischen Situation verdecken. Deshalb scheint es dringlich, immer wieder zu reflektieren und zu prüfen, welche Bilder und Analogien im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs verbreitet sind, wie genau sie funktionieren, was sie zeigen sollen oder können und vor allem, was sie ausschließen. Genau dies zu analysieren, ist genuine Aufgabe einer philosophischen Kritik. In diesem Beitrag werden im Anschluss an Wittgenstein und Arendt Grundzüge einer „philosophischen Sprachbildkritik“ herausgearbeitet und auf dieser Grundlage am Beispiel dreier prominenter Analogien gezeigt, welche - meist latent wirksamen - komplexen Strukturen aus Bedeutungszuschreibungen, begrifflichen Unterscheidungen, Normierungen, Wertungen etc. hier am Wirken sind und was ihre Konsequenzen sein können.

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Notes

  1. 1.

    Harbarth konnte sich anregen lassen durch Konrad Ott (2016). Allerdings spielt diese Unterscheidung in politischen Diskursen bereits seit dem 17. Jahrhundert insofern eine Rolle, als von der Staatsräson gefordert wird, Gerechtigkeit den Werten ‚Sicherheit‘, ‚Frieden‘, später ‚Wohlstand‘ unterzuordnen, d. h. Verantwortung den Staatsbürgern und ihrem Lebensstandard gegenüber wichtiger zu nehmen als den universellen Wert der Gerechtigkeit (vgl. Arendt 2012, S. 327). In der Migrationsethik wird die Position ‚Sozialer Friede statt Gerechtigkeit‘ z. B. vertreten von Fabian Wendt (2016).

  2. 2.

    In diesem Sinne schreibt Kant in Zum ewigen Frieden im Anhang („Über die Misshelligkeit zwischen der Moral und der Politik“): „Die wahre Politik kann also keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, und ob zwar Politik für sich selbst eine schwere Kunst ist, so ist doch Vereinigung derselben mit der Moral gar keine Kunst; denn diese haut den Knoten entzwei, den jene nicht aufzulösen vermag, sobald beide einander widerstreiten. – Das Recht der Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren, und das Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen, sondern alle Politik muß ihre Knie vor dem erstern beugen, kann aber dafür hoffen, ob zwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird.“ (Kant 1968a, S. 380).

  3. 3.

    Die Zitate entstammen dem Ausschreibungstext zu dem Essaywettbewerb, dessen „Siegeressay“ hier Gegenstand der Kritik ist (Grundmann und Stephan 2016, S. 13). Die Frage, mit der die Initiatoren der Deutschen Gesellschaft für analytische Philosophie zur Einsendung der Essays aufriefen, ist selbst bereits aufschlussreich: „Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“ Dass dahinter die Absicht stand, eine ganz offene Frage zu formulieren, zeigt die entsprechende Erläuterung: Die Beiträger*innen sollten selbst entscheiden, wer mit „Wir“ gemeint ist und welche der üblichen Unterscheidungen (politisch Verfolgte, Kriegs-, Klima-, Armutsflüchtlinge etc.) sie als relevant ansehen (Grundmann und Stephan 2016, S. 7). Diese Optionen verdecken allerdings eine der Frage noch vorausliegende, klare Trennung zwischen helfendem ‚Wir‘ und hilflosem ‚Sie‘.

  4. 4.

    Diese Analogie wird vor allem zur Begründung eines ursprünglichen bzw. prinzipiellen Gemeineigentums bemüht. Sie findet sich gegenwärtig u. a. bei Risse (2012, vgl. Kap. 5 und 6) und bereits seit der frühen Neuzeit etwa bei Grotius (2004), Locke und Kant (insbesondere dritter Definitivartikel in Kant 1968a, S. 357 ff.).

  5. 5.

    Ich folge hier den Darstellungen von Holm Tetens (vgl. Tetens 2004, S. 177; Tetens 2011, S. 498).

  6. 6.

    Hierbei handelt es sich also um Funktionen, die für sprachliche Verständigungsprozesse überhaupt und insofern auch für Begründungsdiskurse (geltungsorientierte Verständigung) fundamental sind. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch generelle Verunglimpfungen bildlicher Rede (besonders Metaphern) als uneigentlich, bloß andeutend etc. kritisieren. Zur Kritik am „Andeutungsparadigma“ und zu den folgenden Funktionen vgl. auch Seel (1990, insbesondere 239, 248 ff.) sowie Konersmann (2007, S. 13 ff.).

  7. 7.

    Folgendes Szenario ruft Nida-Rümelin auf: „Als ich in der Frühe in mein Wohnzimmer komme, um zu frühstücken, muss ich zu meinem Erstaunen feststellen, dass dort schon eine Person sitzt. Die Person ist freundlich, sympathisch, aber auch sehr bestimmt: Sie hat sich, wie sie erzählt, mit einem Dietrich Zutritt zu meiner Wohnung verschafft, sie ist obdachlos und bittet mich nun um Zustimmung, diese Wohnung in Zukunft mit mir zu teilen. Obwohl ich die schwierige Situation des Obdachlosen durchaus nachvollziehen kann und er mir keineswegs unsympathisch ist, bitte ich ihn, meine Wohnung umgehend zu verlassen. Die meisten Leserinnen und Leser werden mir darin zustimmen, dass dies nicht nur mein juridisches, sondern auch mein moralisch begründetes Recht ist.“ (Nida-Rümelin 2017, S. 716).

  8. 8.

    Zitiert wird hier die berühmte Teichanalogie, mit der Peter Singer erstmals 1972 zu begründen versuchte, dass Nothilfen und Spenden seitens der Bürger reicher Industrienationen gegenüber Katastrophenopfern, Hungernden etc. keinesfalls Akte der Wohltätigkeit, sondern Erfüllungen einer moralischen Pflicht sind, von der weder Distanz noch die möglicherweise große Zahl der potentiell Helfenden befreien können (vgl. Singer 1972).

  9. 9.

    Der Autor unterscheidet leider nicht zwischen Besitz und Eigentum: Da die von ihm diskutierten Verpflichtungen allerdings streng genommen nur mit dem Rechtstitel ‚Eigentum‘ verbunden sind, unterstellt die weitere Diskussion, dass mit ‚Besitz‘ hier ‚Eigentum‘ gemeint ist.

  10. 10.

    Hierbei handelt es sich um eine kosmopolitische Idee, die bereits seit der frühen Neuzeit verbreitet war; sie findet sich etwa bei Grotius (2004), Locke und Kant (insbesondere dritter Definitivartikel in Kant 1968a, S. 357 ff.) und wird auch in der jüngeren Politischen Philosophie wieder aufgegriffen (vgl. Risse 2012).

  11. 11.

    Bekannt ist hier vor allem Elisabeth Wehling (vgl. Lakoff und Wehling 2016; Wehling 2017), die gemeinsam mit und im Anschluss an George Lakoff (vgl. Lakoff und Johnson 1980) forscht.

  12. 12.

    Zum Vorwurf, Philosophie habe es mit einer Vielzahl von Scheinproblemen zu tun, die aufgrund ungenauen Sprachgebrauchs entstehen, vgl. auch Carnap (2004). Wittgensteins Kritik geht m. E. weiter: Wenn er von „Luftgebäuden“ und deren Zerstörung spricht (§ 118 der Philosophischen Untersuchungen in Wittgenstein 1984a, S. 301), macht er auf Bilder aufmerksam, die nicht nur in harmlosen philosophischen Elfenbeintürmen ‚im Hintergrund‘ wirken.

  13. 13.

    Hubert Dreyfus und Charles Taylor greifen diesen Hinweis in ihrem jüngsten Buch auf und weisen (besonders in Kap. 1) auf damit verbundene philosophiegeschichtliche „Holzwege“ hin, die teilweise bis in die Gegenwart reichen (Dreyfus und Taylor 2016, S. 11 ff.).

  14. 14.

    Dafür spricht auch folgende Bemerkung aus einem Gespräch: „Diesen Begriff des Bildes habe ich von zwei Seiten geerbt: erstens vom gezeichneten Bild und zweitens von dem Bild des Mathematikers, das schon ein allgemeiner Begriff ist. Denn der Mathematiker spricht ja auch dort von Abbildung, wo der Maler diesen Ausdruck nicht verwenden würde.“ (Wittgenstein 1984b, S. 185) Ich lese das so, dass auch Sprache bildhaft in diesem Sinne sein kann: entweder direkt (gemäldehaft: metaphorisch und figurativ) oder indirekt (modellhaft: schematisch oder formal-strukturell). Beides ist nur reflexiv auf den Gebrauch zugänglich, obgleich ersteres unmittelbar vor Augen zu stehen scheint.

  15. 15.

    Hier ließen sich noch zahlreiche weitere Formen bildlicher Rede differenzieren und ergänzen, z. B. Gleichnis, Parabel, Allegorie, Metonymie, Symbol etc. (vgl. Kohl 2007, S. 73 ff.).

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Breitenstein, P.H. (2020). Bilder halten uns gefangen – und andere draußen. In: Kersting, D., Leuoth, M. (eds) Der Begriff des Flüchtlings. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04974-2_10

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