Zusammenfassung
Seit Mitte der 2000er-Jahre – und damit bereits im Vorfeld des Kulturhauptstadtjahres 2010, das mit dem Slogan „Essen für das Ruhrgebiet“ das gesamte Revier in den Fokus einer nicht nur europäischen Aufmerksamkeit zu rücken suchte – erscheint eine ganze Reihe von literarischen Texten, die mal eher implizit, mal durchaus explizit ganz verschiedene Ruhrgebiets-Räume und -Karten entwerfen und diachrone Entwicklungen häufig dadurch synchronisieren, dass sie diese auf den Raum ‚Ruhrgebiet‘ projizieren. Dabei knüpfen sie zum Teil an die rund um das Kulturhauptstadtjahr geführten Diskussionen an und verarbeiten sie literarisch weiter. Insofern stellen sich die daraus resultierenden literarischen ‚mental maps‘ als „semantische Verdichtung[en]“ dar, „mittels derer sich […] nicht nur Wahrnehmungen, Bilder und Erfahrungen, sondern auch kulturelle Wissensbestände produzieren und organisieren lassen“ (Berking /Löw 2005, 9).
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Notes
- 1.
Handlungsort ist die Trinkhalle auch in Werner Streletz ’ Kiosk kaputt (2008) und in Feridun Zaimoǧlus Ruß (2011).
- 2.
Den Gegenpart zu dieser Re-Territorialisierung bilden in der Ruhrgebietsliteratur (aber nicht nur dort) auch über Goosen hinaus Immobilienmakler und -spekulanten jedweder Art, so bei Werner Streletz in Kiosk kaputt (2008) und Daniel Twardowski in Ewig Gelsenkirchen (2002).
- 3.
Bettina Böttinger hat diesen ‚Oma‘-Effekt ganz gezielt genutzt, als sie in ihrer WDR-Sendung Böttingers Bücher (10.07.2017) Goosen besuchte und zunächst einmal mit dessen Oma bekannt gemacht wurde, die gleichermaßen als ‚Kronzeugin‘ der Karriere des Autors wie auch seiner Verankerung in der Heimat Ruhrgebiet fungierte.
- 4.
Auf eine solche Rezeption als Heimatliteratur ist auch die Cover-Rückseite der Taschenbuchausgabe angelegt, mit dem Romanzitat „Woanders weiß er selber, wer er ist, hier wissen es die anderen. Das ist Heimat“ und auch mit dem Satz aus einer Rezension der tageszeitung: „Er ist der Mann, der die besten Heimatgeschichten des Landes erzählt.“ Und mit dem gleichen Tenor heißt es in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung zu Goosens unter dem Titel Weil Samstag ist erschienenen „Fußballgeschichten“ (2008): „Weil Samstag ist ist für Fußballer. Für Freunde. Für Ruhrpottler. Für uns alle.“ – Auch an Goosens Debütroman liegen lernen (2001) wurde von Thomas Brussig (2001, 170) im Spiegel gelobt, dass der Roman „Poesie, Sentiment, Zärtlichkeit“ habe, „ohne dabei die Bodenhaftung zu verlieren“.
- 5.
In Pokorny lacht (2003) ist es ein Brief seines Freundes aus Schultagen, Thomas Zacher, der den Entertainer Friedrich Pokorny in die eigene Vergangenheit zurückreißt. Zacher ist wieder in der Stadt und lädt zum Abendessen ein. Und in So viel Zeit (2007) geht es in einer doppelten Heimkehr (im übertragenen Sinne und zugleich geografisch) um drei Freunde, die sich im bürgerlichen Leben eingerichtet haben, aber ihren Jugendtraum, als Rock-Band auf der Bühne zu stehen, doch noch verwirklichen wollen. Dazu holen sie ihren alten Freund Ole aus seinem Berliner Exil zurück nach Bochum; Anlass ist die Feier zum 25-jährigen Abi-Jubiläum.
- 6.
Dieser Abschnitt folgt Parr (2012, S. 153–155).
- 7.
Die Beispiele finden sich in der nicht publizierten Zeitungsausschnittsammlung des Regionalverbandes Ruhrgebiet: Medienresonanz. Essen für Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas 2010. Juryvotum v. 11. April 2006.
- 8.
„Anhand der schon vorhandenen Schächte ergab sich wie von allein für diesen Viehofer Platz eine Mittelpunktsfunktion. ‚Kopfstation‘ heißt das im Vernetzungsdeutsch. […] Der Holtkamp steht auf, geht zur Wand neben der Tür, zeigt auf eine Revierkarte. ‚Das sehen Sie ja schon von weitem, der Platz liegt nach wie vor exakt in der Mitte des ganzen Systems – und das heißt für uns: Von hier werden wir ausgehen – beziehungsweise hierhin müssen wir uns aus all diesen Richtungen vorarbeiten. […] Proben laufen schon jetzt auf den meisten Strecken – ‘/ ‚Heißt das: Wer den Auftrag hatte in und um den Viehofer Platz herum, also für die ‚Kopfstation‘, der war mittendrin? hatte sozusagen Vorrechte?‘/ ‚Hm. […]‘“ (Lodemann 1997, 121).
Literatur
Ausgewählte Primärliteratur
Albrecht, Jörg (2014): Anarchie in Ruhrstadt. Roman. Göttingen: Wallstein 2014.
Baroth, Hans Dieter (1983): Streuselkuchen in Ickern. Roman. München: dtv 1983 [E: 1980].
Goosen, Frank (2009): Radio Heimat. Geschichten von zuhause. Frankfurt a. M.: Eichborn 2009.
Goosen, Frank (2012): Sommerfest. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2012.
Link, Jürgen (2008): Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung. Roman. Oberhausen: asso 2008.
Melzer, Ulrike (2007): Zeitenbeugung. Am Anfang bleibt Zofia. Roman. Oberhausen: asso 2007.
Neuner, Florian (2010): Ruhrtext. Eine Revierlektüre. Mit zwei Photoserien von Jörg Gruneberg. Wien: Klever 2010.
Ausgewählte Forschungsliteratur
Amann, Wilhelm (2016): Transformationen von Regionalität in wissenschaftlichen und literarischen Diskursen. In: Britta Caspers/Dirk Hallenberger/Werner Jung/Rolf Parr (Hg.): Theorien, Modelle und Probleme regionaler Literaturgeschichtsschreibung. Essen: Klartext 2016, S. 31–41.
Parr, Rolf (2011): Ab in die ‚Mitten‘. Von alten und neuen ‚mental maps‘ des Ruhrgebiets. In: Gerhard Rupp/Hanneliese Palm/Julika Vorberg (Hg.): Literaturwunder Ruhr. Essen: Klartext 2011, S. 21–42.
Primärliteratur
Albrecht, Jörg (2014): Anarchie in Ruhrstadt. Roman. Göttingen: Wallstein 2014.
Baroth, Hans Dieter (1983): Streuselkuchen in Ickern. Roman. München: dtv 1983 [E: 1980].
Goosen, Frank (2001): liegen lernen. roman. Frankfurt a. M.: Eichborn 2001.
Goosen, Frank (2009): Radio Heimat. Geschichten von zuhause. Frankfurt a. M.: Eichborn 2009.
Goosen, Frank (2012): Sommerfest. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2012.
Link, Jürgen (2008): Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung. Roman. Oberhausen: asso 2008.
Lodemann, Jürgen (1997): Essen Viehofer Platz oder Die letzte Revolution. Roman. Göttingen: Steidl 1997 (erheblich revidierte Fassung von 1985).
Melzer, Ulrike (2007): Zeitenbeugung. Am Anfang bleibt Zofia. Roman. Oberhausen: asso 2007.
Neuner, Florian (2010): Ruhrtext. Eine Revierlektüre. Mit zwei Photoserien von Jörg Gruneberg. Wien: Klever 2010.
Scharein, Thomas (2011): Yes Ruhrstadt! Camping-Aliens zum Billard auf Zollverein. Science-Fiction-Roman. Oberhausen: Schmenk 2011.
Quellen
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Böttingers Bücher – Durch die Heimat mit Frank Goosen und Melanie Raabe, WDR (10.07.2017) (http://www.ardmediathek.de/tv/WDR-DOK/B%C3%B6ttingers-B%C3%BCcher-Durch-die-Heimat-mit/WDR-Fernsehen/Video?bcastId=12877260&documentId=44282284; zuletzt eingesehen am 06.08.2017).
Brussig, Thomas (2001): Liebe zu Zeiten der Kohl-Ära. Der mit mehreren Kleinkunstpreisen ausgezeichnete Autor und Entertainer Frank Goosen erweist sich in seinem Debüt „Liegen lernen“ als großes Erzähltalent. In: Der Spiegel, Nr. 5 (29.01.2001), S. 168–170.
Dirksen, Jens (2010): Florian Neuner und das erlesene Revier. In: Der Westen (02.06.2010) (http://www.derwesten.de/kultur/florian-neuner-und-das-erlesene-revier-id3543737.html; zuletzt eingesehen am 06.01.2017).
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Pleitgen, Fritz/Scheytt, Oliver/Petzina, Karl-Heinz (2010): Vorwort der RUHR.2010 GmbH. In: Ruhrkunstmuseen und Ruhr.2010 (Hg.): Ruhrkunstmuseen. Die Sammlung. Ostfildern: Hatje Cantz 2010, S. 6 f.
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Werber, Niels (2008): Stoßtruppen in Kurvenlandschaften. Wie der Literaturwissenschaftler Jürgen Link seine Suche nach der Roten Ruhr-Armee nach Jahrzehnten zu einer Art Roman montiert hat. In: Literaturen, Nr. 10 (2008), S. 41 f.
Filme
Berlin. Die Sinfonie der Großstadt. Regie: Walter Ruttmann. Dokumentarfilm. Deutschland 1927.
Forschungsliteratur
Amann, Wilhelm (2016): Transformationen von Regionalität in wissenschaftlichen und literarischen Diskursen. In: Britta Caspers/Dirk Hallenberger/Werner Jung/Rolf Parr (Hg.): Theorien, Modelle und Probleme regionaler Literaturgeschichtsschreibung. Essen: Klartext 2016, S. 31–41.
Berking, Helmuth/Löw, Martina (2005): Wenn New York nicht Wanne-Eickel ist… Über Städte als Wissensobjekt der Soziologie. In: Dies. (Hg.): Die Wirklichkeit der Städte. Baden-Baden: Nomos 2005, S. 9–22.
Boelmann, Jan (2011): Pop statt Maloche. Versuch einer Gattungsanalyse des Neuen Ruhrgebietsromans. In: Gerhard Rupp/Hanneliese Palm/Julika Vorberg (Hg.): Literaturwunder Ruhr. Essen: Klartext 2011, S. 125–141.
Davy, Benjamin (2004): Die Neunte Stadt. Wilde Grenzen und Städteregion Ruhr 2030. Mit Bildern von Bildarchiv Städteregion Ruhr 2030. Bildredaktion in Zusammenarbeit mit Kamilla Kanafa. Wuppertal: Müller + Busmann 2004.
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1977): Rhizom. Berlin: Merve 1977.
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Ernst, Thomas (2010): Das Schwarze sind die Buchstaben. Das Ruhrgebiet in der Gegenwartsliteratur – ein Überblick. In: Ders./Florian Neuner (Hg.): Das Schwarze sind die Buchstaben. Das Ruhrgebiet in der Gegenwartsliteratur. Oberhausen: asso 2010, S. 216–268.
Ernst, Thomas (2011): Das Ruhrgebiet als Rhizom. Die Netzstadt und die ‚Nicht-Metropole-Ruhr‘ in den Erzählwerken von Jürgen Link und Wolfgang Welt. In: Gerhard Rupp/Hanneliese Palm/Julika Vorberg (Hg.): Literaturwunder Ruhr. Essen: Klartext 2011, S. 43–70.
Gödden, Walter: Lost in Ruhrstadt und schlaflos sowieso. Jörg Albrechts neuer Roman entwirft ein apokalyptisch-schrilles Bild der Metropole Ruhr. In: Literatur in Westfalen, Bd. 14 (2016), S. 499–511.
Hard, Gerhart (1996): Zur Theorie und Empirie des „Regionalbewußtseins“. In: Geographische Zeitschrift, Bd. 84, H. 1 (1996), S. 54–61.
Joachimsthaler, Jürgen (2016): Daten und Vorstellungsbilder. Literatur über eine Region. In: Britta Caspers/Dirk Hallenberger/Werner Jung/Rolf Parr (Hg.): Theorien, Modelle und Probleme regionaler Literaturgeschichtsschreibung. Essen: Klartext 2016, S. 57–72.
Lachmann, Tobias (2011): Das Ruhrgebiet in Jürgen Links Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. In: Jan-Pieter Barbian/Gertrude Cepl-Kaufmann/Hanneliese Palm (Hg.): Von Flussidyllen und Fördertürmen. Literatur an der Nahtstelle zwischen Ruhr und Rhein. Essen: Klartext 2011, S. 163–185.
Lenger, Friedrich (2010): Das Ruhrgebiet – eine europäische Metropole? In: KWI-Interventionen, No. 2 (2010), S. 1–16.
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Moretti, Franco (2009): Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009.
Parr, Rolf (2011): Ab in die ‚Mitten‘. Von alten und neuen ‚mental maps‘ des Ruhrgebiets. In: Gerhard Rupp/Hanneliese Palm/Julika Vorberg (Hg.): Literaturwunder Ruhr. Essen: Klartext 2011, S. 21–42.
Parr, Rolf (2012): Wen (alles) adressiert eigentlich eine ‚Europäische Kulturhauptstadt‘? Das Beispiel ‚Essen für das Ruhrgebiet‘. In: Thomas Ernst/Dieter Heimböckel (Hg.): Verortungen der Interkulturalität. Die ‚Europäischen Kulturhauptstädte‘ Luxemburg und die Großregion (2007), das Ruhrgebiet (2010) und Istanbul (2010). Bielefeld: Transcript 2012, S. 149–169.
Springer, Johannes (2008): „Es gibt immer zu wenig“. Ruhrgebiets-Erfahrung am Beispiel von Bastian Günthers ‚Autopiloten‘. In: Ders./Christian Steinbrink/Christian Werthschulte (Hg.): Echt! Pop-Protokolle aus dem Ruhrgebiet. Duisburg: Salon Alter Hammer 2008, S. 219–233.
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Caspers, B., Hallenberger, D., Jung, W., Parr, R. (2019). Vor, im und nach dem Kulturhauptstadtjahr 2010. In: Ruhrgebietsliteratur seit 1960. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04868-4_14
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