Thomas Biebrichers Bestandsaufnahme des deutschen Konservatismus hat verdientermaßen ein sehr positives Presseecho gefunden. Es handelt sich um eine gedankenreiche Studie, die höchst lesbar geschrieben ist und die Politikwissenschaft daran erinnert, dass sie in der Lage sein sollte, ihre Befunde einem interessierten Publikum verständlich mitzuteilen. Biebrichers Essay zur Lage der Unionsparteien, die er im Wesentlichen als politische Repräsentation des Konservatismus begreift, erschien in bewegter Zeit, als der Wahlkampf um den Parteivorsitz und die Nachfolge Angela Merkels in vollem Gange war. Die aktuellen Bezüge zur Krise der Union, die eine Reihe von Wahlniederlagen erfahren hatte und die sich seither auf der Suche nach sich selbst befindet, zeigen die Dringlichkeit, politiktheoretische Probleme zeithistorisch und gegenwartsdiagnostisch zu reflektieren.

Biebricher gelingt es vorzüglich, die programmatische Entwicklung der CDU/CSU seit der Ära Helmut Kohls darzustellen. Der Blick auf die publizistisch vollmundig annoncierte, aber politisch weitgehend folgenlos gebliebene „geistig-moralische Wende“ von 1982/83 unterstützt seine These, dass der Konservatismus nicht erst seit Kurzem an einem Erschöpfungssyndrom leidet. An Zeitfragen von Familienpolitik über Geschichtsverständnis, kultureller Integration, Religion, Technologie bis hin zur Wirtschaftspolitik lassen sich die konservativen Rückzugsgefechte gut veranschaulichen. Gleichzeitig präsentiert der Verfasser ideenhistorische Tiefenbohrungen, um das begrifflich-methodische Besteck eines modernisierten Konservatismus zu durchmustern, der seine neue Identität ganz wesentlich in Gegnerschaft zur „Kulturrevolution“ der Achtundsechziger ausbildete. Der Blick auf die alten intellektuellen Hegemoniekämpfe der 1970/80er Jahre zwischen dem linksliberalen (Jürgen Habermas) und liberalkonservativen Lager (Hermann Lübbe) ist gut informiert, wenn auch hier die einfühlende Neigung des Autors zur Frankfurter Position bisweilen auf Kosten einer distanziert-historisierenden Betrachtung geht. Manche Exkurse, etwa zur Anthropologie Arnold Gehlens oder zum Historikerstreit, hätten kürzer gefasst werden können, aber insgesamt tritt dem Leser hier noch einmal das geistige Panorama der alten Bundesrepublik entgegen.

Gewährsmann und Maßstab seines einleitend eingeführten Konservatismusbegriffs ist Edmund Burke (S. 17–44), der Vernunftskepsis aus der Gefahr der menschlichen Selbstüberschätzung begründet, den pragmatischen und erfahrungsgeleiteten Moment des politischen Handelns betont sowie auf Hierarchie, Ordnung und klare Verantwortlichkeiten abhebt. Burkes Vorstellung von organischer Entwicklung kann man als behutsamen Reformkonservatismus bezeichnen, dessen Brems- und Steuerungsfähigkeiten den erforderlichen Wandel meistern. Vor diesem Hintergrund fällt es ohnehin schwer, ideologische Konstanten im konservativen Denken zu finden. Insofern bleibt es das konservative Dilemma, dass eine Bastion nach der anderen im Prozess der Modernisierung und Pluralisierung geräumt werden muss. Anders als die Konkurrenzideologien kann der Konservatismus nicht auf einen normativen Grundbegriff wie den der Freiheit im Liberalismus oder den der Gleichheit im Sozialismus zurückgreifen. Deshalb bleibt der Konservatismus im Kern reaktiv und bezeichnet entweder im Sinne Burkes einen bestimmten Modus des abwägenden politischen Denkens und Handelns oder bezieht sich relational auf Bewahrenswertes.

Der Vorwurf, den man Biebricher machen könnte, besteht darin, dass seine Befunde in gewisser Weise dem Aufbau des eigenen Buches widersprechen. Erstens lässt sich konstatieren, dass es so etwas wie einen genuin in sich ruhenden Konservatismus nie gegeben hat. Erschöpfung gehört gewissermaßen zu seiner DNA – und so bleibt die Frage, auf welche Weise konservative Ideologeme in Fortschrittskrisen politisch wirksam instrumentalisiert werden können. Zweitens bleibt es unbefriedigend, den Konservatismus als ein politisches Lager zu begreifen, dem neben Union (die sich selbst abseits der fast schon sektiererischen Werte-Union nicht unbedingt als konservativ beschreiben würde) alle möglichen liberalkonservativen bis rechten Intellektuellen angehören sollen. Was hat Arnold Gehlen mit Heiner Geißler zu tun, was verbindet Odo Marquard oder Helmut Kohl mit Armin Mohler? Außer der Kritik an der Neuen Linken gibt es da nicht allzu viel Übereinstimmendes.

Dass die Politik einer Partei, die fünfzig von siebzig möglichen Jahren an der Regierung war, jeden Maßstab programmatisch begründeter Politik pragmatisch oder auch opportunistisch unterläuft, ist in der Politik keine Überraschung. Auch die Häutungen der Mitbewerber SPD, FDP oder Bündnis 90/Die Grünen würden belegen, dass der Zustand jedes politischen Ideenensembles bedenklich wird, sobald man ihn an den Verlautbarungen der aktiven Politiker misst. Um Guiseppe Tomasi de Lampedusas vielzitiertes Bonmot abzuwandeln: Noch jede Partei muss sich verändern, damit sie bleibt.

Besonders inspirierend an Biebrichers Studie sind die Passagen, in denen er über das affektive Verhältnis von Politik und Ideologie nachdenkt. Damit markiert er zugleich ein Forschungsfeld der politischen Theorie, die sich eben nicht in einem blutarmen Normativismus oder in rational-choice-Modellen verlieren sollte, sondern deren Aufgabe es bleibt, die mobilisierende Wirkung von Ideologien und die Sehnsucht nach Ideen in demokratischen Gesellschaften zu erforschen. Politische Theorie braucht die Verbindung zur politischen Kulturforschung. Bei Biebricher kann man lernen, dass Ideen eben nicht nur diskursiv einzuhegen sind, vielmehr ebenso begeisterndes wie abgründiges Potenzial besitzen – und dass selbst die Prätention, Ideologie durch alternativlos erscheinende Sachzwänge zu ersetzen, in eine Ideengeschichte der Technokratie gehört, die ihrerseits fast immer irrationale Gegenbewegungen heraufbeschwören. So wie die Demokratie den Wettstreit der Ideen braucht, so muss sich die Politikwissenschaft mit ihrer Genese, ihren Implikationen und Effekten befassen.