Zusammenfassung
Humes Enquiry concerning Human Understanding entfaltet eine Konzeption von Freiheit und Verantwortlichkeit, der zufolge beides mit der These der »Notwendigkeit« vereinbar ist. Hume wirft dabei die Frage auf, ob ein Mensch oder Gott für moralisch böses Handeln dieses Menschen verantwortlich ist, wenn Gott existiert und als Schöpfer der Welt auch das Handeln von Menschen bestimmt. Der Aufsatz untersucht, welche Antwort Hume auf diese Frage gibt und welche Folgen sich aus seiner Antwort für eine angemessene Konzeption von menschlicher Freiheit und Verantwortlichkeit ergeben. Wie deutlich wird, legt Hume sich darauf fest, dass in dem Fall, den er beschreibt, sowohl der Mensch als auch Gott frei und verantwortlich Handelnde sind. Wenn das zutrifft, müssen die Kriterien für Freiheit und Verantwortlichkeit grundsätzlich anders aufzufassen sein, als es der Forderung nach einem »ersten« oder »absoluten« Anfang oder einer »letzten« oder »wahren« Verantwortlichkeit entspricht. Humes Diskussion verdeutlicht, dass wir diese Forderung in Frage stellen sollten.
Abstract
In his Enquiry concerning Human Understanding, Hume develops a conception of freedom and responsibility according to which both are compatible with the doctrine of »necessity«. In the course of that discussion, Hume asks whether a human being, or God, could be held responsible for what that human being does, given that God exists and determines human actions as the ultimate creator of the world. The paper asks what Hume’s own answer to that question is, and what this answer entails for an adequate conception of human freedom and responsibility. It emerges that Hume is committed to the view that in such a case, both a human being and God would be free and responsible agents. If that is correct, then the criteria of freedom and responsibility must be thought of in entirely different terms than those that are associated with demands for »first« or »absolute« beginnings or for »ultimate« or »true« responsibility. Hume’s discussion shows that we should question these demands.
Notes
Der spätere Enquiry hatte 1748 noch den Titel Philosophical Essays Concerning Human Understanding. Ab 1758 hieß er dann Enquiry concerning Human Understanding, und Hume arbeitete noch Korrekturen bis zur Ausgabe von 1777 ein. Vgl. zum Text Tom Beauchamp, »Introduction«, in Hume (2000, x‑cvii). Ich zitiere im Folgenden nach dieser Ausgabe und kürze ihren Titel mit »Enquiry« ab.
Ein Pionier dieser »naturalistischen« Lesart war Kemp Smith (1941).
Humes erstes großes Werk, A Treatise of Human Nature von 1739 (Bücher 1 und 2) und 1740 (Buch 3), hat nicht nur das Wort »Natur« im Titel, sondern macht den neuen Anspruch auch in seinem Untertitel klar: Being an Attempt to introduce the experimental Method of Reasoning into Moral Subjects. Erklärtes Vorbild Humes war die Physik nach dem Verständnis von Isaac Newton.
Enquiry, S. 72.
Der Gedanke ist insofern auch ein gutes Beispiel für Humes Naturalismus. Die klassische Studie zum Thema ist Russell (1995).
Enquiry, S. 75.
So sehe ich hier auch von der zusätzlichen und sehr zweifelhaften These Humes ab, der zufolge Lob und Tadel nur auf eine beständige Charaktereigenschaft bezogen sind; vgl. dazu Russell (1995, Kap. 7).
Enquiry, S. 75.
Ebd.
Enquiry, S. 75.
Enquiry, S. 77.
Enquiry, S. 75.
Enquiry, S. 75 f.
Russell (1995, S. 161 f.).
Das ist das Leitmotiv der Dialoge über natürliche Religion. Das Motiv zieht sich durch Humes gesamtes Werk.
Dem Stilmerkmal der Ironie ist Price (1965) gewidmet. Wie Price betont, tritt es bei Hume besonders dann hervor, wenn Religion sein Thema ist.
Enquiry, S. 77.
Enquiry, S. 77 f.
Insofern ist die Strategie hier vergleichbar mit der Strategie der Dialoge, wo Hume darauf hinweist, dass nicht einzusehen ist, wie das Problem des Übels und des Bösen vernünftig gelöst werden kann. Er behauptet dabei aber nicht, dass es logisch nicht zu lösen ist; vgl. Hume (1994), Teile 10 und 11 und zur Deutung Gaskin (1988, Kap. 3); O’Connor (2001, Kap. 9) u. Pyle (2006, S. 90-110). Vgl. auch Humes Dialog zur Verteidigung von Epikur in Enquiry, Abschnitt 11 und die Verteidigung einer gemäßigten Skepsis in Enquiry, Abschnitt 12.
Enquiry, S. 77.
Das unterstellt ihm indirekt auch die Interpretation von Streminger (1995, S. 172-175).
Kant (1900b, S. 97). Die Passage zielt zwar eher auf Leibniz als auf Hume, aber es liegt auf der Hand, dass der Einwand auch auf Hume bezogen werden kann.
Kant (1900b, S. 100 f.).
Ebd., S. 101.
Ebd.
Das ist die Position, der zufolge wir nicht frei und nicht moralisch verantwortlich sind und das ganz unabhängig von der Wahrheit des Determinismus gilt. Strawson (2010) argumentiert für eine These der Unmöglichkeit, Pereboom (2001, 2014) für die These, dass Willensfreiheit und moralische Verantwortung an Verursachung ausschließlich »durch einen Handelnden selbst« gekoppelt sind. Nach Perebooms Meinung ist diese Verursachung »durch einen Handelnden selbst« zwar logisch möglich, doch gibt es sie tatsächlich nicht.
Vgl. zu der Frage, wie antike Konzeptionen von freiem Handeln und Verantwortlichkeit ohne solche Vorannahmen ausgesehen haben, Williams (1993).
Gerhard Streminger äußert in diesem Zusammenhang den Verdacht, dass die Idee der Willensfreiheit erfunden worden ist, um Gott vor der Verstrickung in die Schuld von Menschen zu bewahren; vgl. Streminger (1995, S. 175).
So auch Williams (1985, S. 194).
Ein interessantes und provokantes Beispiel dafür ist die Untersuchung von Zorn und Vergebung in Nussbaum (2016).
Diese Seite von Schuld und moralischem Vorwurf hebt Williams (1995, S. 72-74) hervor.
Voltaire (1970, S. 207).
Strawson (1962).
S. o. zu Enquiry, S. 75.
Literatur
Bieri, Peter. 2001. Das Handwerk der Freiheit: Über die Entdeckung des eigenen Willens. München: Hanser.
Brandhorst, Mario. 2012. »Woran scheitert Kants Theorie der Freiheit?«. In: Mario Brandhorst, Andree Hahmann und Bernd Ludwig (Hrsg.), Sind wir Bürger zweier Welten? Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus. Hamburg: Meiner, 279-310.
Buckle, Stephen. 2001. Hume’s Enlightenment Tract: The Unity and Purpose of An Enquiry concerning Human Understanding. Oxford: Clarendon Press.
Buckle, Stephen. 2007. »Hume’s Sceptical Materialism«. In Philosophy 82: 553-578.
Gaskin, J. C. A. 1988. Hume’s Philosophy of Religion. Second Edition. Basingstoke: Macmillan.
Hume, David. 1982. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Übersetzt u. hrsg. v. Herbert Herring. Durchgesehene u. verbesserte Ausgabe. Stuttgart: Reclam.
Hume, David. 1994. Dialoge über natürliche Religion. Übersetzt u. hrsg. v. Norbert Hoerster. Stuttgart: Reclam.
Hume, David. 2000. An Enquiry concerning Human Understanding: A Critical Edition. Hrsg. v. Tom Beauchamp. Oxford: Clarendon Press.
Hume, David. 2015. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Übersetzt v. Raoul Richter. Mit einer Einführung hrsg. v. Manfred Kühn. Hamburg: Meiner.
Jauch, Ursula Pia. 1998. Jenseits der Maschine: Philosophie, Ironie und Ästhetik bei Julien Offray de LaMettrie. München, Hanser.
Kant, Immanuel. 1900a. Kritik der reinen Vernunft. Zweite Auflage. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und ihren Nachfolgern. Berlin, Band 3.
Kant, Immanuel. 1900b. Kritik der praktischen Vernunft. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und ihren Nachfolgern. Berlin, Band 5.
Kemp Smith, Norman. 1941. The Philosophy of David Hume: A Critical Study of its Origins and Central Doctrines. London: Macmillan.
La Mettrie, Julien Offray de. 1990. L’homme machine: Die Maschine Mensch. Übersetzt und hrsg. v. Claudia Becker. Hamburg: Meiner.
Nussbaum, Martha C. 2016. Anger and Forgiveness. Resentment, Generosity, and Justice. Oxford: Oxford University Press.
O’Connor, David. 2001. Hume on Religion. London: Routledge.
Pereboom, Derk. 2001. Living Without Free Will. Cambridge: Cambridge University Press.
Pereboom, Derk. 2014. Free Will, Agency, and Meaning in Life. Oxford: Oxford University Press.
Price, John V. 1965. The Ironic Hume. Austin: University of Texas Press.
Pyle, Andrew. 2006. Hume’s Dialogues Concerning Natural Religion. London: Continuum.
Russell, Paul. 1995. Freedom and Moral Sentiment: Hume’s Way of Naturalizing Responsibility. New York: Oxford University Press.
Russell, Paul. 2008. The Riddle of Hume’s Treatise: Skepticism, Naturalism, and Irreligion, Oxford: Oxford University Press.
Schälike, Julius. 2010. Spielräume und Spuren des Willens: Eine Theorie der Freiheit und der moralischen Verantwortung. Paderborn: Mentis.
Shoemaker, David und Tognazzini, Neal A. (Hrsg.). 2014. »Freedom and Resentment« at 50. Oxford Studies in Agency and Responsibility, Vol. 2. Oxford: Oxford University Press.
Strawson, Galen. 2010. Freedom and Belief. Revised edition. Oxford: Oxford University Press.
Strawson, P. F. 1962. »Freedom and Resentment«. In: Proceedings of the British Academy 48: 187-211.
Strawson, P. F. 1985. Skepticism and Naturalism. Some Varieties. New York: Columbia University Press.
Streminger, Gerhard. 1995. David Hume: »Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand«. Ein einführender Kommentar. Paderborn: Schöningh.
Voltaire. 1970. »Der unwissende Philosoph«. In: Kritische und Satirische Schriften. Übersetzt v. Karl August Horst, Joachim Timm und Liselotte Ronte. München: Winkler, 196–256.
Williams, Bernard. 1985. Ethics and the Limits of Philosophy. Cambridge, MA: Harvard University Press.
Williams, Bernard. 1993. Shame and Necessity. Berkeley: University of California Press.
Williams, Bernard. 1995. »Nietzsche’s Minimalist Psychology«. In: ders., Making Sense of Humanity and Other Philosophical Papers 1982-1993. Cambridge: Cambridge University Press, 65-76.
Wilson, Catherine. 2016. »Hume and vital materialism«. In British Journal for the History of Philosophy 24: 1002-1021.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Brandhorst, M. Humes Theorie der Verantwortlichkeit und das Problem des göttlichen Ursprungs des Bösen. ZEMO 1, 105–125 (2018). https://doi.org/10.1007/s42048-018-0001-4
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s42048-018-0001-4