Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 hat vielerorts nicht nur das Vertrauen in die Marktwirtschaft erschüttert, sondern auch das Vertrauen in die Volkswirtschaftslehre als wissenschaftliches Disziplin. Die Ökonomik sei zum einen zu realitätsfern, um Ereignisse auf Märkten wirklich erklären und prognostizieren zu können, zum anderen fehle es aber auch an Pluralismus in Forschung und Lehre. Diese Kritik ist jedoch keineswegs erst mit der Finanz- und Wirtschaftskrise entstanden, auch wenn die Krise die Kritik deutlich befeuert hat. Vielmehr entwickelte sich, ausgehend von Studierendenprotesten an der Pariser Sorbonne im Jahr 2000, schon damals ein Netzwerk von Ökonomen, die eine methodische Neuorientierung der Volkswirtschaftslehre fordern, um eine realitätsnähere Wissenschaft der Wirtschaft zu erarbeiten. International firmierte die Bewegung zunächst unter dem Label „Postautistische Ökonomik“. Dieser unglückliche Begriff wurde später durch die Bezeichnung „Real-World Economics“ ersetzt und in Form der World Economics Association ab Mai 2011 institutionell verankert. Die Gesellschaft publiziert darüber hinaus eigene Fachzeitschriften, die Real-World Economics Review, Economic Thought sowie World Social and Economic Review. In Deutschland sammelt sich die Bewegung im Wesentlichen im Netzwerk Plurale Ökonomik, in der sich neben einigen Hochschullehrern vor allem auch Studierende verschiedener Fachrichtungen engagieren.

Die Vertreter der Pluralen Ökonomik lassen sich nicht in einem einheitlichen Forschungsprogramm zusammenfassen. Vielmehr handelt es sich um Anhänger sehr unterschiedlicher Forschungsparadigmen, die in der öffentlichen Diskussion und der Fachliteratur oftmals unter der Bezeichnung „heterodoxe Ökonomik“ (JEL-Klassifikation B5) erfasst werden.

Die zentrale Gemeinsamkeit der pluralen Ökonomen besteht in ihrer Kritik am sogenannten Mainstream, also der Standardökonomik (SÖ), die in den meisten Fachbeiträgen und Studiengängen Anwendung findet. Zentrale Punkte ihrer Kritik bestehen aus den folgenden Punkten: (a) Der SÖ wird eine verfehlte Marktgläubigkeit vorgeworfen; (b) die SÖ sei durch eine geistige Monokultur geprägt; (c) der SÖ fehle eine kritische Selbstreflexion und (d) die Offenheit für innovative Ideen. Diese Vorwürfe werden von Vertretern der SÖ im Wesentlichen zurückgewiesen (siehe z. B. die Antwort des Engeren Vorstands des Vereins für Socialpolitik auf einen offenen Brief der pluralen ÖkonomenFootnote 1). Insbesondere wird betont, dass die moderne SÖ sich immer stärker empirisch ausrichte, sodass Vorwürfe in Richtung einer Weltfremdheit ins Leere laufen. Zugleich hätten sich etwa mit der experimentellen Ökonomik und der Verhaltensökonomik durchaus neue innovative Forschungsfragen, Theorien und Methoden in der SÖ etabliert.

Mit diesem Sonderheft wollen wir die Diskussion um die Grundausrichtung der Volkswirtschaftslehre in Forschung und Lehre erneut aufnehmen. Zu diesem Zweck haben wir 13 renommierte Fachkolleginnen und -kollegen gebeten, einen Beitrag zu dieser Diskussion zu leisten. Diese Fachaufsätze werden durch ein Korreferat ergänzt, das die zentralen Aussagen des Hauptbeitrags kritisch durchleuchten soll.Footnote 2 Schließlich wurde den Verfasserinnen und Verfassern der Hauptbeiträge die Möglichkeit einer Replik angeboten.

Inhaltlich beginnt unser Sonderband mit zwei Aufsätzen, die Erfolge und Probleme der SÖ aus der Sicht der Standardökonomik selbst erarbeiten. Der erste der Beiträge widmet sich dabei der Mikroökonomik, der zweite behandelt die Makroökonomik.

Es folgen zehn Beiträge, die sich jeweils mit einem speziellen Forschungsprogramm (einer „Schule“) befassen. Die Verfasserinnen und Verfasser der jeweiligen Aufsätze zeigen die Fruchtbarkeit der unterschiedlichen Schulen und somit auch den Mehrwert einer pluraleren Ökonomik aus ihrer jeweiligen Perspektive auf. Die zehn von uns ausgewählten Themengebiete beanspruchen keineswegs, das Gebiet der pluralen Ökonomik vollständig abzudecken. Wir hoffen dennoch, dass wir die vergleichsweise bedeutendsten Forschungsprogramme erfasst haben. Die aufgegriffenen Gebiete sind

  • die Evolutorische Ökonomik,

  • die Österreichische Schule der Nationalökonomie,

  • die (Neo‑)Marxistische Politische Ökonomie,

  • der Ordoliberalismus (Neue Ordnungsökonomik),

  • die Neo-Ricardianische Ökonomik

  • die Feministische Ökonomik,

  • die agentenbasierte Modellierung,

  • die klassische Institutionenökonomik,

  • die Verhaltensökonomik und

  • der Postkeynesianismus.

Zum Abschluss folgt ein Thema, das an und für sich kein eigenes Forschungsprogramm mit eigenen Methoden beinhaltet, sondern einen ergänzenden (aber nicht minder wichtigen) Aspekt behandelt, der unter pluralen Ökonomen wiederholt hervorgehoben wird: die Heterodoxie in der Politikberatung.

Versucht man die zentralen Einsichten, die dieser Band neben der inhaltlichen Darstellung der Themengebiete liefert, zusammenzufassen, so überrascht es vermutlich wenig, wenn man feststellt, dass sich einige z. T. durchaus auch scharfe Kontroversen entwickelt haben. Weniger zu erwarten war vielleicht, dass die Vertreter einiger heterodoxer Programme sich explizit nicht als „Gegenprogramm“ zur SÖ verstehen. Hier sind wohl vor allem die Beiträge zum Ordoliberalismus, zur agentenbasierten Modellierung und zur Verhaltensökonomik zu nennen. Ursprünglich hatten die meisten Themen den Zusatz „als Gegenprogramm zur Standardökonomik“. Einige Autoren legen jedoch Wert darauf, dass diese Formulierung nicht dem Geist ihres Beitrags entspricht, sodass ein entsprechend modifizierter Titel gewählt wurde.

Eine weitere Einsicht besteht unseres Erachtens darin, dass die moderne Ökonomik keineswegs einseitig ist. Die Gegenprogramme existieren ja innerhalb des Bereichs der modernen Volkswirtschaftslehre, und manche der heterogenen Ansätze haben inzwischen ihren Weg in den Mainstream angetreten oder sind sogar schon Teil der Standardökonomik geworden (z. B. die Verhaltensökonomik).

Dies ändert allerdings wenig daran, dass ein allgemeiner Konsens nicht in Sichtweite ist. Wie könnte es auch anders sein? Schließlich besteht die Essenz des Wissenschaftsprozesses darin, etabliertes Wissen immer aufs Neue in Frage zu stellen. Wenn derzeit die Mehrheit der Wissenschaftler die Standardökonomik für das beste verfügbare Instrument hält, dann ist es wohl auch angemessen, wenn dies Ausdruck findet bei der Gestaltung von Curricula und der Besetzung von Lehrstühlen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Konkurrenzprogramme unwichtig oder gar perspektivlos sind. Im Gegenteil: Sollten bestimmte Ansätze der Heterodoxie der Standardökonomik überlegen sein, so ist zu hoffen, dass deren Vertreter ihre vernunftbegabten Fachkollegen langfristig überzeugen können. Die benötigt natürlich eine gewisse Zeit und auch Ressourcen. Deshalb ist es wichtig, dass alternative Ansätze wenigstens ein Mindestmaß an Mitteln zur Verfügung haben. Wer die Vielfalt der hier vorgestellten Programme als unsere Wissenschaft bereichernd betrachtet, sollte auch befürworten, dass deren Pflege und Entwicklung durch Lehrstuhlbesetzungen und Mittelzuweisungen weiterhin unterstützt wird. Ob dies einen Ausbau der Ressourcen impliziert, ist eine andere Frage, die wir hier nicht beantworten wollen.

Für die Lehre bedeutet dies, dass in den Curricula der Bachelor-Studiengänge im Idealfall Angebote etabliert werden, die alternative Ansätze zur etablierten Ökonomik sowie die Dogmengeschichte beinhalten.