Selbsttrainierende Algorithmen können aus Bildgebungs- und Anamnesedaten heute schon präziser als Psychiater abschätzen, ob jemand mit psychischen Auffälligkeiten bald eine Psychose entwickeln wird. „Die künstliche Intelligenz hat enorme Fortschritte gemacht. Heute sind Leistungen möglich, die früher allein dem menschlichen Gehirn vorbehalten waren“, erläuterte Professor Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim. Über Metadaten von Smartphones könnten intelligente Programme auch präventiv Alarm schlagen, wenn Patienten dabei sind, in eine schwere Depression, Manie oder Suizidalität abzugleiten. Entsprechende Verfahren würden derzeit getestet. Internetbasierte Psychotherapien werden in vielen Ländern bereits regulär genutzt, und es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis sie auch in Deutschland zur Regelversorgung psychisch Kranker gehören. Schließlich ist eine persönliche psychotherapeutische Versorgung in vielen Regionen kaum oder gar nicht möglich.

Da solche Entwicklungen ethische Grundfragen berühren, trügen die Forscher eine große gesellschaftliche Verantwortung, gab Meyer-Lindenberg zu bedenken. Professor Gerhard Gründer, ZI in Mannheim, bezweifelt allerdings, dass die digitalen Versprechungen jemals eingehalten werden. Er hält die menschliche Psyche für viel zu komplex, als dass sich menschliches Verhalten durch digitale Fußabdrücke vorhersagen ließe. Dagegen hält Professor Stefan Priebe aus London eine digitale Zukunft der Psychiatrie für möglich, wenn auch nicht gerade erstrebenswert. Er entwarf ein Szenario, nachdem Psychiater und Psychotherapeuten in einigen Jahrzehnten allenfalls noch als Software-Programmierer benötigt würden.

Priebe spitzte auf dem Kongress auch weitere Zukunftsentwürfe zu, etwa eine Psychiatrie, die sich vor allem um das psychische Wohlergehen von Gesunden kümmert. Er forderte daher, dass Psychiater solchen Entwicklungen aktiv und gestaltend gegenübertreten und ihr Schicksal stärker in die eigene Hand nehmen. So habe die Gesellschaft ein großes Interesse an psychiatrischen und psychologischen Konzepten. „Soziale Isolation, soziale Ungleichheit, Krieg — all das beeinflusst psychische Krankheiten.“ Hier sollte die Psychiatrie in gesellschaftliche Debatten eingreifen. „Wir müssen politischer werden, dann wird man uns wieder hören.“

Auch Online-Therapie braucht Therapeuten

Zum Thema internetbasierte Psychotherapie (IPT) äußerte sich auch Professor Ulrich Sprick, St.-Augustinus-Fachkliniken in Neuss. Er sieht Online-Therapien trotzdem primär als Ergänzung zum herkömmlichen Setting, nicht als Ersatz. Auch könne man auf Psychotherapeuten bei IPT nicht verzichten. Zum einen sei vor jeder IPT eine gute Diagnostik nötig. Es müssten Zusatzdiagnosen wie eine Persönlichkeitsstörung berücksichtigt oder ausgeschlossen werden; ungeeignet seien die Verfahren bei erhöhter Suizidalität sowie psychotischen und dissoziativen Symptomen. „Eine Kurzdiagnostik oder eine Selbstdiagnostik ist daher nicht zielführend“, so Sprick.

Zum anderen hänge der Erfolg auch davon ab, ob und wie intensiv Therapeuten in die Online-Behandlung einbezogen sind. Neben therapeutenfreien Selbstmanagementprogrammen gibt es diverse Formen von therapeutengeleiteten IPT oder eine Mischung aus persönlichen Sitzungen und Online-Modulen (blended therapy). Sprick verwies auf zwei Untersuchungen, wonach solche Verfahren vor allem dann funktionieren, wenn ein guter therapeutischer Kontakt besteht. Für reine Selbstmanagementprogramme wurde eine recht kleine Effektstärke von 0,21 ermittelt. Hatten die Patienten vor und während der IPT Kontakt mit einem Therapeuten, ergab sich ein Wert von 0,76. Den Vergleich mit herkömmlichen Psychotherapien müssen die IPT — vor allem die therapeutengeleiteten — aber nicht scheuen. Sprick verwies auf Metaanalysen mit insgesamt 19 Studien zu Depression, wonach sich praktisch keine Unterschiede bei den Erfolgsquoten bezogen auf die Symptomreduktion zwischen den beiden Settings ergaben. Auch bei der Nachhaltigkeit, so Sprick, könnten IPT überzeugen: Selbst nach eineinhalb Jahre ließen sich noch therapieinduzierte Verbesserungen bei Traumapatienten nachweisen.