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Zur Person Prof. Dr. med. Wolff Schmiegel ist Direktor der Medizinischen Universitätsklinik Knappschaftskrankenhaus und der Abteilung Gastroenterologie/Hepatologie der Universitätsklinik Bergmannsheil, Bochum, sowie Koordinator der Leitlinienkommission.

© A. Beyna, Knappschaftskrankenhaus Bochum

Was die Experten zu den Änderungen der Leitlinie bewegt hat, erklärt der Leitlinienkoordinator Professor Wolff Schmiegel.

Herr Professor Schmiegel, die Überwachungsintervalle nach Adenomabtragung sind modifiziert worden: Bei einzelnen Low-risk-Adenomen kann man nun länger warten. Was ist der Grund dafür?

Professor Wolff Schmiegel: In Deutschland sind knapp über 30 % aller Endoskopien Surveillance-Endoskopien nach Polypektomie. Dabei sind über 85 % aller entfernten Polypen kleiner als 1 cm, also „low low risk“. Eine Studie hat aber gezeigt, dass Menschen mit Low-risk-Adenomen sogar ein niedrigeres Sterberisiko haben als die Allgemeinbevölkerung [Løberg M et al. N Engl J Med. 2014;371(9):799 – 807]. Ganz anders bei High-risk-Adenomen: Da ist das Sterberisiko deutlich erhöht. Das heißt, wir müssen eine stratifizierte Nachsorge machen. Die Screening-Koloskopie ist die Erfolgsgeschichte der Krebsvorsorge: In Deutschland haben wir heute zirka 1.700 niedergelassene und Klinik-Endoskopiker. Mithilfe der Screening-Koloskopie verhindern sie rund 180.000 Darmkrebserkrankungen — und wir bringen sie in Misskredit, wenn wir Untersuchungen machen, die nicht sinnvoll sind. Das Postpolypektomiekontroll-Vorgehen bei uns muss evidenzbasiert sein.

Erstmals soll für die Entscheidung über eine adjuvante Chemotherapie im Stadium II nach R0-Resektion der Mikrosatellitenstatus herangezogen werden. Was sagt er aus?

Schmiegel: Bei Mikrosatelliteninstabilität ist eine adjuvante Therapie kontraproduktiv: Die Patienten leben kürzer als Patienten ohne Chemotherapie. Deswegen muss im Stadium II zwingend zuerst der Mikrosatellitenstatus bestimmt werden. Bei MSH-D (D steht für „deficient“) soll keine Chemotherapie durchgeführt werden, bei MSH-P (P für „proficient“) kann man darüber nachdenken.

Wie wichtig ist es, mit der adjuvanten Chemotherapie früh nach der Operation zu beginnen?

Schmiegel: Wenn nach der Operation mehr als sechs Wochen vergehen, schwindet der Effekt der adjuvanten Therapie zunehmend. Beginnt man nach mehr als zwölf Wochen, ist kein Nutzen mehr zu erreichen. Man muss so früh wie möglich anfangen, ideal ist ein Zeitfenster von zum Beispiel drei bis vier Wochen postoperativ.

Bei primär resektablen Lebermetastasen oder R0-Resektion von Metastasen sind neoadjuvante beziehungsweise adjuvante Therapien keine Optionen mehr. Warum nicht?

Schmiegel: Die Daten zeigen keine Verbesserung des Outcomes für die Patienten. Man versteht es nicht, aber das ist so und wir müssen uns der Wissenschaft beugen.

Neu sind Kriterien für die zielgerichtete Therapie. Die Erstlinientherapie mit EGFR-Antikörper wird nur bei linksseitigem Primärtumor und RAS-Wildtyp empfohlen. Was lässt sich damit erreichen?

Schmiegel: Die Anti-EGFR-Therapie bei linksseitigem Primärtumor und all-RAS-Wildtyp ist zwingend. Das hat zwei Gründe: 1. Die richtige Erstlinienwahl ist entscheidend für das Überleben. Es kann mit dieser Konstellation im metastasierten Zustand im Median 33 bis 34 Monate erreichen. Wir kennen sogar Patienten, die sechs bis sieben Jahre überleben. 2. Wenn zuerst andere Therapien gegeben werden, ist das Ergebnis bei linksseitigem all-RAS-Wildtyp-Tumor deutlich schlechter. Deswegen wird auch in der Leitlinie empfohlen, die Marker vor der Erstlinientherapie zu testen.

Eine Induktionschemotherapie kann jetzt pausiert oder deeskaliert werden. Worauf beruht die Empfehlung?

Schmiegel: Man kann die Chemotherapie deeskalieren, zum Beispiel Irinotecan oder Oxaliplatin wegnehmen und nur mit 5-Fluorouracil plus Biological behandeln, wenn die Nebenwirkungen für die Patienten zu intensiv sind. Lebensqualität und nicht Lebensverlängerung um jeden Preis ist unser Ziel für die Patienten.

Erstmals werden Immun-Checkpoint-Hemmer als Option für vorbehandelte Patienten mit metastasiertem Kolorektalkarzinom erwähnt. Wie ist hier der Status quo?

Schmiegel: In den USA ist Pembrolizumab mittlerweile nicht nur für Kolonkarzinome, sondern für alle Karzinome mit Mikrosatelliteninstabilität (MMR-D) zugelassen. Nivolumab hat nur die Zulassung für das Kolonkarzinom mit Mikrosatelliteninstabilität. Bei uns sind die Immun-CheckpointHemmer noch nicht zugelassen, wir müssen Einzelanfragen an die Krankenkassen richten.

Welche Fragen sind aus Ihrer Sicht für die nächste Leitlinienaktualisierung zum Kolorektalkarzinom vordringlich zu klären?

Schmiegel: Bei den Leitlinien ändern wir gemeinsam mit allen Beteiligten (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten) gerade das Prozedere. Die Aktualisierung dauert mittlerweile zu lange. Aktuelle Erkenntnisse können künftig in Form von Amendments in bestehende Leitlinien integriert werden. Die nächsten Amendments werden die fünf Themenkomplexe betreffen, die jetzt ausgespart wurden — auch da gibt es viel Neues.

Das Interview führte Dr. Beate Schumacher.