Kaum ein Thema wird in der Onkologie so kontrovers diskutiert, wie dieses. Allein die aus dem angloamerikanisch stammende Zusammenziehung des Begriffs Komplementäre und Alternative Medizin (KAM) dürfte für einen erheblichen Teil der kontroversen Diskussion verantwortlich sein. Jedoch setzt sich zunehmend die Trennung beider Begriffe durch. Alternative Medizin steht nicht auf dem Boden der wissenschaftlichen Vorstellungen von Karzinogenese, Diagnostik und Therapie sowie der evidenzbasierten Medizin. In der Onkologie wird sie häufig nicht nur an Stelle der konventionellen Medizin ("alternativ"), sondern vorwiegend parallel eingesetzt. Aber: eine Therapie, für die weder ein Wirksamkeitsnachweis in der gewählten Indikation erbracht wurde, und die nicht im Einklang mit modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Karzinogenese und Tumortherapie steht, bleibt eine alternative Therapie.

Komplementäre Medizin hingegen ist eine ergänzende Therapie mit meist aus der Natur- und Erfahrungsheilkunde stammenden Methoden, die die Herangehensweise der evidenzbasierten Medizin akzeptiert und vorwiegend Methoden einsetzt, die der Patient selber anwenden kann, also Selbstwirksamkeit fördern sollen. Im weiteren Sinne gehören zu ihr auch ausgewogene Ernährung und körperliche Aktivität. Gründe für den Einsatz von KAM sind vielfältig. Insgesamt scheint ein Konsens zwischen den Patienten und Professionellen zu bestehen, dass ein wesentlicher Benefit von KAM in einer Verbesserung der Bewältigungsstrategie ("Coping") und der Förderung der Patientenautonomie bestehe.

Hinweis auf Verunsicherung des Patienten?

KAM wird vielfach als Pseudo-Placebo eingesetzt ("Hilft nicht, schadet aber auch nicht"). Abgesehen von ethischen Bedenken angesichts einer Irreführung von Patienten muss dieser postulierte Nutzen den Risiken wie Neben- und Wechselwirkungen, zusätzlichen Belastungen (u. a. zeitlicher und ökonomischer Aufwand) gegenübergestellt werden. Jede Methode, der eine wissenschaftlich erklärbare Wirkweise und/oder die Belege aus präklinischen und klinischen Studien fehlen, erfordert einen Glauben an die Darstellung des Arztes (nicht zu verwechseln mit Vertrauen in das Können und die Kompetenz) und führt damit zu einer Abhängigkeit, auch wenn dieser Weg vom Patienten autonom getroffen wurde. Hinzu kommt, dass Patienten, die z. B. bei Bagatellerkrankungen positive Erfahrungen mit alternativer Medizin gemacht haben, häufiger bereit sind, diese auch im Falle eines ernsthaften Krankheitszustandes wie einer Krebserkrankung zu bevorzugen. Diese Entscheidung kann durch Verzögerung sinnvoller Therapien für Krebspatienten ein lebensbedrohliches Risiko darstellen.

Ein wesentliches Argument für KAM ist, dass in der modernen Schulmedizin oft die Zuwendung zum Menschen fehlt und es deshalb dieser Erweiterung bedarf. Erstaunlicherweise scheinen viele Schulmediziner diesem Punkt zuzustimmen und damit zu akzeptieren, die Zuwendung zum Patienten nicht mehr als ihre eigene berufliche Aufgabe zu betrachten. Die Enttäuschung der Patienten über die sie behandelnden Ärzte ebenso wie die zunehmende Frustration unter Ärzten und Pflegekräften erfordern andere Wege, um die Entmenschlichung der modernen Medizin zu verhindern. Eine Auslagerung der Aufgabe "Menschlichkeit" auf zusätzliche Behandler befördert die aktuell gefährliche Entwicklung.

Gute Komplementärmedizin beginnt in der Onkologie beim Zuhören - was bewegt den Patienten, warum fragt er nach KAM, und mit welcher Herangehensweise kann ich diese (evidenzbasiert) erreichen? Die meist beste Antwort mit der höchsten Evidenz ist: ausgewogene Ernährung und körperliche Aktivität - eine Antwort, die jeder Arzt überzeugend geben können sollte.

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"Ein wesentliches Argument für KAM losgelöst von Evidenz ist, dass in der modernen Schulmedizin oft die Zuwendung zum Menschen fehlt und es deshalb dieser Erweiterung bedarf."

Prof. Dr. Jutta Hübner Stiftungsprofessur für Integrative Onkologie der Stiftung Deutsche Krebshilfe, Klinik für Innere Medizin II am Universitätsklinikum Jena