Mit dem Test auf IgM-Antikörper und dem direkten Virusnachweis in der PCR ist die Maserndiagnostik heute recht zuverlässig, betont Prof. Dr. Thomas Mertens, Ulm.
? Zur Ausrottung der Masern wäre eine Impfquote von 95 % erforderlich. Erwarten Sie, dass sich die Situation verbessert, nachdem das neue Präventionsgesetz bei der Aufnahme in die Kita jetzt eine ärztliche Impfberatung fordert?
Prof. Thomas Mertens: Den Effekt dieser neuen Regelung auf die Impfraten kann ich nur schwer einschätzen. Ich halte die Impfberatung vor dem Eintritt in die Kita aber für einen vernünftigen Ansatz. Darüber hinaus ist es eine wesentliche Aufgabe, nicht nur der Pädiater, sondern aller niedergelassenen Ärzte, sich um die Durchimpfung zu kümmern. Bei jedem Patientenkontakt sollte nach dem Impfstatus gefragt werden.
Zu den Durchimpfungsraten muss man noch zwei Punkte beachten: In diese Statistik gehen Kinder, die keinen Impfpass haben, nicht ein. Deshalb ist zu befürchten, dass die tatsächliche Quote niedriger ist. Außerdem sind die Zahlen zu den bundesweiten Durchimpfungsraten bei den Schulanfängern nicht wirklich hilfreich. Bei genauer Betrachtung der einzelnen Landkreise fallen nämlich sehr unterschiedliche Raten in den verschiedenen Gegenden auf. Es gibt Cluster, in denen die Impfquoten weit unter dem Republikdurchschnitt liegen.
? Die Kontrolle des Impftiters nach zweimaliger Masernimpfung wird von der STIKO ausdrücklich nicht empfohlen. Gilt dies auch für immundefiziente Kinder? Welche dieser Kinder können mit Lebendimpfstoffen geimpft werden?
Mertens: Es gibt ja eine breite Palette von Immundefekten, von schweren angeborenen Immundefekten wie SCID bis hin zu leichteren Formen eines IgA-Mangels. Bei leichten Immundefekten oder geringeren Ausmaßen einer Immunsuppression etwa kann durchaus auch mit Lebendimpfstoffen geimpft werden. Dies muss jeweils individuell geprüft werden. Wenn man weiß, dass bei einem Kind ein Immundefekt besteht, sollte unbedingt ein infektionsimmunologisch versierter Arzt hinzugezogen werden, um die Situation einzuschätzen. Dazu wird ein Score erstellt, anhand dessen man dann die Entscheidung treffen kann, ob eine aktive Impfung stattfinden kann oder soll.
In diesem Zusammenhang sind auch andere Aspekte von Bedeutung, etwa die Frage, ob das Kind schon weitere Impfungen erhalten und wie es diese vertragen hat. Auch das Alter, die genetische Grundlage des Immundefekts oder ggf. eine immunsuppressive Medikation spielen eine Rolle für die Beurteilung. Bei einem immunsupprimierten Kind etwa könnte die Impfung möglicherweise verschoben und dann durchgeführt werden, wenn die Immunsuppression aus medizinischen Gründen zurückgenommen worden ist.
Natürlich ist es gerade bei immundefizienten Patienten wichtig, den Impferfolg zu überprüfen, in der Regel sechs Wochen nach Beendigung der Impfserie. Werden persistierende IgG-Antikörper nachgewiesen, war die Impfung erfolgreich.
? Wie soll der Kinderarzt bei Verdacht auf einen sporadisch auftretenden Masernfall verfahren?
Mertens: Nur etwa 20 % der sporadischen Fälle werden virologisch diagnostiziert. Verdächtig ist beispielsweise eine prodromale unspezifische Symptomatik mit Bindehautentzündung und Symptomen eines Infektes des oberen Respirationstrakts. Wann immer der Arzt den Verdacht einer Maserninfektion hat, sollte er möglichst sofort eine virologische Diagnostik einleiten. Dazu gehört der Nachweis von IgM-Antikörpern gegen das Masernvirus. In den ersten zwei Tagen mit Exanthem kann dieser Test allerdings gelegentlich noch nicht deutlich positiv sein. Zusätzlich sollte meines Erachtens parallel eine RT-PCR aus dem Urin oder Rachenabstrich durchgeführt werden. Ein negatives PCR-Ergebnis drei Tage nach Exanthembeginn ist ein recht gutes Ausschlusskriterium für eine Maserninfektion, vor allem dann, wenn zusätzlich keine IgM-Antikörper nachgewiesen wurden.
Die Untersuchungsergebnisse sollten möglichst noch am gleichen Tag vorliegen, damit die Kontaktpersonen des Kindes rasch erfasst und je nach Alter aktiv oder passiv geimpft werden können. Eine Isolierung würde ich bei begründetem Verdacht schon vor dem Laborergebnis einleiten und diese dann wieder aufheben, wenn sich der Verdacht nicht bestätigt.
? Seit einigen Jahren geht man davon aus, dass die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) deutlich häufiger auftritt als bislang angenommen. Wie lauten die aktuellen Einschätzungen hierzu?
Mertens: Eine deutsche Studie aus dem Jahr 2013 und eine kalifornische aus 2017 kommen erstaunlicherweise zu ganz ähnlichen Zahlen. Sie besagen, dass die Häufigkeit der SSPE gerade bei Kindern, die jünger als fünf Jahre waren, als sie die Masern durchgemacht haben, etwa zehnmal so hoch ist wie früher vermutet. Die deutsche Studie von Schönberger und Kollegen gibt eine Häufigkeit von 1 : 1.700-1 : 3.300 an, die Autoren der amerikanischen Studie von Wendorf et al. kommen auf 1 : 1.367. Dabei kann es sehr lang dauern, bis die SSPE ausbricht. Einzelfälle belegen Latenzzeiten zwischen zweieinhalb und 34 Jahren. Der Durchschnitt liegt bei etwa neuneinhalb Jahren.
! Herr Professor Mertens, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Christine Starostzik.
Author information
Consortia
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Springer Medizin. Bei Masernverdacht sofort virologische Diagnostik einleiten!. Pädiatrie 29, 8 (2017). https://doi.org/10.1007/s15014-017-1144-1
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s15014-017-1144-1