Laut Prof. Manfred Cierpka, Heidelberg, ist das exzessive Schreien im Säuglingsalter in der Regel nicht auf Bauchschmerzen zurückzuführen, sondern vielmehr Ausdruck einer Regulationsstörung. In diesem Sinne müsse man die Eltern von der Vorstellung entlasten, ihr Baby leide unter Schmerzen.
? Herr Prof. Cierpka, haben Sie eine Vermutung, warum die Schreidauer in den verschiedenen Ländern differiert?
Prof. Manfred Cierpka: Zwischen den verschiedenen Ländern bestehen erhebliche soziokulturelle Unterschiede, die sich auf das Schreiverhalten der Kinder auswirken. Während beispielsweise in vielen afrikanischen Ländern die Mutter ständig präsent ist und dadurch jede Frustration und jeder kleinste Anlass, zu schreien, vermieden wird, setzt man in Deutschland wie auch in anderen industrialisierten Ländern viel mehr auf die Autonomie des Kindes. Insofern können global ermittelte Perzentilen auch nur ein grober Richtwert sein, der im Individualfall nicht viel weiterhilft. Für die Pädiater hierzulande kommt es letztlich darauf an, individuelle Konzepte zu entwickeln, wie sie den Familien helfen können.
? Ist es das Bauchweh, welches Kinder mit sogenannten Dreimonatskoliken zum Schreien bringt?
Cierpka: Nein, es ist genau umgekehrt: Der gespannte Bauch, der zu Bauchschmerzen führt, ist eine Folge des Schreiens. Alles, was wir inzwischen über exzessives Schreien wissen, deutet darauf hin, dass nur in seltenen Fällen Koliken im Darm vorliegen, die etwa durch Unverträglichkeit von Milch oder durch andere Darmprobleme verursacht sind. Die Dreimonatskoliken sind für mich ein Mythos.
? Was steckt dann dahinter?
Cierpka: In der Regel gelingt bei diesen Babys die Selbstregulation nicht in ausreichendem Umfang. In den ersten drei Lebensmonaten muss der Säugling lernen, Schlaf- und Wachzustände, Hunger und Sättigung etc. zu regulieren. Besonders wache, hyperreaktive und stimulationssuchende Säuglinge benötigen hierfür ein hohes Maß an regulierender Unterstützung durch die Eltern. Die üblichen Beruhigungshilfen durch die Eltern sind dann oft nicht ausreichend wirksam.
Der vielfach propagierte Umstieg vom Stillen auf Fläschchennahrung als Mittel gegen das Schreien ist in den wenigsten Fällen hilfreich. Dies kann höchstens dann etwas bringen, wenn die Mutter sehr angespannt stillt und durch das Fläschchengeben entlastet wird. Wenn die Mutter ruhiger ist, kann sich auch das Kind entspannen.
? Wie hilfreich sind die Kriterien nach Wessel zur Definition von exzessivem Schreien?
Cierpka: Die Wessel-Regel ist ein Versuch, das Schreien zu objektivieren. In der Praxis nützt einem das jedoch nicht sehr viel. Wir haben, wenn wir vom subjektiven Leiden der Mütter und ihrer Babys ausgehen, eine große Variation. Es gibt Eltern, die erstaunlich viel Schreien aushalten. Andere sind schon bei insgesamt einer Stunde Schreien am Tag verzweifelt. Oft ist damit die Fantasie verbunden, das Baby könnte Schmerzen haben oder es könnte ihm sonst irgendetwas fehlen. Ohnmacht und Hilflosigkeit spielen hierbei eine große Rolle. Die subjektive Belastung der Eltern ist wichtiger als die objektive Wessel-Regel.
? Welche somatischen Ursachen sollte man als Arzt abklären?
Cierpka: Üblicherweise wird man ein Kind sofort zum Beispiel auf geburtsbedingte Frakturen der Beinchen oder Ärmchen untersuchen. Wenn Mütter nicht nur stillen, sondern Fertigmilch dazunehmen, kommt es häufig zur Milchunverträglichkeit. Abzuklären sind daneben auch Stoffwechselerkrankungen sowie der Reflux, der heutzutage gut zu diagnostizieren ist. Das sind aber auch schon die wesentlichsten Punkte.
? Was kann der Kinderarzt raten?
Cierpka: Wir sagen den Eltern, dass es bei den meisten Kindern darum geht, nicht die Erregung zu fördern, sondern die Beruhigung. Es gibt schon unter den Babys „sensation-seekers“, Kinder, die Umweltreize aufsaugen. Kurzfristig lassen sich Babys mit solch „schwierigem“ Temperament zwar beruhigen, etwa wenn die Eltern es schaukeln oder mit ihnen abends im Auto um den Block fahren. Wenn das funktioniert, machen die Eltern es immer wieder. Aber damit bieten sie nur noch zusätzliche Umweltreize an, und das Kind hat dann aufgrund des erhöhten Erregungslevels noch größere Schwierigkeiten, in den Schlaf zu kommen. Von so etwas würde ich abraten.
? Wie sollten die Eltern auf das Schreien reagieren?
Cierpka: Sie sollten eher weniger anbieten und nicht immer wieder etwas Neues. Dann können sich die Kinder beruhigen und kommen leichter in den Schlaf. Oft gehen mit dem exzessiven Schreien ja auch Schlafstörungen einher. Man sollte jedoch vorsichtig mit Schuldzuweisungen sein. Sehr viele Eltern geben sich wirklich große Mühe, mit dem Kind zurechtzukommen. Wenn man sie auf die Erfolge des „Herunterfahrens“ hinweist, nehmen sie das meist sehr schnell an und der Teufelskreis wird durchbrochen. Bei Eltern, die von vornherein Schwierigkeiten haben, in eine gute Beziehung mit dem Kind zu treten — das sind etwa 8 % — ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass das exzessive Schreien nach der 14. Lebenswoche persistiert.
! Herr Prof. Cierpka, vielen Dank für das Gespräch.
Literatur
Das Interview führte Dr. Elke Oberhofer.
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Springer Medizin. „Manche Schreibabys sind ‚sensation-seekers‘“. Pädiatrie 29, 7 (2017). https://doi.org/10.1007/s15014-017-1037-3
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