Die Wahrheit über die Ohrmaus

Die Ohrmaus ist nicht etwa eine niedliche Studentin der Ohrakupunktur, sondern eine nackte Labormaus, die vor ca. 10 Jahren als wissenschaftliche Sensation durch die Presse huschte. Sie verursachte einen ziemlichen Proteststurm bei Ethikern und Tierschützern. „Die Welt“ berichtete am 25.10.1995 von einem Durchbruch in der Transplantationschirurgie. Man meinte, das Ohr eines Menschen sei auf den Rücken einer Maus transplantiert worden. Sogar das populäre Wissenschaftsmagazin P.M. berichtete von einer Chimäre, von einem Mischwesen von Mensch und Tier. Die Wahrheit über die sogenannte Ohrmaus war allerdings völlig anders — aber nicht weniger spektakulär: An der Harvard Universität gelang es einem Team der Abteilung Tissue-Engineering unter der Leitung der Brüder Joseph und Charles Vacanti und dem chinesischen Gast-Forscher Cao Yilin, aus Knorpelzellen eines Kalbes Gewebe in Form eines menschlichen Ohres wachsen zu lassen. Der Artikel wurde 1997 unter dem etwas langfädigen wissenschaftlichen Titel „Transplantation of Chondrocytes utilizing a polymer-cell construction to produce Cartilage in the shape of a human ear“ im Journal of Plastic and Reconstructive Surgery publiziert. Zuvor hatten mehrere andere renommierte wissenschaftliche Zeitschriften den Beitrag abgelehnt mit der Begründung, er sei nicht relevant für die medizinische Entwicklung.

Wie entstand nun die Ohrmaus? Die Vacanti Brüder und Cao Yilin verwendeten als Schablone ein biologischabbaubares Polymer — ähnlich den sich auflösenden Dexon-Fäden, welche bei Operationen in der Tiefe verwendet werden oder bei den implantierbaren Dauernadeln. Auf dieses Gerüst, das die Form des Ohres eines dreijährigen Kindes hatte — der Mäusegrösse angepasst — wurden isolierte Kälber-Knorpelzellen aufgebracht. Das Ganze wurde dann einer speziellen Mäuserasse, welche nicht nur keine Haare, sondern auch kein funktionierendes Immunsystem hat, unter die Rückenhaut implantiert. Damit konnten Abstossungs-Reaktionen vermieden werden. Die Blutgefässe der Maus wuchsen dann in den Knorpel hinein und ernährten ihn und bis sich die Schablone aufgelöst hatte, war das Ohr stabil.

Aus den Experimenten der Gebrüder Vacanti hat sich ein neuer Zweig der Biologie entwickelt: Tissue-Engineering. Professor Norbert Meenen, Leitender Oberarzt am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf meint, dass die Ohrmaus lediglich als Demonstrationsobjekt gedacht war, um die Aufmerksamkeit (und Sponsorengelder) auf die Forschungsarbeiten der Vacantis zu lenken. Prof. Meenen erklärt dazu: „Jeder versteht, dass jemand, der bei einem Unfall Ohr oder Nase verloren hat, diese wiederhaben will. Denken Sie nur an Michael Jackson und die kleine Schrumpelnase, die er sich hat zurechtschneidern lassen“.

Bereits 1979 gelang es Eugene Bell vom Massachusetts Institute of Technology, Haut zu züchten. Davon können insbesondere Verbrennungsopfer profitieren. Bis allerdings komplexer aufgebaute Gewebe wie Herzmuskel, Leber oder Nieren gezüchtet werden können, wird noch einige Zeit vergehen. Stammzellenforschung lautet das Stichwort. Erste vielversprechende Resultate bei Menschen sind nicht nur bei der Haut, sondern auch bei Knorpel, Knochen, Luftröhre, Harnblase, Penis und Vagina zu verzeichnen. Andere stehen noch im Tierversuchs-Stadium: Bandscheiben, Nervengewebe, Lunge, Leber, Herz und Gefässe. Man darf gespannt sein. Für die Akupunktur ist das „Retortenohr“ wohl eher ungeeignet.

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Die berühmte „Ohrmaus“ der Brüder Vacanti: Echt oder Fake? (Quelle: www.osumaterials.wordpress.com)

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Dr. med. Andreas Wirz-Ridolfi