Bei jungen Typ-1-Diabetikerinnen treten Essstörungen in Form von Bulimie und Binge Eating zwei- bis dreimal häufiger auf als bei gesunden Frauen — mit weitreichenden Folgen für die Gesundheit der Patientinnen.
MMW: Wie erklärt man sich die übermäßige Häufigkeit von Essstörungen bei jungen Typ-1-Diabetikerinnen? Diese Patientengruppe wird doch im Hinblick auf Ernährung besonders geschult …
Neu: Richtig, diese intensive Schulung bedeutet aber auch eine enorme Beschäftigung mit dem Inhalt und der Menge des Essens. Dadurch geht eine gewisse Selbstverständlichkeit für das Essen verloren. Es wird nach objektiven Gütekriterien beurteilt und nicht nach Lust- und Hungergefühl, wie wir es normalerweise tun. So kommt immer eine Bewertung dazu, die derjenige, der keinen Diabetes hat und nicht so gut geschult ist, nicht vornimmt.
Zudem ist das Risiko für psychische Komorbiditäten bei chronisch Kranken erhöht. Eine chronische Erkrankung bedeutet ja eine zusätzliche, nicht endende Lebensaufgabe. Dass das eine Belastung ist, liegt nahe. Auch die Wirkung des Insulins spielt eine gewisse Rolle. Bei Diabetesmanifestation, also noch vor Diagnosestellung und Einleitung der Insulintherapie, nehmen die Patienten zunächst deutlich an Gewicht ab. Wenn sie dann Insulin spritzen, legen sie schon unmittelbar nach Therapiebeginn deutlich zu. Das heißt, die Wirkung des Insulins auf das Körpergewicht wird sehr früh im Krankheitsverlauf wahrgenommen und führt auch dazu, dass man vielleicht damit jongliert.
MMW: Manche Patientinnen versuchen tatsächlich abzunehmen, indem sie immer wieder auf Insulindosen verzichten. Welche Folgen hat das?
Neu: Sie sprechen das sogenannte Insulin-Purging an, also das heimliche Weglassen von Insulin mit der Intention einer Gewichtsreduktion. Das hat natürlich ziemlich fatale Folgen, wenn die Insulindosis nicht in der Menge gespritzt wird, in der sie benötigt wird, um eine normnahe glykämische Stoffwechsellage zu erreichen. Daraus entstehen sowohl Akutdekompensationen als auch Langzeitschäden. Selbst kurze Phasen in denen die mittlere Blutglukose erhöht ist, schaden den Gefäßen.
MMW: Wie alt sind die Betroffenen durchschnittlich?
Neu: Diese Störungen finden sich meist in der Adoleszenz, also etwa ab 14 Jahren oder im jungen Erwachsenenalter.
MMW: An welchen Anzeichen kann der Hausarzt eine Essstörung bei einer jungen Typ-1-Diabetikerin erkennen?
Neu: Wenn die mittlere Blutglukose bzw. das HbA1c zu einem hohen Prozentsatz über dem Zielbereich liegt und wir dafür keine plausible Erklärung finden, wie z.B. „Insulin vergessen oder unterdosiert“ oder „Pumpe hat nicht funktioniert“, dann sollte man an eine Essstörung denken. Hegt ein aufmerksamer Hausarzt einen entsprechenden Verdacht, sollte er diesen unbedingt an den mitbehandelnden Diabetologen weitergeben.
Interview: Dr. Christine Starostzik
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Springer Medizin. Unerklärliche Blutzuckerwerte — steckt eine Essstörung dahinter?. MMW - Fortschritte der Medizin 161, 8 (2019). https://doi.org/10.1007/s15006-019-0818-8
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