_ Derzeit erkrankt in Deutschland jeder Zweite an Krebs, jeder Vierte stirbt daran. Für die Veranstalter des Symposiums ‚Innovations in Oncology“ in Berlin ist dies inakzeptabel. Sie fordern, alles zu unternehmen, um die Zahl krebsbedingter Todesfälle drastisch zu senken, vielleicht sogar gegen null zu bringen. „Diese Vision-Zero hat ihr Vorbild in einer Initiative im Straßenverkehr“, erläuterte Prof. Christof von Kalle, Berlin. „Sie hat dazu geführt, dass die Zahl der Verkehrstoten in Europa seit den 1970er-Jahren um bis zu 90% sank.“ Eine vergleichbare Entwicklung soll nun auch in der Onkologie stattfinden.

Rund die Hälfte aller Krebserkrankungen vermeidbar

Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge müssten 30–50% aller Krebserkrankungen gar nicht erst entstehen — einfach, indem Menschen Tabakwaren und Alkohol meiden, sich bewegen, Übergewicht abbauen und sich gegen das Hepatitis-B- und das humane Papilloma-Virus impfen lassen. Darüber hinaus können auch Screeningprogramme zur Senkung der Krebsmortalität beitragen. „Modellierungen weisen beispielsweise auf ein sehr gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis bei Tests auf okkultes Blut im Stuhl und bei Koloskopien hin, und beim Mammografie-Screening ist das Verhältnis immer noch günstig“, sagt Prof. Michael Schlander, Heidelberg.

Angesichts der Bedeutung von Prävention und — zumindest manchen — Früherkennungsuntersuchungen könnten Hausärzte die Vision-Zero tatkräftig unterstützen. Allerdings wünscht sich die Zielgruppe bessere Rahmenbedingungen. Dr. Armin Wunder, Facharzt für Allgemeinmedizin in Frankfurt, forderte etwa mehr evidenzbasierte Informationen darüber, was sinnvoll ist. „Nur wenn wir diese Information haben, können wir die Patienten entsprechend sensibilisieren.“ Darüber hinaus verwies er auf den zeitlichen Aufwand für die Beratung. „Ein Anreizsystem, das die sprechende Medizin honoriert, würde hier sicher Zeichen setzen.“

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Vision-Zero soll auch für Krebs gelten.

Und schließlich regte Wunder an, über qualitätssichernde Maßnahmen nachzudenken und beispielsweise Zertifizierungen für Früherkennungsuntersuchungen einzuführen.

Forderung nach einem hausarztzentriertem System

Auch auf Funktionärsseite wird Systemkritik laut. Prof. Erika Baum, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM), beklagte vor allem die Zersplitterung der patientenbezogenen Informationen. Sie tritt für ein Einschreibesystem mit hausarztzentrierter Versorgung ein, bei dem Patientendaten in einer Hand zusammenlaufen und die Honorierung vermehrt über Pauschalen erfolgt. „Das würde die Prävention deutlich nach vorne bringen.“

In Bezug auf die Vision-Zero ist sich Baum sicher: „Wir können viel erreichen, wenn wir an einem Strang ziehen und das, was funktioniert, pushen.“ Sie verwies dazu auf das Darmkrebsscreening mit dem Stuhltest. „Diese Maßnahme ist sinnvoll, allerdings sind die Teilnahmeraten viel zu niedrig.“ Baum plädierte dafür, das Praxispersonal in die Ansprache der Patienten einzubinden. „Wir bieten dazu demnächst in Kooperation mit dem Institut für hausärztliche Fortbildung und der Stiftung Lebensblicke sowie der Vertretung der medizinischen Fachangestellten Fortbildungsmaßnahmen an — ein Modellprojekt, das Vorbildfunktion haben kann.“

Abgesehen davon sieht Baum die Prävention nicht als alleinige Aufgabe der Ärzteschaft an. „Gesundheitskompetenz sollte bereits in den Schulen, noch besser schon in den Kindergärten vermittelt werden.“ Und auch die Politik nahm sie in die Pflicht. „Wir sollten beispielsweise Lebensmittel in Abhängigkeit davon besteuern, ob sie gesundheitsförderlich oder -schädlich sind.“

Derartige Überlegungen sind ganz in von Kalles Sinne. „Auf dem Weg zur Vision-Zero müssen wir wirklich jeden Stein umdrehen.“ Nun bleibt zu hoffen, dass die Steine bald ins Rollen kommen.