Zum Jahresanfang kommt das Inkrafttreten eines Gesetzes mit dem klangvollen Namen Krankenhauszukunftsgesetz natürlich genau richtig. Eingedenk der Defizite bei den Krankenhausinvestitionen wird von der Bundesregierung mit dem Gesetz ein Krankenhauszukunftsfond in Höhe von drei Milliarden Euro eingerichtet. Damit sollen in Krankenhäusern 70 % der IT-Kosten für die Einrichtung von digitalen Aufnahme- und Entlassportalen, die elektronische Dokumentation von Behandlungsleistungen oder ein digitales Medikationsmanagement übernommen werden. Das ist bei dem traurigen Stand deutscher Krankenhäuser in diesen Bereichen dringend notwendig. Auf einer siebenstufigen Skala zur Digitalisierung (Electronic Medical Records Adoption Model) erreichen diese zumeist nur Stufe zwei oder drei. Viele Kolleginnen und Kollegen würden ein ausfallsicheres und schnelleres Krankenhausinformationssystem mit Spracheingabemöglichkeit begrüßen.

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Dies ist zwar für viele Zukunftsmusik, aber nicht visionär. Zu utopischen Fantasien regt in dem Gesetz eher der Passus an, dass das Krankenhauszukunftsgesetz auch die Einführung vollautomatisierter klinischer Entscheidungsunterstützungssysteme fördert. Hier gibt es deutlich mehr Visionäres. So berät das IBM-Programm "Watson for Oncology" weltweit über 200 Onkologen und kann mit enormer Rechenleistung aus klinischen, laboranalytischen und Bildgebungsdaten vor dem Hintergrund aktueller onkologischer Studien die geeignete Therapie vorschlagen.

Nun kann man sich ähnliche Ansätze gut bei Schlaganfall oder Epilepsie vorstellen, da bei der Diagnostik bereits viele digitale Daten aus Bildgebung und EEG anfallen. Aber wohl kaum in der Psychiatrie und Psychotherapie, oder? In diesem Bereich erlebt man wenig Aktivität bezüglich der Entwicklung von Entscheidungsunterstützungssystemen für Experten. Hier haben auch außerhalb der hirnorganischen Erkrankungen weder bildgebende Verfahren noch Laborwerte einen nennenswerten Einfluss auf diagnostische Entscheidungen. Eine Computerisierung allgegenwärtiger Symptomchecklisten zur Diagnostik nach ICD-10 wäre auch kaum ein anspruchsvolles Projekt für die Informatik. Die Schwierigkeit der psychiatrischen Diagnostik besteht ja eher darin, subtile psychopathologische Befund sowie Fremd- und Eigenanamnese auf die Ebene des ICD-10 zu heben.

Nichts wirklich Visionäres für die Psychiatrie?

Neuigkeiten kommen eher aus Entwicklungen außerhalb der klassischen Strukturen von Praxis, Krankenhaus und Apotheke. Die bereits im digitalen Format vorliegenden Daten zur sozialen Interaktion sind erstaunlich dicht. Amazon weiß über die Online-Bestellungen eines bipolaren Patienten am frühesten über die aufkommende Manie Bescheid. Die Suche nach Suizidmethoden bei Google kann ein früheres Warnzeichen für Suizidalität sein als erste Äußerungen im persönlichen Umfeld. Online verbundene, tragbare Fitnesstracker zeigen die psychomotorische Blockade einer Depression an oder die Herzfrequenzzunahme bei einer Panikattacke. Die Analyse der Stimmmodulation im Handy erkennt Angst und Depression. Zusätzlich sind Menschen in erstaunlichem Maße bereit, Fragebögen im Internet auszufüllen. Webseiten zur Selbstdiagnose, nicht Systeme zur klinischen Entscheidungsunterstützung für psychiatrische Fachärzte sind bisher der Beitrag der Internetindustrie. Aber nicht nur die Selbstdiagnose steht im Netz. Internetkonzerne investieren in Online-Psychotherapieangebote mit einer Mischung aus Selbsthilfe und Einzelkontakten in einem Chat mit einem Therapeuten, der rasch zu einem automatisierten Chatbot werden kann. Amazon ist mit Amazon Pharmacy seit Ende letzten Jahres als Apotheker unterwegs. Das Ziel im Endausbau könnte sein: von der Online-Diagnose zum Psychotherapie-Avatar und Medikamentenversand.

Von den Visionen der Internetindustrie zurück zum Jahr 2021, in dem wir bescheiden auf die nervenschonende Einführung der vielen IT-Projekte (elektronischer Entlassbrief, elektronische Übermittlung der Arbeitsunfähigkeit, elektronischer Arztausweis usw.) in den Praxen und Krankenhäusern hoffen. Vor der visionären Therapie durch Dr. Watson als Avatar wird uns letztendlich die Natur der meisten psychiatrischen Erkrankungen bewahren: Die Betroffenen brauchen den unmittelbaren Kontakt zu realen Menschen, um in einer realen Welt zu gesunden.

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Prof. Dr. med. Michael Hüll, Emmendingen

Klinik für Geronto- und Neuropsychiatrie, Emmendingen

E-Mail: m.huell@zfp-emmendingen.de