In seinem Urteil betone der Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Pflicht, Systeme zur Arbeitszeiterfassung zu schaffen, sagt Inken Gallner, Richterin am Bundesarbeitsgericht (BAG) und Verfasserin eines Rechtskommentars zur EU-Arbeitszeitrichtlinie. „Diese Pflicht richtet sich nach meiner Auffassung an die Mitgliedstaaten, nicht unmittelbar an die Arbeitgeber selbst“, so Gallner. „Aus dem Urteil entstehen keine unmittelbaren rechtlichen Verpflichtungen, Arbeitnehmer können sich nicht direkt darauf berufen“, bestätigt Arbeitsrechtler Dr. Uwe Schlegel. Der EuGH lasse den Mitgliedstaaten auch durchaus Spielraum bei der Ausgestaltung.

Sonderregeln für Arztpraxen?

Gerade für kleine Betriebe wie Arztpraxen sei durchaus offen, was kommt, betont Gallner. „Je nach Art des Unternehmens können die Arbeitszeiten zum Beispiel auf dem Papier oder elektronisch erfasst werden. Die Zeiterfassung muss nur objektiv, verlässlich und zugänglich sein.“

Joachim Schütz, Rechtsanwalt und Geschäftsführer des Deutschen Hausärzteverbandes, empfiehlt Praxisinhabern: „Erstmal abwarten, wie sich die Debatte entwickelt.“ Es sei auf jeden Fall gut, schon mal den Markt von Zeiterfassungssystemen zu sondieren.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil kündigte im ARD-Fernsehen eine zügige Anhörung der Verbände an, um die Umsetzung des EuGH-Urteils bis Ende dieses Jahres zu klären. Wenn Bund und Gesetzgeber sich beeilen, dürfte es wenig Sinn haben, wenn Betriebsräte oder einzelne Arbeitnehmer in kleineren Praxen schon vor der anstehenden Gesetzesänderung eine komplette Arbeitszeiterfassung verlangen. Denn eine Klärung vor Gericht ist kompliziert und dauert.

Aktivitäten auf Betriebsebene bringen wenig

Zunächst müssten die Arbeitsgerichte prüfen, ob sie das bisherige deutsche Recht so auslegen können, dass es den Anforderungen des EuGH-Urteils entspricht. Das aber scheint unwahrscheinlich, denn das Arbeitszeitgesetz schreibt eindeutig nur die Aufzeichnung der Überstunden vor. Gallner: „Der deutsche Gesetzgeber wollte sich für die Aufzeichnungspflicht ausdrücklich auf Arbeitszeit beschränken, die über die werktägliche Arbeitszeit hinausgeht.“ Wenn eine EU-konforme Gesetzesauslegung ausscheidet, müssten die Gerichte in der nächsten Stufe klären, ob sich Arbeitnehmer und ihre Vertreter hier unmittelbar auf das EU-Recht berufen können. Das kann der Fall sein, wenn Staaten eine verbindliche Richtlinie nicht richtig umgesetzt haben, oder wenn sich Rechte unmittelbar aus der Grundrechte-Charta ergeben.

Mit Blick auf den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer hat sich hier der EuGH in seinem Urteil zwar deutlich auf die Charta berufen. Das bedeutet aber noch nicht, dass er ein „Grundrecht auf Arbeitszeiterfassung“ oder gar ein „Grundrecht auf Stechuhr“ schaffen wollte.

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Der Europäische Gerichtshof betont in seinem Urteil zur Arbeitszeit die Pflicht, Systeme zur Zeiterfassung zu schaffen.

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„Ich verstehe den EuGH so, dass die Rechte auf Mindestruhezeiten und eine wöchentliche Höchstarbeitszeit wirkliche Grundrechte sind“, so Gallner. „Sie wirken auch gegenüber privaten Arbeitgebern unmittelbar.“ Die Arbeitszeiterfassung selbst ist auch laut EuGH demnach kein Grundrecht, die Richter leiten dies aber als notwendig aus den Grundrechten des Arbeitnehmerschutzes ab.

„Der EuGH sieht den Arbeitnehmer als schwächere Vertragspartei, die geschützt werden muss“, erläutert Gallner. „Die Erfassung der Arbeitszeit dient den Arbeitnehmern als Beweis für ihre Leistung und den Behörden und Gewerkschaften zur Kontrolle, ob Arbeitszeitvorschriften eingehalten werden.“

Assistenzärzte begrüßen Urteil

Das sehen auch die Assistenzärzte im Hartmannbund so: Sie fordern „eindeutig rechtssichere und manipulationsfreie Regelungen zur Erfassung der Arbeitszeiten und Überstunden“. Rund 50 % gaben in einer Umfrage des Verbands an, dass die Arbeitszeit noch nicht einmal konsequent erfasst wird.

Des Weiteren arbeite fast jeder zweite auch heute schon regelwidrig — im Bereitschaftsdienst länger als 50 % seiner regulären Arbeitszeit. Vor diesem Hintergrund begrüßten die Assistenzärzte das EuGH-Urteil: Es gehe über die bisherige deutsche Gesetzgebung hinaus.

Für Arbeitgeber werde das Urteil die Arbeitskosten um einiges in die Höhe treiben. Denn „am Ende muss ja jemand da sein, der auch bei voller Praxis bis zum letzten Patienten bleibt“, so Schütz. Dafür werde dann ein Ausgleich zu gewähren sein.