Kaum ein Berufsfeld ist in den letzten 25 bis 30 Jahren ähnlich expandiert wie das der Kinder- und Jugendhilfe. Nominal, im Sinne unbereinigter Summen, sind die Ausgaben für Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe seit 2001 nahezu um den Faktor 2,5 angewachsen und auch das Personal nimmt – wenngleich in erheblich geringerem Ausmaß – zu. Von den seit Anfang der 1990er Jahre zusätzlich geschaffenen Arbeitsplätzen in Deutschland entfiel, statistisch gesehen, jeder fünfte auf den Bereich des Sozialwesens.

Als Befund ist diese Expansion der Kinder- und Jugendhilfe seit längerem vermerkt und diskutiert. Allerdings wurde sie in den 1990er Jahren als Teil des Ausbaus des Sozialstaates interpretiert, der auf eine Normalisierung‘ der Kinder- und Jugendhilfe als personenbezogener sozialer Dienstleistung verweise. Statt einer Instanz sozialer Kontrolle sei die Kinder- und Jugendhilfe zu einer, ihren Adressat*innen verpflichteten, öffentlichen Dienstleitung geworden, so die damalige Analyse. Kinder- und Jugendhilfe begleite die Biographien junger Menschen im Zuge des Auswachens an bestimmten Stellen und in bestimmten Konstellationen. Und eine solche Begleitung sei durchaus normal geworden, könne also von fast allen Kindern und Jugendlichen einmal im Laufe ihrer Biographie nachgefragt werden.

So wichtig die darin eingelagerten Hinweise auf einen gewissen Grad der ‚Entgrenzung institutionalisierter Lebensverläufe‘, auf die Vervielfältigung ‚prekarisierter Alltage‘ oder die gesellschaftliche ‚Pluralisierung‘ für die jüngere Vergangenheit insgesamt sind, so wenig fasst die These der Normalisierung der Kinder- und Jugendhilfe in angemessener Weise die Entwicklung der vergangenen zweieinhalb Dekaden. Das illustrieren bereits Hinweise, wie die folgenden: Kinder- und Jugendhilfe verzichtet in vielen Fällen keineswegs auf Kontrolle und Disziplinierung, vergewissert man sich nur einmal der repressiven Strategien und Maßnahmen, die bei manchen Trägern und in manchen Kommunen eher eine neue Aufmerksamkeit erhalten haben (z. B. Strategien einer ‚konfrontativen Pädagogik‘ und Maßnahmen einer ‚fakultativ geschlossenen Unterbringung‘ von Kindern und Jugendlichen). Aber auch die, im Vergleich zu den 1980er Jahren, heute eher selbstverständliche und deutlich engere Kooperation der Kinder- und Jugendhilfe mit Justiz und Polizei zeigt, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe keineswegs von ordnungspolitischen Überlegungen emanzipiert hat. Ganz im Gegenteil: In der Zusammenarbeit mit Justiz und Polizei scheint das Arbeiten auf ‚Augenhöhe‘ auf Seiten der Kinder- und Jugendhilfe eher von einer neuen Toleranz gegenüber repressiven Haltungen und Vorgehensweisen geprägt zu sein.

Entsprechend gewinnen Alternativdeutungen gegenüber der Diagnose einer Normalisierung der Kinder- und Jugendhilfe an Gewicht. Deren Expansion wird von solchen Positionen aus nun als Teil der Transformation des vormaligen wohlfahrtsstaatlichen Modells hin zu einem ‚aktivierenden‘ oder auch ‚sozial investiven‘ Staatsmodell verstanden. Mit diesem werde die Stärkung der individuellen Kompetenz(en) von Menschen als zentrale Investitions- und Präventionsstrategie in den Vordergrund gerückt, und damit komme personenbezogenen Maßnahmen, also solchen der Personenbearbeitung und -veränderung, eine neue Bedeutung zu. Tatsächlich bestehen sozialstaatliche Leistungen für Bürger*innen unterhalb des Rentenalters inzwischen quantitativ überwiegend aus personenbezogenen sozialen Dienstleistungen.

Aber auch die faktische Entwicklungsdynamik verweist darauf, dass die jüngeren Veränderungen nicht Teil einer allgemeinen Wohlfahrtsexpansion sind, sondern eher parallel zu einer Verschärfung von Anspruchsvoraussetzungen sowie einer Reduktion des Umfangs und der Gewährungsdauer fiskalischer Transferleistungen verlaufen. Eine Reihe von Beobachter*innen spricht daher statt von einer Normalisierung der Kinder- und Jugendhilfe als solche inzwischen von einem Prozess der ‚(Sozial‑)Pädagogisierung‘ der Sozialpolitik. Folgt man nun solchen Gegenwartsanalysen stellt sich die jüngste Expansion der Kinder- und Jugendhilfe in deutlich anderem Licht dar.

Erinnern wir uns dazu nochmals der wohlfahrtsstaatlichen Programmlogik in der kurzen sozialstaatlichen Prosperitätsphase Mitte des 20. Jahrhunderts, dann war hier das Verhältnis von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit im Allgemeinen, aber genauso von Sozialpolitik und Kinder- und Jugendhilfe im Besonderen, vor allem ein hierarchisches. Folgt man z. B. der Rede Hans Achingers von der ‚Fürsorge als Lückenbüßer‘, galten sozialarbeiterische und sozialpädagogische Aktivitäten bis in die 1970er Jahre als residual. Von dominanter Bedeutung waren die Leistungen aus den Sozialversicherungen und Sozialtransfers. Fürsorgeleistungen, wie die der Kinder- und Jugendhilfe (bzw. vormals der Jugendwohlfahrt), wurden demgegenüber die „Restprobleme“ zur pädagogischen Bearbeitung und Verwaltung zugewiesen, so hat es Lothar Böhnisch einmal formuliert. Von Helge Peters stammt die Provokation, dass genau darin, in der weitgehenden Befreiung aus der sozialpolitischen Zweck-Mittel-Relation, die Professionalisierungschance der Sozialen Arbeit bestand. Pointiert formuliert: Die Kinder- und Jugendhilfe konnte sich als subjektorientiert, partizipativ usw. aufstellen, weil sie im Kern (sozial‑)politisch funktionslos war. Nimmt man diese Provokation einen Moment für bare Münze, so wäre zu fragen, inwieweit mit der (Sozial‑)Pädagogisierung der Sozialpolitik nun nicht die Gefahr der ‚sozialpolitischen Funktionslosigkeit der Sozialpolitik‘ selbst verbunden ist: Pädagogisiert sich diese nämlich, verwirft sie tendenziell ihr Umverteilungs- und Armutsbekämpfungs- wie soziale Gerechtigkeitspotenzial.

Ohne diese Entwicklungsdynamiken nun an dieser Stelle detailliert zu reflektieren, zeigen diese Hinweise schon, dass manche Gesellschaftsangehörigen in den vergangenen Jahren statt adäquaten Grundsicherungs- und Transfereinkommen (adäquat in ihrer Ausrichtung an Inflationsquoten, der Preisentwicklung – insb. den Mietpreisen, kulturellen Teilhabeanforderungen usw.) mit der Anforderung individueller Kompetenzanrufungen konfrontiert werden. Und das nicht selten mit Verweis auf (sozial-)pädagogisierte Zielsetzungen (z. B. individuelle Selbstbestimmung oder Eigenverantwortung).

Zugleich bietet eine solche (Sozial‑)Pädagogisierung auch eine Möglichkeit, erinnert sich die Kinder- und Jugendhilfe ihrer emanzipatorischen Traditionen, die sich in Konzepten der Subjekt‑, Adressat*innen‑, Nutzer*innen‑/Nutzungs- oder Alltagsorientierung widerspiegeln. Doch diese müssen vor dem Kontext der spezifischen und gebrochenen Expansion der Kinder- und Jugendhilfe in den vergangenen Jahren diskutiert und re-konzeptionalisiert werden. Andernfalls tappen sie allzu leicht in die aufgestellte sozialpolitische ‚(Sozial‑)Pädagogisierungsfalle‘, so scheint es.

Der damit angedeutete Horizont, der sich mit den Transformationsbewegungen der jüngeren Vergangenheit in der Sozialpolitik und der Sozialen Arbeit verändert hat, ist es, vor dem die konkreten Entwicklungen, wie die in 2016/17 gescheiterte und Ende 2018 neu aufgelegte Reform des SGB VIII zu lesen und zu diskutieren sind. Vor diesem Hintergrund sind aber auch die eingelagerten Neu-Programmierungen der Kinder- und Jugendhilfe kritisch zu betrachten, z. B. die verkürzte Übersetzung von Kindeswohl als Kinderschutz. In diesem Sinne widmen sich auch die beiden expliziten Schwerpunktbeiträge von Bettina Hünersdorf sowie von Stephan Dahmen und Nina Kläsener diesen Entwicklungssträngen. Doch das vorliegende Heft bietet in seinem erweiterten Schwerpunkt noch weitere Beiträge an, die sich gegenwärtigen Konstellationen und Dynamiken in der bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilfe zuwenden.

So stellt Jakob Humm am Beispiel empirischen Materials defensive und produktive Anpassungsleistungen von strafrechtlich sanktionierten Jugendlichen, die in den ersten Arbeitsmarkt eintreten, dar und zeigt, wie junge Erwachsene so versuchen, Sinn in Erwerbsarbeit zu finden und herzustellen. Melanie Misamer fokussiert die in der Kinder- und Jugendhilfe tätigen Professionellen und argumentiert auf Basis einer quantitativen Erhebung, wie Fachkräfte der Sozialen Arbeit bestimmte professionsethische Prinzipien als handlungsleitende Normen verinnerlichen und sich in ihrer Handlungsplanung auf diese beziehen.

Das Forum widmet sich darüber hinausgehenden Themen wie beispielsweise der theoretische Beitrag von Bernd Dollinger, der drei Paradigmen sozial- und erziehungswissenschaftlicher Wirkungsforschung kritisch diskutiert und auf ihre Adäquatheit in Bezug auf sozialpädagogische Praxis in Frage stellt. Bettina Ritter rekonstruiert aus einer marxistischen Perspektive, wie sogenannte Teenanger-Mütter durch das sozialpolitische Ziel der Eigenverantwortung mit abwertenden und moralisierenden Zuschreibungen der sozialpädagogischen Praxis konfrontiert sind. Barbara Lochner und Pascal Bastian diskutieren auf Basis empirischen Materials die Widersprüchlichkeiten und Begrenzungen in der Beratungs- und Verstehenspraxis von Sozialpädagog*innen in der Arbeit mit geflüchteten jungen Menschen und knüpfen dabei an postkoloniale Argumentationen an.

In der Rubrik Praxis/Hochschule stellt Nikolaus Meyer die aktuellen Entwicklungen der Studierendenzahlen an privaten sowie staatlichen Hochschulen und Universitäten dar und die sich daraus ergebenden Herausforderungen.

In den Forschungsnotizen werden zunächst zwei unterschiedliche Forschungsprojekte in Bezug auf Kinder- und Jugendhilfe präsentiert: Das Forschungsprojekt von Ines Findening, Sabine Klinger und Thomas Buchner fokussiert die Herausforderungen sozialpädagogischer Fachkräfte aus der Perspektive ebendieser im Umgang mit unbegleiteten geflüchteten Kindern und Jugendlichen für Österreich. Inga Selent, Benjamin Strahl, Cynthia Kohring, Karin Böllert und Wolfgang Schröer fragen nach der nachhaltigen Verankerung von Angeboten muslimischer Kinder- und Jugendhilfe in kommunalen Strukturen. Zwei weitere Forschungsnotizen bilden den Abschluss des Heftes: Dirk Halm und Martina Sauer stellen ihre abgeschlossene Bedarfsanalyse zu den Qualifizierungsbedarfen muslimischer Gemeinden in Bezug auf soziale Dienstleistungen vor. Anna Hontschik und Kim-Patrick Sabla diskutieren im Kontext eines Forschungsprojektes zu Professionalität und Geschlecht die forschungs-methodologische Frage des Feldzuganges und inwiefern dieser bereits erste Erkenntnisse über das zu untersuchende Feld bieten kann.

Herausgeber*innen sowie Beirat der Sozialen Passagen wünschen eine spannende, aufschlussreiche Lektüre und laden dazu ein, kritische Rückmeldungen sowie eigene Beiträge zum Abdruck einzureichen.