Zusammenfassung
Die Debatte um Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung wirkt auf das (Selbst‑)Verständnis der Kinder- und Jugendhilfe insgesamt. Der Beitrag stellt kinderschutzbezogene Neuregelungen vor und diskutiert deren fachliche und jugendhilfepolitische Implikationen. Vor dem Hintergrund einer stärkeren Verschränkung von Eingriffs- und Leistungsmodalitäten, einer Verschiebung institutioneller Aufmerksamkeiten in Richtung eines präventiven Managens von potentiellen Gefährdungsrisiken sowie Tendenzen einer kontraktualistischen Aktivierung von Elternverantwortung wird erörtert, inwiefern sich Kinder- und Jugendhilfe in Richtung einer Kindeswohlgefährdungsvermeidungsstrategie entwickelt.
Abstract
The debate about child protection and the endangerment of children’s well-being has an effect on the (self-)understanding of child and youth welfare as a whole. The article presents new child protection-related regulations and discusses their technical and youth welfare policy implications. Against the background of a stronger entanglement of intervention and benefit modalities, a shift of institutional attention towards a preventive management of potential risks as well as tendencies towards a contractualist activation of parental responsibility are discussed. The article then discusses if, and if yes, to what extent child and youth welfare services are developing towards a pure risk-avoidance strategy at the expense of a service orientation.
Notes
Die Verfahrensquote bezeichnet das Verhältnis der Zahl der „8a-Verfahren“ (Verfahrensquote) sowie den sich daraus ergebenden festgestellten Kindeswohlgefährdungen (Gefährdungsquote). Diese „variiert über alle Länder hinweg zwischen 57 Gefährdungseinschätzungen pro 10.000 der unter 18-Jährigen im Stadtstaat Hamburg und 197 bzw. 221 in den Stadtstaaten Bremen und Berlin“ während die Gefährdungsquote, also die Zahl der „8a-Verfahren“ mit einer festgestellten akuten oder latenten Kindeswohlgefährdung pro 10.000 der unter 18-Jährigen „sich im Ländervergleich zwischen 18 bzw. 21 aufgedeckten Kindeswohlgefährdungen im Saarland und in Baden-Württemberg sowie rund 101 in Berlin, gefolgt von etwa 60 in Brandenburg“ (KomDat 2018, S. 5) bewegt.
Marc Schrödter, Pascal Bastian und Brian Taylor (2018) differenzieren Prognoseverfahren im Kindesschutz nach Standardisierungsgrad aufsteigend nach 1.) klassischer „intuitiv-diskursiver Urteilsbildung“, 2.) „Fallrekonstruktiv-diskursiver Urteilsbildung“, 3.) „klassifikatorisch-diskursiver Urteilsbildung“ und „klassifikatorisch-statistischer Urteilsbildung“ (Schrödter et al. 2018, S. 3 f.).
In der Tat ist der Begriff der „Mitwirkungsbereitschaft“ zentral für das Kategorisieren von Fällen nach sogenanntem „Leistungs“- und „Schutz“-Bereich: Unter anderem ist nach § 8a Abs. 3 SGB VIII ein Eingriff in familiale Zusammenhänge erst dann gerechtfertigt, „wenn die Personensorgeberechtigten oder die Erziehungsberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken“. Auch wird die Bereitschaft der Annahme von Hilfen nach § 27 als Anhaltspunkt für die Einschätzung der Bereitschaft und Fähigkeit der Eltern zur Gefahrenabwendung gesehen. Eine inhaltsanalytische Auswertung von Falleingangsbögen ergab, dass das Item „Kooperationsbereitschaft“ an erster Stelle einer sogenannten „inneren Liste“ der Fachkräfte stand (Bastian und Schrödter 2015, S. 278). Es scheint also, als ob man auch in einem neu auf Gefährdungsvermeidung geeichten Kinderschutzsystem nicht an Kategorien vorbeikommt, welche die ko-produktiven Elemente einer Hilfebeziehung hervorheben. Nur wird in diesen die Koproduktion als „Bringschuld“ der Eltern konzeptualisiert.
Der Vollständigkeit wegen ist darauf hinzuweisen, dass das „Institut LüttringHaus [..] im November 2017 den Begriff Auflage durch Sicherstellungspflicht ersetzt“ (Wegenke und Lüttringhaus 2018, S. 185) hat.
Hierbei ist anzumerken, dass die Zahlen der familiengerichtlichen Praxis zur Auferlegung der Inanspruchnahme von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe gem. § 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB „Gebote, öffentliche Hilfen wie Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen“, im Zeitraum 2012–2016 mit etwa 9000 Fällen im Jahr konstant geblieben ist (vgl. Seidenstücker und Weymann 2017, S. 111). Angesichts des eklatanten Anstiegs der 8a-Meldungen sowie der Sorgerechtsentzüge (siehe oben) erscheint diese Konstanz erklärungswürdig. Eine von uns vorgeschlagene, noch empirisch zu belegende Lesart wäre, dass im Rahmen von Schutzplänen ein Einwirken auf die Personensorgeberechtigten bezüglich der Annahme von Hilfen stattfindet, welche den familiengerichtlichen „Geboten“ nicht unähnlich ist. Letzteres würde aber bedeuten, dass die Jugendämter, quasi im „vorauseilenden Gehorsam“, eine Praxis vollziehen, welche eigentlich (aus guten Gründen) ausschließlich der Familiengerichtsbarkeit zusteht.
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Dahmen, S., Kläsener, N. Kinder- und Jugendhilfe als Kindeswohlgefährdungsvermeidungsstrategie?. Soz Passagen 10, 197–210 (2018). https://doi.org/10.1007/s12592-018-0304-7
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DOI: https://doi.org/10.1007/s12592-018-0304-7
Schlüsselwörter
- Kinderschutz
- Kindeswohlgefährdung
- Eingriff und Leistung in der Kinder- und Jugendhilfe
- Aktivierung
- Schutzpläne