1 Anti-feministische Bewegungen als Problem. Einleitung

In der vergangenen Dekade formierte sich in Europa, aber auch in den USA und in Russland, eine anti-feministische Bewegung, die unter der selbstgewählten Bezeichnung „Anti-Genderismus“ gegen Gleichstellungspolitik (Gender Mainstreaming), Frauen- und Geschlechterforschung an Universitäten (Gender Studies) sowie gegen sexuelle Differenz, sei es die Homo-Ehe oder Sexualerziehung an Kindergärten und Grundschulen, mobilisiert. Zu dieser Bewegung zählen die Proteste La Manif Pour Tous gegen die „Ehe für alle“ in Frankreich seit dem Jahr 2013 sowie die deutschen „Demos für Alle“, die sich am französischen Vorbild orientieren (Blum 2015). In Spanien und Italien fanden bereits 2005 und 2007 anti-genderistische Großdemonstrationen mit ähnlicher Stoßrichtung statt (Paternotte 2015). Daher wird die Anti-Gender-Mobilisierung als Reaktion auf die Erfolge von schwulen und lesbischen Bewegungen bzw. der Frauengleichstellung gesehen. Doch ist die Bewegung vor allem auch in jenen Ländern erfolgreich, wo der Prozess der Gleichstellung von Frauen und der Emanzipation von LGBTIQ-PersonenFootnote 1 weit fragiler ist, wie Elżbieta Korolczuk am Beispiel Polens ausführt (Korolczuk 2015, S. 52). Polnische und slowakische Bischöfe organisierten beispielsweise Vorträge gegen Gender und veröffentlichten im Dezember 2013 einschlägige Hirtenbriefe (Marschütz 2014; Maďarova 2015). In anderen europäischen Ländern agiert die katholische Kirche zurückhaltender und säkularisiert ihre Argumentationsstrategien gleichsam auf der Basis (natur-)wissenschaftlicher Gesichtspunkte, wie in Slowenien, Kroatien oder Frankreich (Kuhar 2015; Stambolis-Ruhstorfer und Tricou 2017). Neben der katholischen Kirche, die global gegen Gender agitiert, sind auch evangelikale Gruppen oder Teile der russisch-orthodoxen Kirche an der Anti-Gender-Front beteiligt.

In jüngster Zeit haben auch rechtspopulistische und extrem rechte Akteure den Anti-Gender-Diskurs für ihre nativistische und völkische Propaganda entdeckt. Das erste Positionspapier der „Pegida“ vom Dezember 2014 kritisierte beispielsweise in zwei seiner 19 Punkte sexuelle Selbstbestimmung und Gender Mainstreaming.Footnote 2 Auch das Wahlprogramm der Alternative für Deutschland AfD (2013) reflektiert diesen anti-feministischen Impetus, und die Regierung Orban setzte als Vorreiterin des europäischen „Anti-Genderismus“ die Abschaffung des Faches Gender Studies an ungarischen Universitäten durch.

Das Konzept „Gender“, das von diesen diversen Gruppierungen aufgegriffen und vor allem heftig angegriffen wird, wird teilweise bewusst missverstanden und missinterpretiert, um in einem anti-feministischen Gestus die Einsichten der Frauen- und Geschlechterforschung zu verzerren und lächerlich zu machen oder Maßnahmen der Gleichstellungspolitik zu delegitimieren (Marschütz 2014). So wird von der „Abschaffung“ von Geschlecht bzw. einer Aufforderung zu einer individuellen, bedingungslosen freien Wahl des eigenen Geschlechts gesprochen: Beispielhaft ist hier der Buchtitel der österreichischen FPÖ-Politikerin Barbara Rosenkranz (2008) MenschInnen. Gender-Mainstreaming. Auf dem Weg zum geschlechtslosen Menschen. Allerdings zeigt die Mobilisierung gegen Gender auch, dass die Akteure den Kern der wissenschaftlichen Erkenntnisse und politischen Prämissen, die mit dem Gender-Konzept verknüpft sind, durchaus verstanden haben: Es geht darum, was die zweite Frauenbewegung seit Simone de Beauvoir (damals war das Konzept „Gender“ freilich noch nicht eingeführt) proklamiert: „Man ist nicht als Frau geboren, man wird es“ (Beauvoir 1992, S. 334). In den Worten Sabine Harks und Paula-Irene Villas scheint den selbsternannten Anti-Genderisten klar, „dass der Begriff auf die – im weitesten Sinn – soziale Beschaffenheit von Geschlecht zielt und damit eine naive simplifizierende Vorstellung von Geschlecht als naturhafte, unveränderliche, an-sich-so-seiende Tatsache jenseits sozialer, kultureller und spezifisch historischer Bedingtheiten überwindet“ (Hark und Villa 2015, S. 7).

Mein Artikel will die Frage beantworten, warum der Kampf gegen Gender europaweit vergleichsweise erfolgreich wurde. Um diese Frage beantworten zu können, müssen die gesellschaftlichen und politischen Ursachen der anti-feministischen Mobilisierung unter dem Label „Anti-Genderismus“ ausgeleuchtet werden. Die Anti-Gender-Mobilisierungen, so die These meines Textes, müssen als Ergebnisse umfassender Transformationen europäischer Gesellschaften, vor allem der Geschlechterregime in sogenannten starken Familienernährerstaaten wie Deutschland und Österreich (Langan und Ostner 1991) verortet werden. Geschlechter- und Sexualitätsverhältnisse, so mein Argument weiter, nehmen eine prominente Rolle in einem neuartigen Kampf um Hegemonie ein – wenn auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und unterschiedlicher Deutlichkeit in europäischen Ländern. Der Kampf gegen „Gender“ ist, so will ich deutlich machen, Einsatz in einem umfassenden Kampf um die Transformation europäischer Gesellschaften, um politische Macht und um Hegemonie (Laclau und Mouffe 2001, S. 129). In den Auseinandersetzungen um „Gender“ werden also nicht allein Geschlechter- und Sexualitätsverhältnisse, sondern auch Vorstellungen von Demokratie, vom Verhältnis zwischen Staat und BürgerInnen in Frage gestellt und neu verhandelt. „Gender“ fungiert in diesen Auseinandersetzungen als „leerer Signifikant“ (Laclau 1996, S. 36), der eine ganze Kette von Bedeutungen und Verhältnissen, die kritisiert und verändert werden sollen, aufruft.

Im ersten Schritt werde ich zentrale Akteure des „Anti-Genderismus“ vorstellen und dann im zweiten Schritt deren wichtigste Argumentationsstränge herausarbeiten. Im Anschluss daran skizziere ich die Veränderungen europäischer Gesellschaften, um zu erklären, dass und wie „Gender“ als ein „leerer Signifikant“ in einem Hegemonialprojekt funktioniert, das zum einen männliche Identitätspolitik ist und zum anderen die Liberalisierung und Demokratisierung europäischer Gesellschaften seit den 1970er-Jahren angreift, ja, liberale Demokratie per se in Frage stellt.

2 Akteure des selbsternannten „Anti-Genderismus“

In ihrer heute gängigen, diffamierenden Verwendungsweise wurden die Begriffe „Gender-Theorie“ oder „Gender-Ideologie“ von der katholischen Kirche Mitte der 1990er-Jahre als Reaktion auf die Integration des Gender-Konzepts in die Abschlussdokumente der UN-Konferenzen in Kairo 1994 und Beijing 1995 geprägt (Marschütz 2014; Paternotte 2014, 2015; Favier 2015). Angriffspunkte waren damals vor allem reproduktive Rechte für Frauen, also das Recht auf Abtreibung, sowie die Anerkennung von Homosexualität. Beides verknüpften die katholischen Vertreter mit dem Gender-Konzept. Diese katholische Gegenposition zum Gender-Konzept wurde schließlich in den Folgejahren in einer Reihe kirchlicher Schreiben weiter ausformuliert wie beispielsweise im vom Päpstlichen Rat für die Familie im Jahr 2000 herausgegebenen Dokument Ehe, Familie und „faktische Lebensgemeinschaften“. Darin wird die vermeintliche Gefahr der konstruktivistischen „Gender-Ideologie“ folgendermaßen beschrieben:

Jede sexuelle Einstellung, und damit auch die Homosexualität, sei so zu rechtfertigen. Die Gesellschaft müsse sich ändern, um in der Gestaltung des Gesellschaftslebens anderen Geschlechtern neben dem männlichen und dem weiblichen Platz zu machen (Päpstlicher Rat für die Familie 2000).

In Europa avancierten seit der Millenniumswende der Vatikan, katholische Intellektuelle und katholische Laienorganisationen zu zentralen Akteuren der Anti-Gender-Mobilisierung. Auch transnationale christliche Akteursnetzwerke wie der „World Congress of Families“, der 1995 als US-amerikanisch-russisches Projekt gegründet wurde, befeuern diese globale anti-feministische Mobilisierung (Moss 2017). Eine der international prominenten Figuren, die in diesen Kontexten auftritt, ist die deutsche Publizistin Gabriele Kuby, deren 2006 erschienenes Buch Gender-Revolution – Relativismus in Aktion (Kuby 2006) ebenso wie ihre späteren Veröffentlichungen wesentlich zur Popularisierung des Anti-Gender-Diskurses beitrugen, insbesondere in den Kirchen postkommunistischer Länder (Marschütz 2014; Chołuj 2015, S. 221; Korolczuk 2015, S. 47).

Neben Protestveranstaltungen im öffentlichen Raum gehört zum Mobilisierungsrepertoire der Anti-Gender-Gruppierungen auch die Nutzung digitaler Formen der mehrsprachigen konservativen Online-Petitionsplattform CitizenGo (Hodžić und Bijelić 2014, S. 11; vgl. auch Korolczuk 2015, S. 47). CitizenGo organisierte beispielsweise die Kampagne gegen den Estrela-Report – den Bericht über sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte (Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter 2013), der u. a. einen legalen und sicheren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen forderte. Die wenige Monate später organisierte Online-Kampagne gegen den Lunacek-Report (EU-Fahrplan zur Bekämpfung von Homophobie und Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität, Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres 2014) konnte die Annahme des Berichts Anfang Februar 2014 allerdings eben so wenig verhindern wie den Estrela-Report (Hodžić und Bijelić 2014, S. 18 f.).

In Deutschland und Österreich haben sich zudem Gruppen sogenannter „besorgter Eltern“ zusammengeschlossen, die vor der vermeintlichen „Frühsexualisierung“ durch Sexualerziehung in Kindergärten und Schulen warnen (Schmincke 2015). Der katholische Diskurs der „Gender-Ideologie“ fand in einigen europäischen Ländern Widerhall bei sogenannten Männer- und Väterrechtsbewegungen (Weiss 2013). Diese kritisieren nicht allein Gleichstellungspolitik, die sie diskriminiere und ihrer Rechte (z. B. auf ihre Kinder) beraube, sondern darüber hinaus eine generelle „Verweiblichung“ der Gesellschaft. Mit der Rede von einer angeblichen „Krise der Männlichkeit“ geht ein aggressiver Maskulinismus einher, wie das Zitat des AfD-Politikers Björn Höcke, der den Topos der Feminisierung aufgreift, zeigt: „Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken. Denn nur wenn wir unsere Männlichkeit wiederentdecken, werden wir mannhaft. Und nur wenn wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft, und wir müssen wehrhaft werden, liebe Freunde!“Footnote 3

Diese Einlassungen zeigen, dass rechtspopulistische und rechtsextreme Gruppierungen den sogenannten „Anti-Genderismus“ vorantreiben. In Österreich kam die Debatte um die „Gender-Ideologie“ erstmals 2008 durch eine Publikation der deutschnationalen, nicht-religiösen FPÖ-Politikerin Barbara Rosenkranz (2008) auf die Agenda. Auch in Deutschland vertreten die Parteien AfD und NPD ebenso wie Pegida Anti-Gender-Argumente (Blum 2015; Ganz 2015; Lang 2015) sowie die Identitäre Bewegung und deren sich als feministisch bezeichnender Ableger „120 Dezibel“, eine Anti-Gender-Haltung.

In dieser rechtspopulistischen bzw. extrem rechten Variante findet der „Anti-Genderismus“ seinen Hintergrund in einer völkisch-rassistischen Sorge um die demographische Entwicklung europäischer Staaten (unter Bezug auf Renaud Camus’ (2016) Konzept des „großen Austauschs“), die mit anti-muslimischen Argumentationsmustern gegen die Flüchtlingsbewegungen verzahnt wird (Mayer et al. 2015).

Dem „Anti-Genderismus“ gelingt es also, eine große Bandbreite recht unterschiedlicher Akteure zusammenzufügen und partielle Übereinstimmungen zwischen konservativen katholischen Gruppierungen, äußerst elitären, ultrakonservativen Organisationen wie etwa dem internationalen rechts-katholisch und auf ein adliges Klientel ausgerichteten Verband „Tradition, Familie, Privateigentum“ und rechtspopulistischen Gruppen, die sich eher als Vertretung der „kleinen Leute“ inszenieren, wie auch Gruppen aus dem links-liberalen Milieu, die gegen die „political correctness“ von „Gender“ polemisieren (Pfaller 2017), zu schaffen.

3 Zentrale Deutungsmuster der Anti-Gender-Mobilisierung

Im Folgenden möchte ich sechs zentrale Argumentationsmuster skizzieren, die im europäischen Kontext gegen „Gender“ aufgerufen werden. Als erstes fällt das Beharren auf einer „natürlichen“ Zweigeschlechtlichkeit auf, die mit der Vorstellung von traditionellen Frauen- und Männerbildern und vor allem einer patriarchalen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung einhergeht. Zwar hat sich die politische Rechte in den letzten Jahren rhetorisch modernisiert und schließt nun an Gleichstellungsdiskurse an. Amesberger und Halbmayr (2002, S. 308) konstatieren für die österreichische Freiheitliche Partei (FPÖ) beispielsweise ein „modernisiertes traditionelles Rollenbild“, wie dies de Lange und Mügge (2015, S. 63) auch für Belgien und die Niederlande feststellen konnten. Dennoch gehört die Berufung auf ein zweigeschlechtlich-polares Geschlechterkonzept, auf die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und damit verbundene Geschlechterrollen des männlichen Familienernährers und der Frau als Mutter und Sorgearbeiterin noch immer zum rechten populistischen Repertoire in Europa (Sauer et al. 2017, S. 113).

Eine zweite zentrale Argumentationsfigur, die sich in unterschiedlichen nationalen und lokalen Kontexten artikuliert, fokussiert auf den „Schutz der Familie“, namentlich der naturalisierten, heterosexuellen Kleinfamilie (Schmincke 2015), die durch „Gender“ als gefährdet erscheint. Den einen „Anti-Genderisten“ gilt die Familie als „Keimzelle“ des Staates, der Gesellschaft oder der Nation, den anderen als Verkörperung christlich-konservativer Werte und wieder anderen wie etwa der AfD als Versinnbildlichung „unsere(r) gemeinsame(n) Zukunft“ (AfD 2013) oder im Kontext anderer rechtsextremer Weltdeutungen als völkisches Bollwerk.

Drittens ist mit der Anrufung der Figur des bedrohten Kindes eine homophobe Argumentation verbunden, besonders dann, wenn gegen Sexualerziehung in öffentlichen Einrichtungen agitiert wird. Dann werden zudem Elternrechte in Bezug auf die Erziehung von Kindern eingefordert, so dass über die „Chiffre Kind“ (Schminke 2015) auch das Verhältnis von Staat und privatem Bereich neu verhandelt und einer Re-Privatisierung von Erziehung das Wort geredet wird.

Viertens wird dem „Genderismus“ vorgeworfen, die BürgerInnen zu bevormunden, ja einen neuen Totalitarismus zu befördern. Häufig wird diese Unterstellung an inter- bzw. supranationale Organisationen – die EU oder die UNO – im Stile einer populistischen Anti-Elite-Argumentation adressiert, oft aber auch gegen nur vage definierte Eliten „der Genderisten“ gerichtet, seien dies sozialdemokratische Gleichstellungspolitikerinnen oder Gender-ProfessorInnen. Die „Gender-Ideologie“ wolle in totalitärer Weise die Gesellschaft umgestalten und beabsichtige, das Leben jedes einzelnen zu dominieren. Dies kommt zum Teil als anti-europäische Haltung (besonders in Russland; vgl. Moss 2017), als Anti-EU-Rhetorik (in europäischen rechtspopulistischen Diskursen; vgl. Mayer und Sauer 2017), als Anti-Amerikanismus (Ganz 2015) oder als Wiederkehr eines totalitären Sozialismus (vor allem, aber nicht nur in post-kommunistischen Staaten; Graff 2014, S. 433) daher. Die Wortkreation „Gender-Ideologie“ verweist in diesem Deutungsmuster auf ein dem Alltagsdiskurs entlehntes Verständnis von Ideologie – nämlich falsches Bewusstsein mit dem Zweck der Manipulation.

Ein fünftes Deutungsmuster ist die Konstruktion eines vermeintlich gleichberechtigten und emanzipierten Okzidents und eines frauenunterdrückenden, intoleranten Orients. In dieser Figur wird Gleichberechtigung von Frau und Mann als europäischer Wert zur Abgrenzung gegenüber den „Anderen“ in Stellung gebracht, obgleich der „Anti-Genderismus“ traditionelle Geschlechterverhältnisse in europäischen Ländern wiederhergestellt sehen möchte. Die Verknüpfung von Anti-Gender- und Anti-Migrations-Mobilisierung erklärt diese auf den ersten Blick widersprüchliche Konfiguration insbesondere rechter Akteure: Das Beharren auf die „Frauenfreundlichkeit“ und die Gleichstellungskultur europäischer Gesellschaften entpuppt sich als Legitimation für den Ausschluss der als „Andere“ identifizierten Menschen, wenn etwa Gewalt gegen Frauen ausschließlich in externalisierter Form auf Geflüchtete und Migranten projiziert wird (Dietze 2015). Sara Farris (2017) hat diese Argumentation als „Femonationalismus“ bezeichnet, also die Aufwertung der eigenen Gesellschaft als „feministisch“ mit dem Ziel der Abwertung von „Anderen“.

Ein sechster Diskursstrang ist der Anti-Intellektualismus, wie er vor allem in rechtspopulistischen Argumentationslogiken zu finden ist. Angegriffen werden politische und intellektuelle Eliten von GleichstellungspolitikerInnen und ProfessorInnen der Gender Studies, die mit dem Gender-Begriff ein für die Mehrheit der BürgerInnen unverständliches Konzept entwickelt hätten, das zudem dem common sense völlig widerspreche.

Insgesamt wird in diesen sechs zentralen Deutungen ein Diskurs sichtbar, der den Verlust von einstigen Gewissheiten in den Geschlechterverhältnissen beklagt und die Aufrechterhaltung oder Re-Etablierung patriarchal geprägter Geschlechterverhältnisse einfordert. Zudem bedient der „Anti-Genderismus“ einen doppelten Antagonismus rechtspopulistischer Mobilisierung (Mudde und Kaltwasser 2015), nämlich gegen „die da oben“, die Eliten, und gegen die „Anderen“, die nicht Zugehörigen, und formt damit diskursiv ein „natürliches“ Volk – die „normalen Männer und Frauen“, der „kleine Mann auf der Straße“. Allerdings muss auf die Breite und Varianz der Positionen „anti-genderistischer“ Akteure verwiesen werden: Während sich u. a. im deutschsprachigen Raum, wo rechtspopulistische und rechtsextreme Kräfte zu wesentlichen TrägerInnen des Diskurses zählen, die Koppelung mit einer Anti-Migrations-Rhetorik häufig nachweisen lässt, lassen sich in Frankreich auch Versuche beobachten, mit konservativen Positionen in Bezug auf Gender-Politiken gerade migrantische Arbeiterfamilien als WählerInnen zu gewinnen (Brustier 2015). In skandinavischen Ländern korrelieren Anti-Gender-Diskurse eher mit wohlfahrtschauvinistischen Vorstellungen, während Gleichstellungspolitiken nicht in Frage gestellt werden (Siim und Meret 2019).

4 Soziale Veränderungen der Geschlechterverhältnisse. „Anti-Genderismus“ als männliche Identitätspolitik

„Anti-Genderismus“ ist ohne Zweifel eine Reaktion auf die Erfolge feministischer, lesbisch und schwuler Bewegungen, die seit den 1960er-Jahren zu einer umfassenden Liberalisierung und Pluralisierung europäischer Gesellschaften beigetragen haben. Darüber hinaus wird der „Anti-Genderismus“ in der Literatur auch als Reaktion auf umfassende gesellschaftliche neoliberale Veränderungen der letzten 20 Jahre begriffen, mit denen Deregulierung und Prekarisierung von Arbeit, der Abbau wohlfahrtsstaatlicher Sicherungen, stagnierende Umverteilung, seit der Finanzkrise deutliche Wohlfahrtsverluste und das Öffnen der Wohlstandsschere verbunden sind. Diese ökonomischen und sozialen Veränderungen ließen das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der politischen Eliten sowie in demokratische Institutionen und Verfahren erodieren (Wimbauer et al. 2015; Grzebalska 2016).

Die ökonomische Verunsicherungsthese ist allerdings für die Erklärung des Erfolgs der Anti-Gender-Mobilisierung allein nicht haltbar, nicht zuletzt deshalb, weil die Anti-Gender-Front nicht nur oder vornehmlich aus offensichtlich von sozialem Abstieg bedrohten gesellschaftlichen Gruppen besteht, sondern im Gegenteil gerade in links-liberalen intellektuellen Kreisen das Anti-political-correctness-Argument große Bedeutung erlangt. Neben Klassenverhältnissen müssen daher auch Geschlechterverhältnisse und deren Transformation zur Erklärung des Phänomens in Betracht gezogen werden, denn schließlich verweist die „Gender“-Obsession der Anti-Gender-Akteure auf Veränderungen der Geschlechterverhältnisse seit den 1970er-Jahren, die paradigmatisch für eine umfassende Destabilisierung betrachtet werden. Ein Blick auf die longue durée europäischer, insbesondere konservativer Wohlfahrtsstaaten (Esping-Andersen 1990) macht die fundamentalen Transformationen von Geschlechterregimen sichtbar. Die Phase der Demokratisierung und des Ausbaus wohlfahrtsstaatlicher Institutionen erlaubte seit den 1970er-Jahren die Politisierung von Geschlechterungleichheit und führte u. a. zur sukzessiven, wenn auch langsamen und nur partiellen Integration von Frauen in den Erwerbsarbeitsmarkt, in nationalstaatliche, bis dahin exklusiv männliche Wohlfahrtsinstitutionen und in androzentrische politische Institutionen. Dieser Integrationsprozess erfuhr durch das neoliberale Arrangement von Markt und Staat seit den 1990er-Jahren eine, wenn auch geschlechterambivalente, Beschleunigung. Frauen wurden nun verstärkt aus der Familie herausgeführt und – wenn auch in der Regel prekär – in den Erwerbsarbeitsmarkt integriert. Vor allem in sogenannten konservativen Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland und Österreich wurde so allmählich das männliche Familienernährermodell mit einem vergleichsweise hohen männlichen Familienlohn zugunsten des Zwei-Ernährermodells abgelöst. Der neoliberale Umbau kapitalistischer Gesellschaften veränderte also hierarchische Geschlechterregime und tradierte heterosexuelle Lebensweisen: Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung innerhalb von Familien sowie die Idee der heterosexuellen Kleinfamilie wurden zugunsten pluralistischer Arrangements in Frage gestellt (Candeias 2016, S. 19).

Allerdings wurde ein Grundproblem kapitalistischer Gesellschaften auf diese Weise nicht gelöst, nämlich die Externalisierung der Sorgearbeit (für Kinder, Kranke und Alte), die noch immer unbezahlt von Frauen erbracht werden soll. Daher muss die Anrufung von Frauen als Erwerbstätige klassenspezifisch differenziert betrachtet werden: Gut ausgebildete Frauen können beruflich erfolgreich sein, sie werden durch Gleichstellungsmaßnahmen gefördert und können familiäre Sorgearbeit tendenziell zukaufen. Weniger gut ausgebildete oder migrierte Frauen werden demgegenüber in unsichere Arbeitsverhältnisse gezwungen, nicht zuletzt in der Sorgearbeit. Neoliberale Gleichstellung(-spolitik), die die weibliche Erwerbsintegration begleitet, entpuppt sich als ein Projekt, das zu einer neuen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung entlang der Linien Ethnizität und Klasse führte.

Der neoliberale Umbau europäischer Gesellschaften implizierte schließlich auch ambivalente Formen der Maskulinisierung. Hegemoniale Männlichkeit inszenierte sich in einer Hypermaskulinität des finanzialisierten Kapitalismus, z. B. in der Welt der Banker und Börsianer. Im Unterschied dazu wurden marginalisierte Männlichkeiten (zur Begrifflichkeit: Connell und Messerschmidt 2005), also z. B. weniger gut ausgebildete oder erwerbslose Männer, fundamental in Frage gestellt.

Insgesamt war sowohl die systematische Aushöhlung des Wohlstands der Erwerbstätigen, die Prekarisierung von Arbeit und eine steigende Erosion des männlichen Normalarbeitsmodells von einer stärkeren Erwerbsbeteiligung von Frauen sowie der Förderung von gut ausgebildeten Frauen und der Entstehung neuer Vorstellungen hegemonialer Männlichkeit begleitet. Diese Prozesse ließen eine brisante Mischung aus realer oder befürchteter sozialer Degradierung und aus Verlusten im Erwerbsbereich, aber zugleich einer nach wie vor existierenden Ideologie des Familienernährers entstehen, der viele Männer nicht entsprechen können. Sie wurden so gleichsam zu „gescheiterte(n) Patriarchen“ (Radhakrishnan und Solari 2015, S. 788–791).

Anti-Gender-Akteure greifen neben der Politisierung ihrer spezifischen Agenden (wie Anti-Abtreibung, Privatisierung von Kindererziehung, Anti-Migration) diese männlichen Enttäuschungen und Ohnmachtsgefühle auf. Sie deuten diese Konstellationen der Verunsicherung in eine „Krise der Männlichkeit“ sowie in eine Wut gegen die „Anderen“ um. Michael Kimmel (2013) nennt die in den USA auf diese Weise konstruierte Gruppe „angry white men“, wütende weiße Männer.

Zugleich steckt in diesen diskursiven Gesten also ein Angebot der Selbstaffirmierung, der Selbstbestärkung (vermeintlich) marginalisierter Männlichkeit, bieten doch Anti-Gender-Anrufungen im neoliberalen Verunsicherungsdiskurs Anknüpfungspunkte für eine Re-Etablierung traditioneller Geschlechterkonstellationen und -hierarchien. Der Selbstaffirmierung dient u. a. die Ablehnung von Gleichstellungspolitik, die als Privilegierung von insbesondere gut ausgebildeten Frauen dargestellt wird. Auch in femonationalistischen Argumentationen kann sich unterworfene Männlichkeit als liberal, aufgeklärt und modern – in Abgrenzung von muslimischen Männern – entwerfen.

Der „Anti-Genderismus“ bedient, so mein Fazit, diskursiv diese Konstellation veränderter Geschlechterverhältnisse, sich auflösender traditioneller Geschlechteridentitäten bzw. neuartiger Erwartungen an Frauen- und Männerbilder. „Anti-Genderismus“ kann daher als männliche Identitätspolitik begriffen werden. Auch die Anrufung des „kleinen Mannes auf der Straße“ ist Teil dieser maskulinistischen Identitätspolitik. So formiert der Anti-Gender-Diskurs zwar eine Gruppe unterworfener und marginalisierter Männlichkeiten, doch er enthält zugleich das Versprechen, dass eine charismatisch-maskulinisierte Führung (die auch eine Frau sein kann) diesen Gruppen neue (Selbst‑)Sicherheit verschaffen kann. Vor allem femonationalistische Argumentationsfiguren taugen dazu, unterworfene Männlichkeit im Gestus des Schutzes von Frauen der Mehrheitsgesellschaft vor migrantischen Männern zu erhöhen.

5 Geschlecht als leerer Signifikant. Ein demokratiepolitisches Fazit

Jenseits der Alltagssprache angesiedelt und der breiten Öffentlichkeit meist nur in Umrissen bekannt, eignet sich der Begriff „Gender“ für die Aufladung mit unterschiedlichen Inhalten und Assoziationen – mit Anti-Intellektualismus und Anti-Elitismus z. B. gegen die EU, aber auch mit ausschließenden Forderungen gegenüber MigrantInnen und MuslimInnen. Diese Anschlussfähigkeit des Anti-Gender-Diskurses an andere kontroverse Diskussionen um eine Bedrohung von Identität macht „Gender“ zu einem „leeren Signifikanten“ (Laclau 1996, S. 36). Diese Funktion von „Gender“ erlaubt es wiederum Anti-Gender-Akteuren, mit je unterschiedlichen Anliegen anzuknüpfen und ihre Anliegen als Teil eines umfassenden Bedrohungsdiskurses zu reartikulieren.

Im „Anti-Genderismus“ konkretisiert sich damit – vergleichbar dem Antifeminismus an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (Weiss 2015) – eine anti-moderne und anti-pluralistische Haltung, die eine umfassende Bedrohung konstruiert, eine Bedrohung des Individuums, des Staates und der Gesellschaft. Gekämpft wird gegen die kulturrevolutionären Veränderungen der 1968er-Bewegungen, gegen Abtreibung, gegen Homosexualität, gegen den Wohlfahrtsstaat wie auch gegen Geflüchtete. Der Diskurs bleibt gewissermaßen unbegrenzt erweiterbar, da immer neue – oft nur sehr vage mit Geschlecht und Sexualität in Verbindung gebrachte – Themen adressiert werden können, die in der Perspektive der ganz unterschiedlichen Gruppierungen eine moralische, aber auch politische Wende, erfordern.

Geschlecht eignet sich deshalb so gut für eine gegenhegemoniale Mobilisierung, weil mit dem Bezug auf Geschlecht an Alltagserfahrungen angeknüpft werden kann – an die lang tradierte vermeintlich natürliche hierarchische Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität, die durch Gleichstellungspolitik und Antidiskriminierungsrichtlinien zwar erschüttert, aber keineswegs erodiert sind, sondern noch immer die Lebensweisen und den Habitus der Menschen prägten. Der europäische Anti-Gender-Diskurs insbesondere rechtspopulistischer Akteure, aber in Koalition mit anderen Gruppen jenseits des rechten Spektrums spitzt somit die immer schon existierende Geschlechterungleichheit und den Sexismus kapitalistischer Gesellschaften und liberaler Demokratien zu. Umgekehrt moduliert Geschlecht aufgrund seiner binär gedachten Struktur antagonistisch-exkludierende Strategien.

Anti-Gender-Mobilisierung ist somit funktional für ein radikal rechtes politisches Hegemonieprojekt. Im biopolitischen Arrangement der neuen Rechten – also im Versuch, neue Vorstellungen „des Volkes“ durchzusetzen – nehmen Geschlechter- und Sexualitätsverhältnisse eine prominente Rolle für die Verfugung eines national-populistischen autoritären Projekts ethnischer bzw. nationaler Homogenität und exkludierender Staatsbürgerschaft ein. Die Angriffe auf Feminismus und Gleichstellungspolitiken mit dem Label „Anti-Genderismus“ müssen also als Teil einer umfassenden Strategie begriffen werden, die für einen solchen politischen Umbau Konsens herzustellen sucht, die also autoritäre und ausschließende Diskurse und Praktiken zum common sense machen möchte.

Die diskursiven Logiken und Deutungsmuster fügen sich zu einem politischen Projekt, das den Kampf gegen kulturkritische und emanzipatorische Bewegungen seit den 1960er- und 1970er-Jahren zur Vertiefung ökonomischer und sozialer Ungleichheit und zur Propagierung eines nativistischen Volkskonstrukts nutzt. „Anti-Genderismus“ dient daher den sich europaweit organisierenden autoritären rechtsextremen Kräften dazu, in ihrem Kampf um Hegemonie, Deutungsmacht und politische Macht die Grundsätze von Gleichberechtigung, Nichtdiskriminierung und Selbstbestimmung radikal in Frage zu stellen.

Die moralisch-politische Wende, die die (west-)europäischen Rechtspopulisten herbeizuführen trachten, zielt gegen eine „sozial-demokratische“ Konstellation der Umverteilung und Integration, gegen neue Formen des partnerschaftlichen Zusammenlebens von Männern und Frauen, gegen Maßnahmen zur rechtlichen Gleichstellung von Frauen sowie gegen die Gleichstellung von LGBTIQ-Menschen. In einer als „Krise der Männlichkeit“ aufgebauschten Deutung soll dieses nationale Projekt auch Männlichkeit gegen „die Eliten“ oder gegen „die Anderen“ mobilisieren und verstärken. Das rechtspopulistische Konzept des Volkes ist so an ethnopluralistische Konstrukte der Reinheit und der Ablehnung von Vermischungen (Schellenberg 2009, S. 2) anschließbar.

Unter Rückgriff auf eine biologisch-natürliche heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit lassen sich nämlich die Natürlichkeit wie auch Homogenität des Volkes symbolisieren (Diehl 2016, S. 17). Über die Geschlechtervorstellung ist ein nativistisches, biopolitisch-exklusives Volkskonstrukt vermittelbar, denn eine geschlechterideologisch begründete natürliche Zugehörigkeit rechtfertigt diskursiv den Ausschluss von „Anderen“ wie auch exklusive Formen nationaler Zugehörigkeit. Sowohl die FPÖ wie der Front National (jetzt: Rassemblement National) berufen sich auf eine distinkte heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit in ihren Volksvorstellungen. Auch die Intervention von Thilo Sarrazins (2010) Buch Deutschland schafft sich ab war ein Beispiel für eine maskulinistische biopolitische Anrufung, die Frauen die Rolle der Gebärerin zuschreibt, um ein „gesundes“ und „reines“ Volk argumentativ herzustellen (Sauer et al. 2017, S. 112).

Dieser „autoritäre Populismus“ (Hall 1985, S. 116) strebt die Re-Naturalisierung gesellschaftlicher Ordnung als Legitimation dafür an, dass Demokratie im Sinne von Selbstbestimmung sich seit dem 2. Weltkrieg nicht nur als unmöglich erwiesen habe, sondern eben aufgrund der fundamentalen Ungleichheit von Menschen prinzipiell unmöglich sei. Demgegenüber entsteht die Idee einer autoritären Setzung des „Volkes“ insbesondere im exklusiven rechts-populistischen Sinne, eines Volkes, das nicht nur „natürlich“ homogen sei auf der Basis von pseudo-natürlicher Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität, sondern das auch das betrogene Opfer von Eliten und Intellektuellen ist, somit schwach, passiv und handlungsunfähig ist und daher gerettet werden muss, Schutz und Führung braucht.

Rechtspopulistische Führungspersönlichkeiten imaginieren sich als diese Retter. Der Appell an das Volk als Souverän, die Forderung und das Versprechen direktdemokratischer Verfahren legen somit eher einen Bedarf an Führung jenseits denn Partizipation in repräsentativ-demokratischen Institutionen nahe. Aus der natürlich-familiären und patriarchalen Vorstellung des Volkes folgt somit ein anti-demokratischer Gestus gegen die Selbstbestimmung des Volkes.

Geschlecht kann also im Anti-Gender-Diskursfeld zum Modulator eines umfassenden Kulturkampfes, eines Kampfes um politische Hegemonie werden. Rechtspopulistische Parteien wollen die Länder der EU im Sinne eines anti-liberalen, national-autoritären bzw. national-sozialen Projekts umbauen (Balibar 2010).

Doch es deuten sich auch Spannungen und Widersprüche im Anti-Gender-Diskurs an. Die Thematisierung dieser Widersprüche, z. B. zwischen Klasse, Nationalität, Religion und Geschlecht, kann die sozialen Trennungen und Spaltungen reflektieren und möglicherweise für ein demokratisches Projekt nutzbar machen.