Die Entwicklung der Spaltchirurgie hat in den letzten 200 Jahren einen weiten Weg zurückgelegt. Am Anfang stand der Versuch, die gespaltenen Hälften der Lippe zu vereinen, um dem Patienten ein normales Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Hierzu gibt es bereits Berichte aus präkolumbianischer Zeit, aber auch aus Europa etwa ab dem 15. Jahrhundert.

Sehr viel schwieriger erwies sich dann die operative Korrektur der Gaumenspalte. Hier darf von Langenbeck als Pionier gelten, der 1862 seine Brückenlappentechnik als erstes reproduzierbares Verfahren hierfür entwickelt hat. In Frankreich beschrieb Veau gegen Ende des 19. Jahrhunderts den an den palatinalen Gefäßen gestielten Lappen zum Gaumenspaltverschluss und erwähnte bereits den „Spaltmuskel“ im Velum.

Die rasante Entwicklung in den 1960/70er Jahren führte zu funktionell orientierten Operationsmethoden, die unabhängig von der Geometrie der Hautschnittführung in der Lippe und am Gaumen die exakte Vereinigung der gespaltenen Muskulatur zum Ziel haben, sodass am Ende Form und Funktion wieder eine Einheit bilden (Eschler und Schilli in Freiburg, Delaire in Nantes).

Die korrekte Vereinigung aller Muskeln des weichen Gaumens stellten Braithwaite 1964 und Kriens 1967 vor. Die konsequente Anwendung ihrer Erkenntnisse auch in der weiteren Folge führte zur Verminderung von sprechverbessernden Operationen auf unter 5 % der Fälle (Sommerlad).

Nicht zuletzt ist es durch die konsequente Wiederherstellung der Muskelfunktionen möglich geworden, auch die früher bekannten ausgeprägten Mittelgesichtshypoplasien und spaltbedingten Nasendysplasien zu vermeiden oder zumindest sehr viel geringer als früher ausgeprägt erscheinen zu lassen.

Die Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte ist die zweithäufigste Fehlbildung in Europa

Durch seine medizinische und zahnmedizinische Ausbildung ist der Mund‑, Kiefer- und Gesichtschirurg prädestiniert für die operative Behandlung der Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, die mit einer Inzidenz von etwa 1 pro 500 Geburten die zweithäufigste Fehlbildung in Europa darstellt. Aufgrund seiner Kenntnisse der Embryologie des Kiefer- und Gesichtsbereichs, des Schädelskelettaufbaus, aber auch der Gesichtsmuskulatur und der gesamten motorischen und sensiblen Innervation wird er im Rahmen seiner Weiterbildung in die Lage versetzt, sich sowohl der Vereinigung des Weichgewebes anzunehmen als auch die Wachstumsvorgänge des Gesichtsschädels, der Alveolarkämme und der Zahnbögen zeitgerecht in der Behandlung zu berücksichtigen.

Wer also die Embryologie kennt und die Primäroperationen ausgeführt hat, besitzt auch die besten Voraussetzungen, ggf. notwendige Sekundärkorrekturen vorzunehmen.

Somit ist es nur konsequent, dass wir in der 1. Beitragsserie dieser Reihe die Primäroperationen der Lippe inklusive primärer Rhinoplastik, die primäre und sekundäre Kieferspaltosteoplastik und die sekundäre Korrektur von spaltbedingten Nasendysplasien vorstellen. Der 2. Teil dieser Reihe soll sich dann mit dem primären Verschluss des Gaumens, der Pierre-Robin-Sequenz (als Sonderform der Gaumenspalte) und sprechverbessernden Operationen beschäftigen. Schließlich ist noch vorgesehen, die Besonderheiten zur Korrektur der spaltbedingten maxillären Retrognathie darzustellen.

Ich wünsche allen Lesern viel Freude bei der Lektüre dieser Beiträge aus einem Kerngebiet unseres Faches.

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Prof. Dr. Dr. Alexander Hemprich