Im Mund‑, Kiefer- und Gesichtsbereich orientiert sich die Wiederherstellungschirurgie immer an Funktion und Ästhetik. Für die Rekonstruktion der Unterlippe gilt dies in besonderem Maße.

Funktionell unterstützen die Lippen die Nahrungsaufnahme, die Atmung, die verbale und die nonverbale Kommunikation. Des Weiteren übernehmen sie Tast- und Berührungsfunktionen und spielen auch im Rahmen der Sexualfunktionen eine Rolle.

Bei der Nahrungsaufnahme kommt der sog. Sphinkterfunktion eine wesentliche Bedeutung zu. Durch die Mundöffnung wird der Eintritt in den oberen Verdauungstrakt freigegeben, durch den Mundschluss der Austritt von Nahrungsbestandteilen vermieden und damit die orale Kompetenz hergestellt. Die Wiederherstellung dieser oralen Kompetenz ist ein vorrangiges Ziel.

Auch die Atmung wird durch die Lippen beeinflusst. Bei steigender körperlicher Belastung wird die Sauerstoffzufuhr zunehmend durch Mundatmung unterstützt. Eine reduzierte Mundöffnung, z. B. durch eine verkleinerte Mundspalte, stellt eine obstruktive Atemwegsbehinderung dar und schränkt die Sauerstoffversorgung und damit die Leistungsfähigkeit ein. Mikrostomata als Folge rekonstruktiver Maßnahmen sollten unbedingt vermieden werden.

Das Sprechvermögen zur verbalen Kommunikation hängt u. a. von der phonetischen Artikulation ab. Die Unterlippe bildet dabei als Artikulationsorgan einen aktiven Teil der Artikulation und interagiert bilabial mit der Oberlippe zur Bildung der Laute „p“, „b“ und „m“ oder labiodental mit den oberen Schneidezähnen zur Bildung der Laute „f“ und „v“. Im Konzept zur Wiederherstellung der Unterlippe sollte deshalb die Funktion als Artikulationsorgan berücksichtigt werden.

Die nonverbale Kommunikation wird durch die Lippen entscheidend mitgeprägt. Lächeln als Ausdruck der Freude und Herabziehen der Mundwinkel als Zeichen der Trauer oder Enttäuschung drücken Emotionen mit nahezu allgemeiner Gültigkeit aus. In fast allen Kulturen wird dies als Ausdruck der Stimmung eines Menschen im Schauspiel, als Pantomime, auf Fotographien, Gemälden oder als Emoticons symbolisch dargestellt. Der Verlust der Mimik wird emblematisch mit dem Verlust der Seele gleichgestellt. Die Rekonstruktion sollte die für die Mimik wichtigen Strukturen so umfangreich wie möglich einschließen.

Durch die hohe Dichte an schnell adaptierenden Mechanorezeptoren gehören die Lippen zu den anatomischen Strukturen mit der besten Tast- und Berührungsfunktion (taktile Gnosis). Neben der reinen Schutzfunktion und feinen Reagibilität auf äußere Reize bilden die nerval gut versorgten Lippen außerdem eine erogene Zone, die z. B. dem Küssen zugrunde liegt. Der Verlust dieses Bereichs hat deshalb für den Patienten über Beweglichkeit und Aussehen hinaus eine tiefgreifende psychische Bedeutung.

Die Ästhetik der Lippen wird durch ein harmonisches Erscheinungsbild des Mundes hinsichtlich Größe, Form sowie Proportion von Ober- und Unterlippe bestimmt. Ein Verhältnis von 1:2 von Ober- zu Unterlippe wird als besonders attraktiv empfunden [1]. Hinzu kommen ein normales symmetrisches Bewegungsmuster und ein glatter, stufenloser Übergang zwischen Lippenrot und normaler Gesichtshaut.

In sog. Viewfinder-Studien wurden Gesichtsregionen gesucht, die zur Beurteilung der Attraktivität fremder Personen besonders wichtig sind. Nach den Augen wurde der Mund dabei als wichtigstes Kriterium bestimmt. Volle, rote und glatte Lippen stehen für Gesundheit und Jugendlichkeit. Trockene, rissige und eingefallene Lippen hingegen sind ein Ausdruck von Krankheit und Alter. Als Symbol der Sinnlichkeit können die positiven Attribute durch Gebrauch von Hilfsmitteln wie Lippenstift, Unterspritzungen u. Ä. überhöht werden.

Die Rekonstruktion muss einem hohen funktionellen und ästhetischen Anspruch genügen

Anatomisch bilden die Lippen als ventrale Fortsetzung der Wangen ein komplexes System mit einer äußeren Haut- und inneren Schleimhautoberfläche, gestützt durch einen dünnen Muskelring, der wiederum in einem radiären Geflecht weiterer Muskeln und aponeurotischer Verbindungen aufgehängt ist. Die ausgezeichnete vaskuläre Versorgung aus den Endästen der A. carotis externa sorgt für eine gute Durchblutung, Die nervale Versorgung erfolgt motorisch über den N. facialis und sensibel über den N. trigeminus. Den Übergangsbereich zwischen äußerer Haut und Mundschleimhaut bildet das Lippenrot. Das Epithel des Lippenrots ist zwar verhornt, dabei aber dünn und durchscheinend. Aufgrund der Blutkapillaren, die bis in die oberflächlichen dermalen und epidermalen Strukturen hineinreichen, ergibt sich dadurch die Rotfärbung der Lippen. Lippenlänge und -position werden von der Stellung der Zähne und der Ausformung des Mundvorhofs mitbestimmt. Fehlende Zähne oder Formveränderungen des Mundvorhofs können die Lippenfunktion und Ästhetik deutlich stören [2].

Die Aufzählung der vielfältigen Funktionen und ästhetisch wichtigen Belange basierend auf einer subtilen anatomischen Struktur macht sofort deutlich, welche gravierenden Probleme Schädigungen der Lippenstruktur nach sich ziehen können. Zudem wird klar, welcher funktionelle und ästhetische Anspruch hinter den rekonstruktiven Maßnahmen zur Wiederherstellung der Lippen, in diesem Fall speziell der Unterlippe, verborgen liegt. Es genügt nicht, Gewebedefekte lediglich zu schließen oder verlorenes Gewebe einfach nur durch anderes Gewebe zu ersetzen.

Lippenschädigungen mit rekonstruktivem Bedarf finden sich in der Traumatologie durch Verletzungen und Verbrennungen, in der Folge von Infektionen durch Gewebeverlust, z. B. durch Noma, oder als Folge therapeutischer, zumeist chirurgischer Maßnahmen bei neoplastischen Veränderungen im Lippenbereich.

Die rekonstruktiven Maßnahmen richten sich nach Umfang und Schweregrad der Schädigung und orientieren sich dabei an der sog. rekonstruktiven Leiter von einfach nach komplex. Vertraut man Publikationen zur Anzahl beschriebener Rekonstruktionsverfahren für Lippendefekte, gibt es weit über 250 verschiedene Operationsmethoden mit dem Ziel der Lippenwiederherstellung. Von diesen gelten 45 als „gängige Varianten“. Die riesige Menge der Methoden legt nahe, dass die Komplexität der Aufgabe bisher zu keiner universellen Lösung geführt hat, mit der Patienten und Behandler zufrieden sind.

Ein weiterer Aspekt ist der multidisziplinäre Zugang zu dem Komplex aus mutilierenden Ursachen und rekonstruktiven Maßnahmen. Neben MKG-Chirurgen sind chirurgisch tätige Dermatologen sowie Fachärzte für allgemeine und plastische Chirurgie in diesem Bereich aktiv. Der Ausbildung und Erfahrung entsprechend können dabei manchmal nur Teilbereiche des gesamten rekonstruktiven Spektrums abgedeckt werden, womit sich nicht immer das optimale Behandlungsergebnis erreichen lässt.

Ziel des Leitthemas zur Unterlippenrekonstruktion ist deshalb zunächst eine Bestandsaufnahme des aktuellen Standes in unserem Fachgebiet. Dabei soll der rekonstruktive Bogen vom überschaubaren, aber häufigen Problem bei der aktinisch geschädigten Unterlippe über die klassischen Methoden der Unterlippenrekonstruktion bis zu kombinierten Unterkiefer- und Lippenersatzplastiken gespannt werden. In den Einzelbeiträgen werden die Spezifika der jeweiligen Problematik herausgestellt, Lösungen angeboten, diskutiert und mit einem Fazit für die Praxis versehen.

Zusätzlich wird das Augenmerk auf das viel diskutierte Thema der Metastasierung beim Unterlippenkarzinom und der damit verbundenen Indikation zur Lymphknotenausräumung gerichtet. Dabei werden wichtige bekannte Ergebnisse zusammengetragen und durch neue umfangreiche Studienergebnisse ergänzt. Die Aussagen der Ergebnisse werden diskutiert und gegeneinander abgewogen. Ferner wird eine Methode zur Risikostratifizierung für die Metastasierung beim Lippenkarzinom dargestellt, die nach noch ausstehender Studienprüfung ggf. die Entscheidung für oder gegen eine Lymphknotenausräumung erleichtern kann.

Insgesamt wird mit dem Thema Unterlippenrekonstruktion ein scheinbar „alter Hut“ hervorgezaubert, der vermeintlich sämtliche Lösungen bereithält. Bei genauer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass nicht alle Verfahren mit den gewachsenen funktionellen und ästhetischen Ansprüchen Schritt halten können und dass ein kritisches Überdenken notwendig ist. Hierzu sollen Sie unsere Beiträge anregen.

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PD Dr. Dr. G. Mast