Das Verständnis der molekularen Pathogenese von Krankheiten hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, wodurch sich auch unmittelbare Konsequenzen für die Diagnostik und Therapie ableiten. Wir nähern uns immer mehr individualisierten Ansätzen, die auf einer präzisierten und molekular unterstützten Diagnostik beruhen und für die es auch in der Kopf‑/Hals-Pathologie zahlreiche Beispiele gibt. Der Einfluss onkogener Viren, wie z. B. der humanen Papillomaviren (HPV), wurde im Oropharynx eindrücklich aufgezeigt und könnte auch in der Mundhöhle eine Rolle spielen. Wer hätte vor einem Jahrzehnt gedacht, dass die klassischen Risikofaktoren in manchen Bereichen verdrängt werden und neue ätiologische Faktoren einen so ausgeprägten Einfluss auf die Therapie und Prognose haben, dass sie mittlerweile sogar Einzug in die aktuelle WHO-Klassifikation gefunden haben?

Diese Umstände sind Grund genug, einige der oralen Krankheitsbilder, die uns tagtäglich begegnen, im Licht dieser Veränderungen zu betrachten und die Neuerungen in der Ätiopathogenese, der Nomenklatur, der Diagnostik und der Therapie darzustellen. Hierfür haben wir die Themen Epuliden, oraler Lichen planus, onkogene Viren und orale Plattenepithelkarzinome ausgewählt.

Eine Betrachtung dieser Veränderungen kann nicht ohne eine Beschreibung und Erläuterung wichtiger neuer Verfahren in der histopathologischen Diagnostik erfolgen. Die Schwelle zum Zeitalter der Präzisionsonkologie und individualisierten Medizin haben wir überschritten. Untersuchungen wie Genomsequenzierungen, Metabolomik und ähnliche Verfahren sind teilweise für Therapieentscheidungen so wichtig geworden, dass sie die TNM-Klassifikation ergänzen und in fortgeschrittenen Stadien möglicherweise sogar ersetzen können (z. B. molekulares Tumorboard). Solche Untersuchungen sind dabei, unsere Therapieansätze in manchen Gebieten grundlegend zu verändern. Als ein weiteres Beispiel sei die Immunonkologie genannt, der vor einem Jahrzehnt im Vergleich zur zielgerichteten Therapie mit Antikörpern (z. B. gegen EGFR) keine große Bedeutung mehr zugesprochen wurde. Aktuell handelt es sich um die vielversprechendste therapeutische Neuerung, die bei zahlreichen verschiedenen Tumorerkrankungen Wirkung zeigt (Prototyp malignes Melanom) und auf der Reaktivierung körpereigener Mechanismen beruht (Blockade inhibitorischer Checkpointmoleküle z. B. PD1, PD-L1). Tatsächlich ist es mit dem PD1-Antagonisten Nivolumab elf Jahre nach der Zulassung des EGFR-Antikörpers Cetuximab zu einer neuen Medikamentenzulassung für das Kopf‑/Hals-Karzinom gekommen.

Das Immunsystem bzw. dessen Dysregulation spielt eine wichtige Rolle bei zahlreichen Erkrankungen der Mundschleimhaut. Der orale Lichen planus ist hierfür ein gutes Beispiel, auch exemplarisch für eine systemische Erkrankung mit oraler Beteiligung. Interdisziplinäre Zusammenarbeit und therapeutische Ansätze lassen sich hieran gut nachvollziehen und werden in dem entsprechenden Artikel von einem interdisziplinären Autorenteam dargestellt.

Die immer genauer werdenden diagnostischen Möglichkeiten verlangen von uns ein Höchstmaß an Fortbildungsbereitschaft und stellen auch hohe Anforderungen an die begutachtenden Pathologen sowie die behandelnden Ärzte. Wir werden in der Zukunft mit einer wahren Datenflut zu den Erkrankungen unserer Patienten konfrontiert werden, die den Begriff „Big Data“ rechtfertigt. Hier werden wir auf die Hilfe von Spezialisten wie Bioinformatikern und Molekularpathologen angewiesen sein, die mit uns zusammen klären müssen, welche relevanten Informationen und funktionellen Zusammenhänge sich in den Daten verbergen und wie wir diese dann in innovative therapeutische Strategien umsetzen können.

Wir hoffen, Ihnen mit dieser Ausgabe Lust auf eine erneute Auseinandersetzung mit dem spannenden Gebiet der oralen Pathologie zu machen, und wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen der Beiträge.

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Prof. Dr. Dr. U. Müller-Richter

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Prof. Dr. D. Baumhoer