Liebe Leserinnen und Leser,

die Interpretation des 12-Kanal-Oberflächen-Elektrokardiogramms bereitet vielen Kolleginnen und Kollegen in Praxis und/oder Klinik oft große Schwierigkeiten, obwohl auch hier eine systematische Beurteilung und sorgfältige Analyse aller 12-EKG(Elektrokardiogramm)-Ableitungen bei den meisten Patienten zur richtigen Diagnose führen [1, 2]. Allerdings gilt für die Beurteilung der Interpretation von 12-Kanal-Oberflächen-EKGs in ganz besonderem Maße ein Satz, der quasi über der Bedeutung von jedem Oberflächen-EKG stehen sollte: „Was man nicht kennt, erkennt man nicht!“ Begründet wurde die Elektrokardiographie von Willem Einthoven, dessen Name seit über 100 Jahren fest mit der Elektrokardiographie verbunden ist [3]. Ohne seine bahnbrechenden Arbeiten Anfang des vergangenen Jahrhunderts wären Elektrokardiographie, Rhythmologie und differenzierte Arrhythmietherapie unmöglich geworden, aber die Bedeutung des Elektrokardiogramms geht im 21. Jahrhundert darüber weit hinaus, und das Oberflächen-EKG ist heute eine unverzichtbare Methode zur Diagnostik und Lokalisation von Myokardinfarkten, zur Beurteilung von links- und/oder rechtsventrikulärer Hypertrophie und hat auch bei speziellen kardiologischen Krankheitsbildern große Bedeutung [4]. Seit den Arbeiten von Einthoven haben sich viele Kardiologen mit dem Oberflächen-Elektrokardiogramm beschäftigt, das heute nicht nur zur Arrhythmiediagnostik herangezogen werden kann, sondern auch bei der Lokalisationsdiagnostik von Koronararterienstenosen bzw. Koronararterienverschlüssen eine wichtige Rolle spielt [5]. Auch für die Intensiv- und Notfallmedizin ist das 12-Kanal-Oberflächen-EKG unverzichtbar und gibt wichtige Informationen, z. B. bei Patienten mit Lungenembolien, Elektrolytstörungen oder Rhythmusstörungen [6].

12-Kanal-Oberflächen-EKG bei Kindern und Jugendlichen

Die Besonderheiten des 12-Kanal-Oberflächen-Elektrokardiogramms bei Kindern und Jugendlichen ergeben sich aus physiologischen Veränderungen im Säuglings‑, Kindes- und Jugendalters, hinsichtlich der Größe des Herzens, der rechts- und linksventrikulären Muskelmasse und der Leitungsgeschwindigkeiten. Manche EKG-Befunde sind beim Kind völlig normal, identische Befunde beim Erwachsenen dagegen nicht. So gibt es altersbezogene Normwerte für die Dauer des PQ-Intervalls, für die Dauer des QRS-Komplexes und der R‑Wellen-Amplituden. In jedem Fall gilt für Kinder jeden Alters, für Jugendliche und Erwachsene, dass nur eine systematische und sorgfältige Analyse des 12-Kanal-Oberflächen-Elektrokardiogramms zur richtigen Diagnose führt [7].

12-Kanal-Oberflächen-EKG heute: Wo liegen die Probleme?

Man beobachtet immer wieder, dass viele jüngere Kolleginnen und Kollegen mit der Interpretation des 12-Kanal-Oberflächen-Elektrokardiogramms Schwierigkeiten haben [8]. Oft wurde die skeptische Haltung zum EKG „Das verstehe ich sowieso nicht“ bereits im Studium gelegt, wo Informationen zum Cabrera-Kreis, von Vektorschleifen und/oder Ionenkanalströmen zu einer völlig falschen Einstellung zu dem geführt haben, was ein EKG kann und was für den Alltag notwendig ist. So gilt es, solche inadäquaten Vorurteile auszuräumen und auf die wichtigen Befunde des 12-Kanal-Oberflächen-Elektrokardiogramms zurückzukommen. Zum anderen ist die EKG-Interpretation, bedingt durch die digitalen Analyseangebote, bei vielen etwas ins Hintertreffen geraten, d. h. die Kolleginnen und Kollegen verstehen vom EKG zunehmend weniger, verlassen sich auf die automatischen EKG-Befunde, und dadurch kann es zu Fehldiagnosen kommen [9]. Es sollte deshalb für jeden tätigen Arzt, ob in Klinik oder Praxis, der Elektrokardiogramme befundet, selbstverständlich sein, eine EKG-Interpretation nicht nur dem Rechenprogramm zu überlassen, sondern selbst die Elektrokardiogramme zu befunden, um Irrtümern eines „Computer-EKG-Programms“ nicht zu erliegen und weitergehende falsche Maßnahmen zu verhindern.

„Praxiswissen EKG-Interpretation“ in Der Kardiologe

Aufgrund der Bedeutung des 12-Kanal-Oberflächen-Elektrokardiogramms und der beobachteten zunehmenden Bereitschaft, EKG-Interpretationen „per Computer“ zu übernehmen, haben wir Schriftleiter uns entschlossen, die neue Rubrik „Praxiswissen EKG-Interpretation“ einzuführen, in der 12-Kanal-Oberflächen-Elektrokardiogramme vorgestellt werden. Anhand von einzelnen EKGs mit unterschiedlichen Befunden geben wir den Lesern Interpretationshilfen und Lösungen zu EKGs an die Hand, z. B. wie man das EKG beurteilt, wie man zur Diagnose kommt und was z. B. für oder gegen einen Befund spricht. Es werden unterschiedlichste EKG-Befunde, z. B. vom p‑dextroatriale bis hin zum STEMI der Vorderwand vorgestellt und interpretiert. Übrigens sind auch Sie als Leser herzlich eingeladen, sich an der Rubrik zu beteiligen und Ihre interessanten „EKGs mit Interpretationen“ bei uns einzureichen!

Die Serie soll dazu beitragen, besonders jüngeren Kolleginnen und Kollegen das EKG wieder näher zu bringen und den „ein oder anderen Trick“ zur EKG-Befundung zu verraten. Wir freuen uns daher auf Ihre Anregungen und Ihre interessanten Fälle.

Ihr

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Prof. Dr. Hans-Joachim Trappe