Zusammenfassung
Auf der Basis von Gruppendiskussionen, die an unterschiedlichen Hochschulstandorten mit erziehungswissenschaftlichen FachvertreterInnen geführt wurden, wird in diesem Beitrag der Frage nachgegangen, welche kollektiven handlungsleitenden Orientierungen den Prozessen der Studiengangsentwicklung im Zuge der Bologna-Reform zugrunde liegen. Nach einer Einordnung der theoretischen und methodischen Bezüge und einer Darstellung des Forschungsstands werden die Befunde in Form einer sinngenetischen Typenbildung zum Umgang mit disziplinärer Heterogenität dargestellt und diskutiert. Deutlich wird dabei, dass die FachvertreterInnen im Rahmen der Studiengangsgestaltung unterschiedliche disziplinäre Orientierungen miteinander in Einklang bringen müssen. Studiengangsentwicklung erweist sich damit zugleich als Verhandlungsraum disziplinärer Grenzziehungen. Wie dies im Verhältnis zum organisationalen Kontext Hochschule steht und wie bzw. ob sich in diesem Verhältnis eine Spezifik der Erziehungswissenschaft als fragmentierte Disziplin zeigt, wird abschließend diskutiert.
Abstract
Based on group discussions with educational scientists at different universities, this article focuses how they develop new study programs in the course of the Bologna Process. Considering theoretical and methodological reflections, the results are presented in form of a sensegenetic type formation. It then becomes clear that the representatives of educational science have to reconcile heterogeneous disciplinary orientations in the process of developing study programs and that they do so in different ways. Finally, it is discussed how this relates to structural conditions of the university and the specificity of this relationship in the case of educational science.
Notes
Der Beitrag bezieht sich auf die qualitative Teilstudie des von der DFG geförderten Projektes „Erziehungswissenschaft im Bologna-Prozess“ unter der Leitung von Prof. Dr. Cathleen Grunert.
Ähnliche binäre Unterscheidungen disziplinärer Dynamiken finden sich auch bei Stichweh (1994) und Kuhn (1989 [1962]). Der Gewinn der Unterscheidung bei Ambrose et al. (2010) wird darin gesehen, dass einerseits keine der beiden disziplinären Formen jenseits von Praxis entfaltet wird. Andererseits wird keiner disziplinären Dynamik, im Unterschied zu Kuhn, gänzlich der Charakter einer Wissenschaft abgesprochen. Wenngleich binäre Schema grundsätzlich kaum frei von normativen Implikationen sind, werden bei Ambrose et al. (2010) für beide Formen Möglichkeiten und Grenzen disziplinärer Dynamiken herausgestellt, die nicht auf eine Priorisierung einer „richtigen“ Wissenschaft abstellen.
Stichweh (1994) bezieht sich zwar in seinen Arbeiten auf Universitäten, jedoch wird in diesem Beitrag der Begriff der Hochschule als Oberbegriff verwendet, um die in das Forschungsprojekt einbezogenen Pädagogischen Hochschulen mit fassen zu können. Trotz der offensichtlichen Differenzen in den Aufgaben und inhaltlichen Ausrichtungen, wird zunächst davon ausgegangen, dass diese bezogen auf die Entwicklung erziehungswissenschaftlicher Hauptfachstudiengänge im Zuge der Bologna-Reform ähnlichen Dynamiken unterliegen wie die Universitäten.
Datenbasis der quantitativen Studie ist eine Vollerhebung aller Hauptfachstudiengänge, die von erziehungswissenschaftlichen Instituten bzw. Fachbereichen verantwortet werden und in die zum Wintersemester 2014/15 eine Immatrikulation in das erste Fachsemester möglich war.
Die Interpretation des Datenmaterials erfolgte im Kontext des Gesamtprojektes mit allen Projektbeteiligten.
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Ludwig, K. „Es war ein Ringen“ – Zum Umgang mit disziplinärer Heterogenität im Kontext der Entwicklung erziehungswissenschaftlicher Hauptfachstudiengänge. Z Erziehungswiss 22, 461–479 (2019). https://doi.org/10.1007/s11618-018-0845-8
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