1 Einführung

Der Beratungsauftrag des Betrieblichen Gesundheitsmanagements eines Entsorgungsbetriebs an mich lautete, im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung (GBU) die psychischen Belastungen von Müllwerkern zu erheben. Zunächst stellte ich mir die Frage, wie man als Beraterin die psychischen Belastungen dieser Berufsgruppe erheben könnte. Belastungen entstehen durch die Ausübung jeder Arbeit und sind an sich noch nicht gesundheitsgefährdend (Rohmert und Rutenfranz 1975). Da Müllwerker zur Berufsgruppe mit dem deutschlandweit höchsten Krankenstand gehören (Statistisches Bundesamt 2012), lag es vor dem Hintergrund der gesetzlichen Anforderungen im Interesse des Auftraggebers, belastende und potenziell gesundheitsgefährdende Faktoren zu identifizieren (Rau und Buyken 2015). Die Vorgehensweise zur Erhebung psychischer Belastungen sollte anschließen an die betriebsinternen Interventionserfahrungen zur GBU Psychischer Belastungen im Modus von „participatory action research“ (Gaalken 2017).

Die Arbeit mit dieser Berufsgruppe war für mich interessant, auch wenn sie nicht zur klassischen Beratungs-Klientel gehört. Durch gesetzliche Bestimmungen wie die der GBU eröffnen sich beraterische Möglichkeiten in diesen Feldern, da Unternehmen bei der Durchführung vermehrt den Blick externer Berater nutzen, um den Prozess erfolgreich zu gestalten. Die Offenheit der Mitarbeiter wird zudem durch die neutrale, betriebsfremde Person gefördert. Ein effizientes Präventionssystem und das Interesse an der Gesundheit der Mitarbeiter sind dabei aus zweierlei Gründen zielführend, um am Markt bestehen zu können: Aus betriebswirtschaftlicher Sicht bedeuten kranke Mitarbeiter einen finanziellen Aufwand; zudem haben die Bemühungen um das gute Miteinander und die Fürsorge für die Angestellten einen positiven Einfluss auf das Image, was entscheidend für die Rekrutierung gut ausgebildeter Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt ist (Treier 2019).

Im Rahmen des Gesundheitsmanagements und dem Wunsch folgend, die Ausfallquote langfristig zu verringern, sollten die Müllwerker in Kleingruppen über ihre Belastungen sprechen und anschließend Lösungsvorschläge erarbeiten. Ich machte mir zunächst Gedanken darüber, wie ich einen Zugang zur Zielgruppe bekommen könnte. Meine Eindrücke von der Tätigkeit der Müllwerker beruhten auf dem Warten in der Autoschlange hinter dem Müllwagen, wenn in der Stadt die Tonnen geleert wurden, und die bewundernden Blicke meines Sohnes, wenn die „Männer in Orange“ vorbeifuhren. Durch die radikale Änderung der Lebensumstände in Zeiten von Kontaktsperren aufgrund der Corona-Pandemie wurde deutlich, welche Relevanz die Aufgabe der Müllwerker hat: Dank ihrer uneingeschränkten, systemrelevanten Arbeit werden wir von unserem Müll befreit, was nicht zuletzt auch eine wichtige Rolle für die Gesundheit aller Bürger darstellt.

Die Aufmerksamkeit für unseren Abfall beschränkt sich gewöhnlich auf die Mülltrennung und auf den Transport des Müllbeutels bis zur hauseigenen Tonne. Es erfüllt uns mit Genugtuung zu sehen, dass unser Dreck sodann mit mächtigen Fahrzeugen, viel Lärm und einer manchmal langen Autoschlange dahinter fortgebracht wird. Damit sind wir ihn los: Die Müllabfuhr erledigt für uns diese Drecksarbeit, ohne dass wir unsere Finger schmutzig machen müssen und uns um den weiteren Verbleib des Mülls kümmern müssen. Alles was danach geschieht, interessiert uns nicht mehr oder wird abgewertet – denn Müllwerker gehören zur Berufsgruppe Dirty Work (Ashforth und Kreiner 1999). Doch befinden sie sich beruflich zu Recht in Gesellschaft von Totengräbern, Dealern, Prostituierten und Geldeintreibern? Ich setzte mich zunächst mit den Besonderheiten der Berufsgruppe auseinander und stellte fest, dass der Beruf aufgrund der sozialen Relevanz eine vergleichsweise hohe moralische Anerkennung genießt. Der Begriff Dirty Work bezieht sich bei den Müllwerkern lediglich auf den physischen Umgang mit dem Müll (Ashforth und Kreiner 2014). Entscheidend für den moralischen Stellenwert ist, in welchem Maße die ausgeführte Arbeit einen spezifischen Nutzen für die Gesellschaft darstellt. Die Nützlichkeit der Aufgabe bildet ein necessity shield, welches die Tätigkeit gesellschaftlich rechtfertigt und die Müllwerker demnach vor Anfeindungen und Stigmatisierungen schützt. Damit einhergehende Zuschreibungen sind Männlichkeit, Aufopferung und Heldentum (Ashforth und Kreiner 2014).

Zur weiteren Bestandsaufnahme wollte ich herausfinden, ob es spezifische Denkweisen gibt, die sich aus der gesellschaftlichen Verortung des Berufsstandes ergeben. Verglichen mit aktuellen Berichten zur Berufsgruppe zeigt die von Billerbeck (1998) durchgeführte Studie zur Humanisierung der Arbeit von Müllwerkern, dass sich in über 20 Jahren zwar die äußeren Rahmenbedingungen der Arbeit verändert haben, das Selbstverständnis der Berufsgruppe jedoch in großen Teilen gleich geblieben ist. Hier zeigt sich die paradoxe Situation der Müllwerker bezüglich ihrer Wahrnehmung in der Öffentlichkeit: Die Arbeit findet zwar vor den Augen der Öffentlichkeit statt, bleibt aber dennoch ungesehen hinsichtlich der geringen Auseinandersetzung auf wissenschaftlicher Ebene mit dieser Berufsgruppe (Simpson et al. 2012). Der Tagesablauf und die Organisation der Arbeit der Müllwerker erlauben einen vergleichsweise großen Grad an Freiheit (Billerbeck 1998).

2 Teilnehmende Beobachtung und Analyse der Gegenübertragungen

Um mir ein Bild von der Arbeit der Müllwerker machen zu können, entschloss ich mich, einen Tag lang mit auf eine Mülltour zu fahren. Im Sinne einer teilnehmenden Beobachtung begab ich mich in das unbekannte Feld (Bohnsack 2014) und verbrachte einen Tag als Müllwerkerin. Durch die Teilnahme an der Mülltour wurden Stimmungen und Szenen der Arbeit wahrgenommen, die ich durch eine bloße Befragung nicht hätte einfangen können. Des Weiteren war die Teilnahme hilfreich, um in den Gruppendiskussionen die Akzeptanz seitens der Müllwerker zu erhöhen und so einen Zugang zur Zielgruppe zu erhalten (ebd.). In den Gruppendiskussionen getätigte Äußerungen der Müllwerker wurden für mich nachvollziehbar, und die dahinter liegenden Haltungen und Orientierungen der Müllwerker begriff ich als gemeinsam erlebte Alltagspraxis (Mannheim et al. 2003).

Hierbei dienten meine Eindrücke als Zugang, indem ich mich selber als Resonanzkörper der Geschehnisse und Situationen nutzte (Giernalczyk und Möller 2018). Der Fokus bei der Auswertung der Gegenübertragungen lag auf wahrgenommenen Verführungsstrategien, Mechanismen gegenseitiger Beeinflussung, eigenen Widerständen sowie Glaubenssätzen, die ich unbedingt übernehmen sollte (Lohmer und Möller 2014). Die so gewonnenen Ergebnisse wurden in Kontext zu den zuvor in den Gruppengesprächen genannten Belastungen und zu den Charakteristika der Berufsgruppe Dirty Work gesetzt.

Die Organisation rund um den Müllwagen hatte eine sogartige Wirkung auf mich und weckte den Wunsch nach Zugehörigkeit. Es gelang mir, die so entstandenen Verstrickungen mittels gezielter, zeitlich parallel laufender Supervision wieder aufzulösen. Dabei war es ebenfalls notwendig die im Rahmen des Prozesses zugeschriebenen Rollen zu reflektieren:

  • Fremdkörper,

  • verlängerter Arm des Arbeitgebers,

  • eine von uns.

Die systemisch-psychodynamische Betrachtung der Organisation begann bereits mit der ersten Begegnung zwischen mir und dem Auftraggeber (Giernalczyk und Möller 2018): Szenisches Verstehen, insbesondere der Initialszene, diente als Informationsquelle für Erkenntnisse über die Zusammenhänge in der Organisation. Die hier gewonnenen Eindrücke gaben Aufschluss über das interne Image der Müllwerker, die Schauseite der Organisation sowie über Rituale und Normen. Den Wechsel zwischen eigener Involviertheit und Distanznahme erlebte ich als herausfordernd, wohlwissend, dass dies das charakteristische der psychodynamischen Beratung ist (Lohmer und Möller 2014). Die untersuchte Organisation rund um den Müllwagen wurde sowohl auf ihre unbewussten Konflikte und kollektiven Abwehrmechanismen als auch hinsichtlich geeignetem organisationalem Containment untersucht. Dabei lag mein beraterischer Blick, inspiriert durch Kühls Beschreibung organisationaler Trampelpfade, besonders auf den Kanälen abseits des Offiziellen, um daraus Rückschlüsse auf die formale Seite ziehen zu können (Kühl 2018).

Die vorhandenen Belastungen der Müllwerker mussten in den Kontext und Gesamtzusammenhang der Organisation und der Arbeitswelt der Müllwerker gebracht werden. Hat das abweichende Verhalten eine stabilisierende Wirkung auf die Müllwerker? Informelle Absprachen untereinander könnten einerseits zu einer effizienteren Erreichung des Tageszieles führen. Anders betrachtet können hieraus jedoch auch Belastungen entstehen, da sich die Müllwerker gesetzlichen Bestimmungen entziehen, die auch eine schützende Funktion zu Fragen der Arbeitszeit und der Sicherheit bieten. Insgesamt lassen sich folgende Belastungen benennen:

  • unfreundliche Bürger/nnen,

  • fehlende Wertschätzung und Verständnis,

  • Gefahr durch aggressive Autofahrer,

  • Mischmüll erschwert die Arbeit,

  • Mehrbelastung durch hohen Krankenstand,

  • Zeitdruck/Leistungsdruck,

  • Fehlende Motivation neuer Lader,

  • Risikofreude bei der Arbeit,

  • Einteilung der Touren,

  • Absentismus,

  • Fehlender Respekt untereinander,

  • Konflikte im Fahrzeugteam,

  • Informationsmangel durch fehlendes Netzwerk,

  • Buschfunk,

  • Fahrer-Lader-Hierarchie,

  • Ungewünschte Teammitglieder,

  • Kein Vertrauen in die Vorgesetzten → Umgehen der Hierarchie,

  • Keine Verteidigung gegenüber Bürgern,

  • Veränderungsvorschläge werden ignoriert,

  • Ungleichbehandlung,

  • Heimliche Regeln,

  • Bemängelung langsamer (älterer) Lader.

3 Spannungsfelder

Im Kontext der berufsspezifischen Identifikation und vor dem Hintergrund der teilnehmenden Beobachtung zeigten die genannten Belastungen Spannungsfelder auf, deren Identifikation für die weitere Vorgehensweise besonders hilfreich war. Wenn das berufliche Selbstverständnis lautet: „wir sind starke Kerle, uns haut nichts um!“, dann ist die Wahrnehmung der Belastung hiervon ebenfalls beeinflusst.

Systemrelevanz bei gleichzeitig fehlender Sichtbarkeit innerhalb der Organisation:

Die in den Gruppendiskussionen erhobenen Daten zeigten, dass die Vielzahl psychischer Belastungen auf Probleme innerhalb sozialer Beziehungen zurückging. Bei der teilnehmenden Beobachtung eröffnete sich mir jedoch auch noch ein anderes Bild, denn das Miteinander auf dem Müllwagen schien harmonisch und die Freude der Müllwerker war ansteckend. Im Kontrast stehen somit der systemrelevante Müllwerker, der eine für die Gesellschaft bedeutsame Arbeit ausführt, und andererseits der Angestellte, welcher innerhalb der eigenen Organisation mit seinen Konflikten und Nöten weitestgehend alleine dasteht. Die wahrgenommene Freude bei der Ausführung der Tätigkeit zeigte in der Analyse der Gegenübertragung ein innerpsychisches Spannungsfeld auf, welches sich durch den oben genannten Kontrast nährt. Die Stellung der Müllwerker innerhalb der Gesellschaft führt dies fort, indem das Ansehen endet, sobald sie den Müllwagen verlassen.

Machtlosigkeit gegenüber Bürgern und Stolz in der Eigenwahrnehmung:

Den Anschuldigungen der Bürger, dass die Tonne trotz sortenreiner Mülltrennung nicht geleert wurde, hatten die Müllwerker wenig entgegenzusetzen, da der Rückhalt der Organisation in Streitfragen fehlte. Die Müllwerker fühlen sich in Anbetracht dieser Umstände machtlos, verleugnen dies jedoch im gleichen Moment, da die empfundene Machtlosigkeit im Widerspruch zum beruflichen Selbstverständnis steht. Hier zeigt sich das Spannungsfeld, in dem sich Stolz und Aufopferung abwechseln.

Absentismus und Selbstschädigung durch Personalmangel:

Die Auswertung der Belastungen zeigte außerdem, dass der praktizierte Absentismus dem Beklagen der Müllwerker über Personalmangel gegenübersteht. Einerseits möchten sie ihre Gesundheit schonen, indem sie zuhause bleiben. Andererseits führt dieses Verhalten jedoch zu einer Mehrbelastung der verbleibenden Kollegen. Sie erkennen das Problem und benennen es in den Gruppengesprächen, jedoch gelingt es ihnen nicht, das Verhalten zu ändern. Die kurzfristig gewonnene Freiheit durch das „Krankmachen“ führt zur Selbstausbeutung der Teams, die den fehlenden 2. Lader durch die eigene Arbeitskraft ersetzen. Aufgrund des hohen Krankenstandes erlaubt es die Personalplanung nicht, auf Sonderwünsche oder Bedürfnisse der Arbeitszeitplanung einzelner einzugehen. Es kommt zu Ungerechtigkeiten, da nur diejenigen Müllwerker gehört werden, die persönliche Beziehungen zur Disposition pflegen. Diese Ungerechtigkeiten führen wiederum zu erneuten Krankmeldungen.

Kränkungen und stereotype Verhaltensweisen:

Der Umgangston der Müllwerker wird einerseits als Belastung empfunden. Hier stehen Männlichkeit, Aufopferung und Heldentum als stereotype Attribute des Müllwerkers der Kränkung durch unfreundliche, unsolidarische Kollegen gegenüber. Dabei zeigt sich bei der teilnehmenden Beobachtung sowie in den Ergebnissen der Gruppengespräche die Notwendigkeit der Teams zusammenzuhalten. Der Zusammenhalt, wenn es um den Kampf zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen geht, ist jedoch gering. Begründet mit der großen Heterogenität wird keine kollektive Sprache entwickelt, durch die gemeinsame Forderungen gestellt werden könnten (Billerbeck 1998). Die Müllwerker verlieren sich in Einzelkämpfen und konkurrieren untereinander, anstatt sich der Disposition und der Organisation gegenüber gemeinsam zu positionieren. Der Stolz der Müllwerker äußert sich hier durch Aufwertung der eigenen und gleichzeitige Abwertung der anderen Position (Ashforth und Kreiner 2014).

Zeitdruck als Belastung und Wettkampf um schnelle Touren:

Ein weiteres Spannungsfeld wird durch die psychische Belastung aufgrund von Zeitdruck deutlich. Der Druck entsteht durch konkurrierende Teams, die in möglichst kurzer Zeit ihre Touren beenden wollen. Der Stolz und die Anerkennung durch Kollegen und Disponenten über eine schnelle Tour führen zur Selbstausbeutung und Gefährdung der Gesundheit, indem schneller gearbeitet wird und riskante Manöver gefahren werden (Billerbeck 1998). Die Konkurrenzsituation und die Aussicht auf einen frühen Feierabend lassen die Müllwerker Risiken und Nachteile in Kauf nehmen.

Arbeit in Unterbesetzung als Tausch für berufliche Freiheiten:

Die empfundene Machtlosigkeit gegenüber den Bürgern setzt sich gegenüber der Organisation fort. Intransparenz wird zwar als psychische Belastung genannt, informelle Strukturen und Verhaltensweisen gehören jedoch zum Arbeitsalltag. Das Verhalten verstärkt und wiederholt sich wechselseitig, da sowohl die Müllwerker ihre informellen Handlungen beibehalten als auch die Disponenten Vorteile dieses Verhaltens haben. Solange das Team gut miteinander auskommt, ist dieses Phänomen der Organisation zuträglich und dient der Erfüllung der Primäraufgabe, da diese informelle Absprache zunächst der Erfüllung des Tageszieles zugutekommt. Es zeigte sich, dass es eine Art stille Übereinkunft zwischen Müllwerkern und Arbeitgeber gab, indem erwartet wird, dass die Arbeiter ihre vielfältigen Kompetenzen anwenden. Im Gegenzug werden Abweichungen vom betrieblichen Regelwerk geduldet, da die Müllwerker sich durch diese Übereinkunft die Pflicht auferlegen, den Müll tagtäglich von der Straße zu holen (Billerbeck 1998). Die Primäraufgabe der Berufsgruppe lautet: „Der Dreck muss weg!“.

4 Identifikation der Schwachstellen

Aus den erhobenen psychischen Belastungen und den ermittelten Zusammenhängen mit der Organisation wurden die Schwachstellen der Organisation sichtbar, die für die nächsten Schritte im Beratungsprozess von Bedeutung waren (Giernalczyk und Lohmer 2012):

Die Organisation befindet sich im Zwiespalt zwischen dem Wunsch nach Veränderung und dem Bedürfnis, in der momentanen Situation verharren zu wollen. Die eigenen Führungskräfte spiegeln das Verhalten des Betriebes wieder, indem sie die Trampelpfade abseits der offiziellen Wege bevorzugen und so schneller die gewünschten Ziele erreichen. Unter diesen Umständen sind die Führungsaufgaben nur schwer umzusetzen, da es sich um einen grundsätzlichen Widerspruch der Handlungsanweisungen handelt. Die Leitung lebt etwas anderes vor, als sie von der Gefolgschaft verlangt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Einerseits werden die Müllwerker als Aushängeschild für die Schauseite (Kühl 2011) genutzt, andererseits werden sie, wenn es um interpersonelle Belange geht, in die Schublade der unzähmbaren wilden Kerle gesteckt. Dieser Umstand verhindert eine tatsächliche Auseinandersetzung mit den Belangen der Müllwerker. Dabei stehen die Müllwerker mit dieser Kategorisierung für die eigenen ungezähmten Seiten der Organisation: Es besteht der Wunsch nach mehr Freiheit und Selbstständigkeit und die Möglichkeit, nach eigenen Regeln zu agieren und sich zu diesem Zweck von dem übergeordneten kommunalen Träger abzulösen. Diese widersprüchlichen Zwecksetzungen begünstigen derweil eine Mikropolitik der informellen Handlungen (Neuberger 2006).

Die starke Regulierung durch Prozesse und Richtlinien hält die Organisation im Zaum. Der durchaus nachvollziehbare Ablösungswunsch vom übergeordneten Träger zeigt den Wunsch nach mehr Unabhängigkeit und Macht. Um diesem Ziel näherzukommen, ist der „Flug unter Radar“ das Mittel der Wahl, und es kommt zu eigenmächtigen Entscheidungen und Handlungen seitens des Entsorgungsbetriebes. Die schwer kontrollierbaren Müllwerker stehen also stellvertretend für die nicht ausgelebte Seite der Organisation. Trotz allem werden Pflichten ordnungsgemäß erfüllt, dazu gehört auch die Teilnahme an gesundheitsfördernden und Mitarbeiter fördernden Maßnahmen. Durch das beständige Abarbeiten von Pflichten hat die Belegschaft jedoch einen Sättigungszustand bezüglich organisationsbezogener Maßnahmen erreicht, der sich auf die Stimmung in der Belegschaft auswirkt. Anstatt Konflikte direkt auszutragen, scheint sich der Fokus auf Schulungen und Workshops zu verschieben.

Um die tägliche Arbeit einfacher zu gestalten, haben sich breite Trampelpfade ausgebildet, deren Einhaltung die Organisationskultur prägen. Diese Wege abseits des Offiziellen werden von der Belegschaft gepflegt, da sie Privilegien beinhalten. Das Bestreben des Betriebes, sich vom übergeordneten System abzulösen, hat jedoch noch weitere Auswirkungen auf das Verhalten innerhalb der Organisation. Die erhoffte Veränderung durch die Loslösung erzeugt Ängste, die wiederum aufgefangen werden müssen. Die Organisation befindet sich daher in einer Warteposition, was die Bereitschaft für Veränderungen erschwert. Die Wahrnehmung des übergeordneten Systems als feindlich ist das kollektive Abwehrsystem der Organisation, das gleichzeitig der Identitätsbildung dient. Dabei steigt die Gruppenkohäsion durch den Fingerzeig auf den Außenfeind: Wir sind die „Guten und Fleißigen“. Dies verhindert jedoch, den eigentlichen Problemen auf den Grund zu gehen, und ist somit ein dysfunktionaler Abwehrmechanismus.

5 Beraterische Interventionen

Eine Klärung der Vor- und Nachteile des Ablösens vom großen System und das Bewusstmachen der Auswirkungen sind Teil der Beratung. Blinde Flecken wie die Spiegelung der informellen Verhaltensweisen werden der Organisation im Gespräch zugänglich gemacht.

Ein weiterer Aspekt der Beratung ist das Aufdecken des organisationsinternen Images der Müllwerker und die damit zusammenhängende Infantilisierung. Die Notwendigkeit der Müllentsorgung sichert das Bündnis zwischen Organisation und Müllwerkern (Billerbeck 1998). Erst durch die Bereitschaft der Organisation, die derzeitige Perspektive zu ändern, können auch die Wahrnehmungsmuster hinsichtlich des Verhaltens der Müllwerker verändert werden, sodass diese innerhalb der Organisation anders wahrnehmbar werden. Dabei kann in einem generativen Dialog gedanklich erschlossen werden, dass sowohl die Teams am Müllwagen als auch die Einzelpersonen für das Funktionieren des Systems von Bedeutung sind. Die unbewussten Anteile werden auf diese Weise entlang der Arbeitsaufgabe zugänglich und für den Auftraggeber verstehbar (Giernalczyk und Lohmer 2012).

Der Kreislauf des Absentismus der Müllwerker wird mit der Organisation schrittweise erarbeitet, um zu verstehen, dass das resultierende stille Bündnis zwar kurzfristige Vorteile bringt, da keine Neueinstellungen erfolgen müssen. Langfristig gedacht wird die Situation der Müllwerker auf diese Weise aber keine Verbesserung zeigen.

Die Untersuchung hat gezeigt, dass die vorhandenen organisationalen Defizite trotz des Mangels an Führung keinen negativen Einfluss auf die Erfüllung der Primäraufgabe haben. Die Müllwerker holen die Tonnen von der Straße. Die Gründe für dieses Verhalten der Müllwerker ist in ihrem beruflichen Selbstverständnis und dem damit zusammenhängenden Stolz zu finden. Durch die teilnehmende Beobachtung wurde deutlich, dass die Müllwerker vielfältige Zuschreibungen durch die Öffentlichkeit erhalten und daraus folgend ein starkes Image und Selbstbild entwickelt haben. Der von Ashforth und Kreiner (2014) genannte entscheidende Unterschied, verglichen mit anderen Dirty Work-Berufen, ist die gesellschaftliche Relevanz der Tätigkeit. Obwohl sie genau durch diese Notwendigkeit eine gute Verhandlungsposition gegenüber Arbeitgeber und der Öffentlichkeit hätten, werden Konflikte innerhalb der Teams und gegenüber Vorgesetzten oft mit Krankmeldungen beantwortet.

Für die Beratung ergibt sich aus den identifizierten Defiziten der Organisation die Möglichkeit, die Kultur zu beschreiben und durch das Bewusstmachen ihrer Auswirkungen Anregungsbedingungen für Veränderung herzustellen. Die Prozesse und Strukturen bezüglich Führung und Disposition konnten hinsichtlich ihrer Funktionalität überprüft werden, um weitere Schritte zur Veränderung herbeizuführen (Giernalczyk und Möller 2018). Um den psychischen Belastungen entgegenzuwirken, war es notwendig, das Zusammenwirken von organisationalen Strukturen und dem Selbstbild aufzudecken: Für die Müllwerker wirkt ihr Stolz wie ein Motor, der sie zu Höchstleistungen antreibt und ihnen hilft, mit den Belastungen ihres Arbeitsalltags umzugehen. Es bedarf jedoch organisationaler Mitwirkung und Containment, um den Müllwerkern langfristig den Rücken zu stärken und mit den personellen Ressourcen verantwortungsvoll und aus betrieblicher Sicht gewinnbringend umzugehen.

Beratungsziele für die Führungskräfte und Disponenten:

Führungskräfte-Coaching für die Vorgesetzten der Müllwerker und regelmäßige Teamsupervision für die Disponenten sind notwendige Maßnahmen, um die formulierten Ziele zu erreichen:

  • Reflexion der eigenen Rolle,

  • Umgang mit widersprüchlichen Zielsetzungen (Ambiguitätstoleranz),

  • Primäraufgabe und damit zusammenhängende Risiken reflektieren,

  • die eigene Wahrnehmung der Müllwerker neu definieren,

  • Team und Führung in einen konstruktiven Kontakt miteinander bringen.

Beratungsziele für die Müllwerker:

Moderierte Feedback-Runden zwischen Müllwerkern und Disponenten/Vorgesetzten und Motivational Interviews zur Erreichung der folgenden Beratungsziele:

  • Necessity shield (Ashforth und Kreiner 2014) der Tätigkeit im Dialog herausarbeiten,

  • Stolz und Macht in Bezug zur eigenen Rolle setzen,

  • extrafunktionale Fähigkeiten (Billerbeck 1998) stärken und hervorheben,

  • Konfliktfähigkeit steigern, indem ambivalente Gefühle integriert werden, sodass Raum für das Verbalisieren von Empfindungen entstehen kann,

  • Raum zum „Geschichten erzählen“ herstellen,

  • Sommergrippe und die Folgen erarbeiten,

  • die Bedeutung der Teamarbeit für die Müllwerker reflektieren, um Handlungsspielraum und soziale Unterstützung zu erhöhen (Rau und Buyken 2015),

  • vorhandene Flexibilität beim Auf- und Abbau von Beziehungen ausbauen,

  • Umgang mit Diversität ausbauen.

6 Fazit

Während meiner Beratung lernte ich einen Ausschnitt der Gesamtorganisation kennen und nahm Bezug auf das größere System, konzentrierte mich bei der Analyse jedoch auf die Organisation rund um den Müllwagen. Das Interesse am Thema und an der Berufsgruppe diente bei der Erarbeitung als Motivator und vereinfachte den Zugang. Durch die Vorgespräche mit Verantwortlichen der Organisation wurde das Image der Müllwerker wirkungsvoll transportiert und beeinflusste meine Wahrnehmung. Dies zeigte sich, indem meine Anreise zur teilnehmenden Beobachtung durch nervöse Anspannung geprägt war. Die positive Erfahrung der Mülltour bildete dann einen Kontrast zu meinen negativen Vorannahmen. Bezogen auf die Organisation bestand die Annahme, dass die Müllwerker ein problembehaftetes Subsystem darstellten. Es zeigte sich ein Phänomen, das sich auch in der untersuchten Organisation abbildet: Ich war durch die Männer in Orange abgelenkt und übersah zunächst die Wirkweisen des Drumherum innerhalb der Organisation. Im Verlauf der Gruppengespräche und mit etwas Abstand gelang es, den Blick schließlich zu erweitern und die Gesamtsituation dieser Berufsgruppe zu erfassen.