Die Beratungstätigkeit unter Beachtung der Hygienebedingungen während der aktuellen Coronavirus-Pandemie geben uns unübersehbare Hinweise zur Rolle des Körpers in der Beratung. Was sonst so selbstverständlich und unbewusst die Beratungsarbeit begleitet, rückt mehr in die bewusste Aufmerksamkeit. Das nonverbale, meist un- und randbewusste leibliche Geschehen, die latente Beteiligung, Rolle und Mitwirkung des Körpers im Beratungsprozess werden durch den Verlust von Nähe, Beweglichkeit, sichtbarer Mimik und Gestik so eindrücklich deutlich.

Die Perspektive des „Embodiment“, der Verkörperung und Leiblichkeit kognitiver und psychischer Prozesse findet in der arbeitsweltlichen Beratung zwar noch etwas zögerlich, aber zunehmend mehr Beachtung. In den Referenzwissenschaften von Supervision und Coaching – Soziologie, Psychotherapie, Pädagogik, Kognitions‑, Emotions- und Kommunikationswissenschaften – ist Embodiment als wissenschaftlicher Begriff für eine konzeptionelle Neuorientierung eingeführt und steht für seriöse wissenschaftliche Diskurse, die die Rolle des Körpers in dem gesamten Geschehen von Denken, Fühlen und Handeln hervorheben und berücksichtigen.

Dieses Schwerpunktheft verfolgt das Anliegen, einen Einblick in Forschung und Praxis verkörperter bzw. embodimentorientierter Beratung zu geben, Anregungen aus den Verkörperungsdiskursen in den Referenzwissenschaften aufzugreifen und auf ihre Relevanz und Übertragbarkeit für die arbeitsweltliche Beratung zu prüfen.

Carla van Kaldenkerken gibt zunächst einen Überblick über den Embodiment- (Verkörperungs‑) Diskurs, erklärt die Grundannahmen dieser Perspektive und ihre Relevanz für die arbeitsweltlichen Beratungsformate. Sie weist der präverbalen Beteiligung und der zwischenleiblichen Interaktion und Resonanz eine zentrale Rolle zu und plädiert für eine achtsame, den Eigensinn des Körpers respektierende und kenntnisreiche Übertragung des Konzepts in die Beratung. Bei einer konsequenten Beachtung der bidirektionalen Verbundenheit von Körper/Leib, Geist/Psyche und Umwelt beschränkt sich das Verkörperungskonzept nicht auf methodische Überlegungen, sondern versteht sich als ein durchgängiges Prinzip, eine zusätzliche Perspektive und Einstellung während des gesamten Beratungsprozesses.

Verbal orientierte Beratung und körperliche Methoden in der Beratung werden häufig gegenübergestellt und getrennt voneinander verortet. Klaus Obermeyer führt aus, in welch enger Verwobenheit Sprache und Körper stehen. Sobald wir in der Beratung sprechen, sind auch die Körper beteiligt. Durch die begleitenden präverbalen, motorischen Aktivitäten beim Spracherwerb sind und bleiben auch später Sprache und leibliches Erleben durch kleine motorische Aktivitäten und Ausdrucksgesten und -mimik verknüpft. Sprache ist in diesem Sinne verkörpert, da der Körper beim Sprechen und Zuhören die Inhalte auch körperlich mitvollzieht. Obermeyer beschreibt die Relevanz für eine leibsensible Sprache in der Beratung und veranschaulicht dies anhand einer Fallskizze.

Natascha Lienhard und Hansjörg Künzli führten im Herbst 2020 eine Online-Umfrage zum Umfang körperorientierter Methoden in Coachingprozessen durch. Im Ergebnis nutzen mehr als die Hälfte der befragten Coaches körperorientierte Interventionen, bewerten den Einsatz als gewinnbringend und zielführend und beabsichtigen, solche Interventionen in Zukunft gleich oft oder sogar noch öfter einzusetzen. Mehr als die Hälfte der Coaches nutzen während des Coachings körperorientierte Interventionen für sich selbst. Im Unterscheid zu den anderen Beiträgen grenzen Lienhard und Künzli körperorientierte Interventionen von der Embodimentperspektive ab. Sie verstehen unter körperlichen Interventionen alle, die den Körper verbal, visuell oder sensorisch in den Fokus der Aufmerksamkeit der Coachees rücken, um innere Prozesse bewusst zu machen oder auszulösen. Die Annahme der Einheit von Körper und Geist, Leib und Seele wurde explizit weggelassen.

In Rahmen einer explorativen Studie untersuchte Ulrich Siegrist Coachingprozesse mit der Leitfrage, inwieweit experienzielle Prozesse im Coaching schulenunabhängig stattfinden, und leitete daraus Hinweise zum experienziellen Vorgehen im Coaching ab. Er entwickelte ein auf Coaching bezogenes, am Selbsterleben orientiertes Veränderungsmodell, an dessen Ausgangspunkt eine themenbezogene Unklarheit oder eine Irritation der Coachees stehen, die mit einem nicht zu ignorierenden aktuellen Gefühl oder Körpererleben einhergehen. Er führt aus, wie der Felt Sense bzw. das ihm zugrunde liegende Experiencing als Ressource für einen themenbezogenen Klärungs- und Lösungsprozess genutzt werden können. Die Rolle des Coachs besteht in dem Prozess darin, den Raum zu geben, um das Selbsterleben des Klienten in Bezug zu einer komplexen Situation zu ermöglichen, die gefühlte Bedeutung des Körpererlebens und der Gefühle zu erarbeiten und die Aufmerksamkeit für den Selbsterlebensprozess so lange zu halten, bis es zu einem tiefen Verständnis i. S. einer stimmigen Erkenntnis kommt.

Wolfgang Tschacher und Bettina Bannwart skizzieren zu Beginn ihres Beitrags die Veränderungen zu grundlegenden Fragen der Psychologie und Kognitionswissenschaft, die durch die Embodimentperspektive in den letzten Jahren angeregt wurde und als 4E Cognition bezeichnet wird. Sie vertiefen die Implikationen des Embodimentverständnisses für soziale Interaktion und stellen den gegenwärtigen Stand der Wirkfaktorenforschung in der Psychotherapie und aktuelle Forschungsergebnisse vor, die Zusammenhänge zwischen Synchronie, Beziehungsqualität, Therapeutenfaktoren und Therapieerfolg gefunden haben. Im zweiten Teil des Beitrags skizzieren sie ihre Vorschläge, wie diese Erkenntnisse im Kontext von Beratung, Coaching und Pädagogik genutzt werden können.

Anhang eines Fallbeispiels erläutert Renate Schwarz anschaulich ihre Konzeption eines resonanzsensiblen Vorgehens im Coaching und in der Supervision. Bezugnehmend auf die Resonanztheorie von Hartmut Rosa beschreibt sie das Prinzip der Resonanz im Kontext von Beratung, die dadurch entstehende Intersubjektivität als Ressource für eine sinnerweiternde Transformation von Wahrnehmungs- und Denkweisen, Gefühlen und Einstellungen mit dem Ziel von verändertem Handeln und Verhalten in beruflichen Kontexten. Sie führt aus, welche Rolle der Leib als Resonanzraum für Stimmungen, Atmosphären spielt, und gibt abschließend Anregungen für ein resonanzsensibles Coaching.

In der Rubrik Praxisberichte begeben wir uns zusammen mit der Autorin Kerstin Dehe in ein Arbeitsfeld aus dem Bereich des „dirty work“. Systemrelevanz wird wohl niemand den Müllwerker/innen absprechen. Aber wie genau gestaltet sich deren Berufsalltag? Welchen gesundheitlichen Belastungen und Beanspruchungen sind sie ausgesetzt, und vor allem, brauchen sie Beratung? Mit Hilfe der teilnehmenden Beobachtung und in Gruppendiskussionen nimmt die Autorin eine psychodynamische Perspektive ein und zeigt das Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Kränkung aufgrund des zum Teil negativen Images von Müllarbeiter/innen und deren (kompensatorischem?) Selbstbild als „Helden des Drecks“ auf. Eine Schwachstellenanalyse macht mögliche Teamkonflikte und Mitarbeiter/innen-Führungsthemen aus, die nach Beratung rufen.

Beate West-Leuer, Marga Löwer-Hirsch und Martin Gerstädt fokussieren in unserem Diskurs die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Weiterbildungsdynamik im Coaching. Nahezu täglich war es für uns Weiterbildungsanbieter/innen erforderlich, zu diskutieren und zu entscheiden: Setzen wir die Weiterbildung aus, bis wieder bessere Zeiten anbrechen? Arbeiten wir digital, und was ist der Preis? Sind Hybridmeetings verantwortbar? Darf Präsenz riskiert werden? Recht machten wir es letztlich niemandem: Die einen empfanden uns als unverantwortlich, wenn wir uns trafen; die anderen maulten, für Online-Lehre hätten sie sich zu Beginn der Weiterbildung oder des Studiums nicht entschieden und wollten auch nicht den gleichen Preis zahlen. Die drei Autoren gehen den Dilemmata digitaler Weiterbildung profund aus psychodynamischer Perspektive auf den Grund und zeigen deren gruppendynamische Auswirkungen. Die Überlegungen der Autor/innen lassen sich als Spiegelung lesen, die auch auf die Arbeitswelt übertragbar sind.

Dass die Arbeitsbeziehung im Coaching das A & O für den Erfolg eines Beratungsprozesses darstellt, gilt heute als Binsenweisheit. Graßmann et al. (2020) haben dies soeben in einer Metanalyse anschaulich zeigen können. Thomas Bachmann wählt den Weg über den Film „The King’s Speech“, um wichtige Elemente der Gestaltung der Arbeitsallianz zu thematisieren. Die Leser/innen finden wichtige Anregung zu den Fragen: Wie gelingt beraterische Abstinenz? Wie kann es klappen, das Aktivitätsniveau bei den Kund/innen hoch zu halten und nicht selbst ins heftige Arbeiten zu kommen? Wie müssen wir intervenieren, dass die Klientel selbst in die Verantwortung geht? Wie gestalten wir die Arbeitsbeziehung wirklich auf Augenhöhe? Auch wenn wir OSC-Leser/innen selten in den Genuss kommen werden, Könige zu coachen, finden Sie gute Anregungen für die Praxis.