1 Einleitung

Philosophieren bedeutet gründliches Nachdenken. Gründliches Nachdenken heißt, solange nachzudenken, bis im Denken ein Grund gefunden ist. Ein Grund ist etwas Stabiles, auf dem sich etwas aufbauen läßt. Beim Philosophieren sind es Gedankengebäude, für die ein stabiler Grund, ein Fundament zu finden ist. Warum wird philosophiert? Weil Gedankengebäude unsicher werden, ihr Einsturz bevorsteht oder schon passierte. Gedankengebäude sollen die Sinnhaftigkeit unseres Handelns sicherstellen. Philosophieren bannt die Gefahr, sinnlos zu leben. Hübner hat besonders gründlich herausgearbeitet, daß Menschen, die von ihrem Wesen her historische Wesen sind, durch das veränderliche Geschehen unaufhörlich Gefährdungen ausgesetzt sind. Ihre Gedankengebäude, nach denen sie ihr Leben sinnvoll gestalten wollen, können fortwährend ihre Tragfähigkeit einbüßen. Darum treten in allen Lebensbereichen unentwegt Grundlagen-Sicherungsprobleme auf.

Kurt Hübner war ein Grundlagen sichernder Aufklärer, ein Philosophierender, der sich um die Grundlagenprobleme unserer Zeit nicht nur gekümmert, sondern Lösungsvorschläge für wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Aufgabenstellungen erarbeitet hat. Das konnte er, weil er die Grundlagen-Wissenschaften studierte. Die meisten Philosophen haben im 20. Jahrhundert wegen der weitreichenden Erkenntniserfolge der Naturwissenschaften ihr angestammtes Selbstverständnis verloren. Sie meinten, ihre grundlegende Rolle in der Geistesgeschichte hätten nun die vielfältig ausdifferenzierten Naturwissenschaften übernommen. Da vielen Philosophen die theoretischen Arbeiten der Relativitäts- und Quantentheoretiker zu schwierig waren, wandten sie sich mehr der Grundlagenarbeit der Geisteswissenschaften im Rahmen von Sprach-, Sozial- oder Gesellschaftsphilosophie zu. Für die Aufnahme der Werke von Philosophen, die, wie Kurt Hübner, Philosophie im ursprünglichen Sinne betrieben und sich mit den Ursprüngen menschlicher Erkenntnis gerade auch hinsichtlich der neuen physikalischen Theorien beschäftigten und etwa in der Nachfolge Kants die Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt stellten und bearbeiteten, sind diese geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, die eine kaum überbrückbare Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften bewirkten, nicht förderlich. War es in dieser Situation nicht pure Vermessenheit des Philosophen Hübner, einem seiner Hauptwerke im Jahre 1978 den Titel Kritik der wissenschaftlichen Vernunft zu geben? Wie lässt sich denn etwas kritisieren, was es offenbar gar nicht gibt?

Um die Philosophie Kurt Hübners angemessen zu würdigen, sind die philosophischen Traditionen darzustellen, in die Kurt Hübner hineingewachsen ist, und die Stationen des Werdegangs seiner Gedanken im Laufe seines Lebens sowie ihre Fortentwicklung durch seine Pflege der Kontakte in seinem großen philosophischen Freundeskreis. Hübners philosophischer Werdegang erweckt den Eindruck, als ob er—wie der junge KantFootnote 1—sich eine zielführende Bahn seines philosophischen Arbeitens vorgezeichnet und sie nahezu lebenslang verfolgt hat. Denn Hübner ging unbeirrt einen Weg der Förderung des gegenseitigen Verstehens zwischen den verschiedenen Richtungen des Philosophierens und wissenschaftlichen Arbeitens, indem er den Kontakt mit führenden Köpfen der Grundlagen-Wissenschaften in geeigneten Organisationen suchte oder in Wissenschaftsforen pflegte, die er selbst ins Leben rief. Und um diesen Weg gehen zu können, hat er schon in jungen Jahren während der verschiedenen Stationen seines Studiums und später in den Jahren seines Lehrens die verschiedenen Richtungen des Philosophierens und wissenschaftlichen Arbeitens sogar bis zu ihren historischen Ursprüngen hin studiert, so daß es nicht ausbleiben konnte, schließlich auf den wissenschaftlichen Urquell des Mythischen zu stoßen, wovon nun im Einzelnen zu berichten ist.

2 Kindheit und Studienbeginn in Prag: Erste Prägungen

Kurt Hübner wurde am 1. September 1921 in Prag geboren. Prag war gerade die Hauptstadt des 1918 ausgerufenen Staates ‚Tschechoslowakei‘ geworden, dessen Staatsgebiet vor dem Ende des ersten Weltkrieges noch Bestandteil der österreich-ungarischen Monarchie war, so daß der geistige Einfluß Österreichs in Prag noch in Hübners Jugendjahren bestimmend war. In seinen späten Jahren gab er sich gern als Österreicher zu erkennen, wenn er österreichisch vortrug: „Wir Österreicher schauen vertrauensvoll auf unsere Vergangenheit“, und dies geschickt in seine historistischen Ausführungen einwob. Hübner war sich des Einflusses der in Prag aufgesogenen österreichischen Geistigkeit auf seine spätere philosophische Arbeit wohl bewußt. Prag war—natürlich historisch bedingt durch die geographische Mittelpunktslage in Europa—schon immer eine Vielvölkerstadt. Dadurch erlebte der junge Kurt in prägender Weise schon früh die Bedeutung der historischen Gewordenheit von Volksgruppen und ihrer Kultur. Bei gelegentlichen gemütlichen Runden etwa zu den monatlichen ‚Kneipensitzungen‘ im Kreise seiner Assistenten gab Hübner gern seine „Pràgger-Deitsch-Kenntnisse“ in tschechisch geprägten Witzen zum Besten.

Von seinem Elternhaus erhielt Kurt Hübner besonders durch seinen Vater eine national-liberale, konservative und katholische Prägung, die seinem weit ausgreifenden Denken bisweilen etwas im Wege stand, die er aber nicht verleugnet hat, was in seinen Spätwerken besonderen Ausdruck fand. In Kurt Hübners Elternhaus spielten Kunst und Musik eine große Rolle. Sein sechs Jahre älterer Bruder Wilhelm wählte sogar einen musikalischen Beruf als Komponist, Dirigent und Musikschriftsteller. Kurt Hübner übte sein erlerntes Klavierspiel kaum aus, weil seine pianistischen Fähigkeiten das eigene künstlerisch gebildete Gehör beleidigten. Stattdessen interessierte er sich für die Denkart der Philosophie, die der Musik aufgrund ihrer formalen Semantik sehr nahe steht. Wahrscheinlich weckte der väterliche Einfluß Kurt Hübners großes Interesse an der Philosophie, das zur Aufnahme des Philosophiestudiums in Prag führte, welches er—bedingt durch die Kriegswirren—in Rostock fortsetzte. Während des Philosophiestudiums in Prag fand seine erste Begegnung mit dem Wiener Kreis statt, der damals weltweit und besonders unter anglo-amerikanischen Philosophen nachhaltiges Aufsehen erregte. Es konnte darum nicht ausbleiben, daß sich Hübner in seinem Philosophie-Studium in Prag mit den Philosophen des Wiener Kreises beschäftigte, mit den Arbeiten von Rudolf Carnap und den Wissenschaftstheoretikern, die dem Wiener Kreis nahestanden. Dadurch bildete sich sein bleibendes Interesse an der Wissenschaftstheorie aus, was später zu einer Freundschaft zu Wolfgang Stegmüller, Erhard Scheibe, Evandro Agazzi, Jean Dieudonné, Bernard d’Espagnat, Paul Feyerabend und Imre Lakatos führte, um nur einige der vielen Wissenschaftstheoretiker zu nennen, mit denen Hübner in brieflichem und stets freundschaftlichem Kontakt stand.Footnote 2

Die Wissenschaftstheorie ist das Refugium derjenigen Philosophen geworden, die nicht die Mühe scheuen, sich in mathematisch formulierte physikalische Theorien einzuarbeiten und nicht aufgeben, sich als Philosophen an der Entwicklung der Grundlagen der Naturwissenschaften zu beteiligen, was ja in den großen Zeiten der Philosophie etwa für Leibniz, Berkeley, Locke, Hume und Kant selbstverständlich war. Auf diesem Wege gelang es den Wissenschaftstheoretikern, eigenständige philosophische Arbeit zu leisten, wie etwa im Wiener Kreis um Moritz Schlick und Rudolf Carnap und deren Freunde Hans Reichenbach und Carl Gustav Hempel, die vor allem die Entwicklung einer soliden Metrisierungstheorie vorangetrieben haben, eine viel zu wenig beachtete und berücksichtigte philosophische Grundlage für alle wissenschaftlichen Arbeiten, in denen mathematische Methoden der Analysis und analytischen Geometrie etwa für Voraussagezwecke verwendet werden.

3 Philosophiestudium in Rostock und Kiel: Erste philosophische Richtungs-Prägungen

Das Philosophie-Studium in Rostock nahm Hübner bei Walter Bröcker auf, der dort seit 1940 lehrte. Vermutlich lernte Hübner in Rostock den Rehmke-Schüler Johannes Erich Heyde kennen und schätzen, der, von der Universität Rostock kommend, von 1950 bis 1960 an der TU in Berlin als Hübners Vorgänger Philosophie lehrte. Walter Bröcker hatte durch die Vermittlung des Altphilologen Hans Diller 1948 eine Berufung auf einen Lehrstuhl an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel bekommen und angenommen. Selbstverständlich folgte Hübner ihm nach Kiel. Dort fand er den Phänomenologen Ludwig Landgrebe vor. Als langjähriger Assistent Martin Heideggers ist Walter Bröcker dem Vorhaben seines Lehrers, die Phänomenologie zu überwinden, gefolgt, so daß Landgrebe mit seiner Phänomenologie bei dem Bröcker-Schüler Hübner nicht landen konnte. Walter Bröcker hat statt dessen in Hübner die Liebe zur griechischen Philosophie und besonders zu Platon und Aristoteles geweckt und außerdem das Interesse am intensiven Studium des erkenntnistheoretischen Werks von Immanuel Kant, das sich 1951 in seiner Dissertation zum Thema Das transzendentale Subjekt als Teil der Natur. Eine Untersuchung über das Opus postumum Kants niederschlug. Diese Thematik war von Walter Bröcker auf eine Verknüpfung von Natur- und Geisteswissenschaften angelegt, wie sie sich nicht nur in Kants Opus postumum an vielen Stellen findet, sondern dessen gesamtes Werk grundlegend durchzieht.

Die Thematik seiner Doktorarbeit, durch die Hübner frühe Anerkennung erfuhr, paßte genau in seine philosophische Zielsetzung, ein Brückenbauer zwischen Philosophie und Naturwissenschaften zu werden. Erste Ansätze dazu hatte Hübner bereits in Prag kennengelernt, und seitdem war für ihn klar, daß er seine philosophische Arbeit mit dem Problem der Verbindbarkeit des naturwissenschaftlich orientierten Logischen Positivismus mit der alten philosophischen Tradition der Metaphysik zu beginnen hatte. Darum stimmte Hübner mit seinem Lehrer Bröcker die Thematik seiner Habilitationsschrift entsprechend ab: Der logische Positivismus und die Metaphysik, die er 1955 in Kiel vorlegte. Er war bereits Privatdozent, als Paul Lorenzen 1956 die Stelle eines ordentlichen Professors der Philosophie in Kiel annahm. Seitdem hat sich zwischen beiden eine anhaltende Freundschaft entwickelt, die dazu führte, daß Hübner sich durch den Geist des später als Erlanger Schule bezeichneten Konstruktivismus Lorenzens hat inspirieren lassen. Hübner besaß wie sein Lehrer Walter Bröcker eine logisch-mathematische Begabung, was ihn mit Paul Lorenzen in besonderer Weise verband, wodurch er seine Fähigkeit zum exakten Argumentieren auch durch seine Freundschaft zu Paul Lorenzen weiter ausbildete.

Das Kieler Philosophische Seminar wird in den 5 Jahren der Privatdozentenzeit Hübners von vielen spannenden Diskussionen erfüllt gewesen sein, da es viele philosophische Kontroversen zwischen Landgrebe, Bröcker und Lorenzen auszudiskutieren gab. Außerdem hatte sich Hans Blumenberg 1950 bei Landgrebe mit einer kritischen Arbeit über Husserls Phänomenologie habilitiert, wodurch sich Hermann Schmitz, der 1958 Assistent von Landgrebe wurde, herausgefordert fühlte, die Phänomenologie gründlicher an die Leiblichkeit zu binden, was zu einer lebenslangen Kontroverse zwischen Hübner und Schmitz führte. Ob Hübner und Blumenberg damals schon Kontakte über die mythischen Quellen der Philosophie knüpften, wird ungeklärt bleiben, weil darüber von beiden keine Äußerungen bekannt geworden sind.

Über Bröcker erzählte Hübner gern, daß er bei neuen Behauptungen stets sehr eindringlich gefragt habe: „Wo steht das, wo steht das?“. Diese Leidenschaft, beim Philosophieren stets nach den Ursprüngen zu fragen, hatte Hübner schon bei den empiristischen Wissenschaftstheoretikern fasziniert, welche die Erkenntnisquellen aber nur in den sinnlichen Wahrnehmungen suchten, während Bröcker sie in der verschriftlichten Gedankenwelt verortete. Die Mathematik entstammt der reinsten Gedankenwelt, und Hübner hatte das Glück, in diese Welt der Mathematik gründlich von dem Kieler Mathematiker Rudolf Ullrich (mit Seitenblicken in die theoretische Physik) eingeführt worden zu sein.

Noch folgenreicher war für die ausgehende Kieler Zeit Hübners, daß Hans Lenk, der durch den Rudersport nach Kiel gekommen war, sein erster Schüler wurde, was Hübner später oft dankbar betonte. Lenk hatte in Freiburg Mathematik und Philosophie studiert und war darum dem Hübnerschen philosophischen Stil möglichst exakter Argumentationen sehr zugetan. Obwohl das harte, intensive Rudertraining unter Karl Adam in Ratzeburg überdurchschnittlich viel Zeit und Kraft in Anspruch nahm, konnte sich Hübner in der kurzen Zeit, die ihnen zum Philosophieren blieb, von Lenks intellektueller Leistungsfähigkeit so nachhaltig überzeugen, daß eine tiefe geistige Verbundenheit und Freundschaft entstand wie zu keinem anderen seiner späteren Schüler. Dieses innere Zusammenhangsgefühl, das beiden lebenslang erhalten blieb, bewegte Hübner dazu, schon 1960—als er einen Ruf an die Technische Universität (TU) in Berlin bekam—Hans Lenk zu versprechen, ihm eine Assistentenstelle in Berlin freizuhalten, bis er seine Promotion bei dem Kieler Soziologen Wurzbacher 1961 beendet hatte. Im Jahr 1960 wurde Hans Lenk Olympiasieger im Deutschland-Achter in Rom und ab 1962 Hübners Assistent an der TU in Berlin.

4 Die Berliner Zeit: Beginn des Brückenbaus zwischen Natur- und Geisteswissenschaften

Darüber, warum der an der Kieler Universität frischgebackene Privatdozent Kurt Hübner den Ruf an die TU nach Berlin bekam und welche Personen mit diesem Ruf für den erst 38 Jahre alten Hübner Schicksal spielten, ist wenig bekannt. Über Hübners wissenschaftliche Qualifikationen war 1960 nur durch drei beachtenswerte Veröffentlichungen etwas zu erfahren, davon keine über Technikphilosophie. Seine Dissertation wies ihn als hervorragenden Kant-Kenner aus und seine Habilitationsschrift als sorgfältigen Forscher über die mannigfaltigen Begründungsvarianten des Logischen Positivismus und über die besonders im Wiener Kreis gepflegten Mißverständnisse des Metaphysikbegriffs, die sich bis zum gänzlichen Unverständnis des von Kant herausgearbeiteten transzendentalen Metaphysikbegriffs steigerten. Für die Berliner könnte Hübners Besprechung des von Hans Reichenbach 1951 erschienenen Werks The Rise of Scientific Philosophy von Interesse gewesen sein, das 1955 dank der Übersetzung von Reichenbachs Frau Maria im Berliner Herbig-Verlag auf deutsch erschienen war. Daß Hübners Besprechung noch im selben Jahr erschien, wies ihn als guten Kenner der philosophischen und wissenschaftstheoretischen Forschungen aus, die in Berlin mit viel Engagement vorangetrieben worden waren. Immerhin war Hans Reichenbach auf Einsteins Vorschlag 1926 ao. Professor für Philosophie der Physik an der Universität Berlin geworden, wo er mit Rudolf Carnap 1930 die Zeitschrift Erkenntnis des Logischen Positivismus gründete. Von den Nationalsozialisten als „Nicht-Arier“ eingestuft, verlor Reichenbach 1933 die Professur in Berlin. Er verließ darum noch im gleichen Jahr Deutschland. An Reichenbachs Wirken sollte an der neu gegründeten Technischen Universität Berlin bewusst angeknüpft werden. War dies der Grund für Hübners Ruf nach Berlin, oder etwa seine frühe Rostocker Bekanntschaft mit Johannes Erich Heyde, der im Fach Philosophie an der TU Hübners Vorgänger war und ihn vielleicht empfohlen hat?

Kurt Hübner war aus verschiedenen Gründen sicher ein geeigneter Kandidat für die Professur an der TU Berlin, denn deren Neuausrichtung wurde schon 1950 im englischen Sektor Berlins mit der Einrichtung einer humanistischen Fakultät betont, aus der die Fakultät I mit all ihren geisteswissenschaftlichen Fächern hervorging. Überdies wurde mit der humanistischen Konzeption der TU ein erster Brückenschlag zwischen den Technik- und den Geisteswissenschaften vollzogen, was ganz zu Hübners philosophischem Vorhaben paßte. Kurt Hübner nahm die Berufung an die TU Berlin jedenfalls mit Begeisterung an, die sich auch darin ausdrückte, daß er schon 1961 die Festrede für die neu immatrikulierten Studenten der TU Berlin hielt (vgl. Hübner 1962) und bald danach grundlegende Texte zur Philosophie der Physik und Technik veröffentlichte. Diese Arbeiten brachten Hübner so viel Anerkennung ein, daß er 1969 zum Präsidenten der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland e.V. gewählt wurde.

Die Berliner Zeit nutzte Hübner zum intensiven Grundlagenstudium in systematisch-theoretischer und historischer Hinsicht, um die nötigen Kenntnisse zur Verwirklichung seines philosophischen Grundanliegens zu erwerben, ein Brückenbauer zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu werden. Dazu waren die Grundlagen dieser beiden Wissenschaftstypen ebenso gründlich zu studieren wie die der herkömmlichen Philosophie und der analytischen Philosophie des Wiener Kreises. Ein solides Fundament dazu hatte er durch sein Philosophie-Studium, seine Promotion und seine Habilitation bereits in Kiel gelegt. In Berlin war nun das Studium der philosophischen Grundlagen der Physik, insbesondere der theoretischen Physik der Quantentheorie und der Relativitätstheorie an der Reihe, denn die Physik galt für die meisten Wissenschaftstheoretiker als die Grundlage aller Naturwissenschaften.

Hübner hat in Berlin eine Art Marathon-Studium der wichtigsten theoretischen Werke von Planck, Schrödinger, Bohr, Heisenberg, Bohm, Born, Sommerfeld, Pauli, von Weizsäcker und sogar auch noch von v. Neumann betrieben, um sich in die Quantentheorie einzuarbeiten. Für das Studium der Relativitätstheorie las er Einsteins populär gehaltene Originalschriften und zur Vertiefung seiner Kenntnisse besondere Schriften von Bondi, Schilpp, von Weizsäcker, Dicke, Dewitt und Synge. Um die Kritik der physikalischen Grundlagentheorien schart sich noch ein ganzes Heer von Autoren, deren Texte Hübner ebenfalls sorgsam erarbeitet hat. Die intensive Auseinandersetzung mit den Theorien der Naturwissenschaften führten Hübner zur Ablehnung der vielfach vertretenen Überzeugung, man könne mit Hilfe der Naturwissenschaften absolute Wahrheiten zu Tage fördern und bahnte den Weg zu seiner Grundkonzeption, nach welcher der Wahrheitsanspruch naturwissenschaftlicher Aussagen durch ihre unhintergehbare historische Abhängigkeit zu relativieren ist. Zur Absicherung dieser weitreichenden Einsichten hat Hübner zwei Assistenten beschäftigt, die Mathematik und Physik studiert und ein Philosophiestudium absolviert hatten. Hübner hat ihnen für die philosophische Zusammenarbeit viel Freiraum gelassen, weil nach seiner Auffassung die Fruchtbarkeit wissenschaftlicher Diskussionen durch die Freiheit der Diskussionspartner gefördert wird. Diese beiden Assistenten waren Friedrich Rapp und Hans Lenk. Für die geisteswissenschaftliche Seite seines philosophischen Brückenschlagunternehmens beschäftigte Kurt Hübner mit Hans Fiebig noch einen dritten Assistenten, der besonders durch kunstphilosophische Arbeiten hervortrat. Zur Absicherung seiner Forschungsergebnisse auf höchster wissenschaftlicher Ebene suchte Hübner Kontakte mit namhaften Gegenwarts-Philosophen, die er während der Sommersymposien des Europäischen Forums Alpbach in Österreich traf. Dort lernte er die wichtigsten Vertreter des Kritischen Rationalismus persönlich kennen, auch Karl Popper selbst und seine wichtigsten Schüler und einstigen Assistenten Imre Lakatos und Paul Feyerabend, mit denen er nicht nur im brieflichen Kontakt blieb, sondern überdies viele persönliche Kontakte organisierte. Mit Paul Feyerabend veranstaltete er an der TU Berlin sogar philosophische Seminare, zu denen Feyerabend eigens aus Zürich, Wien oder gar aus Berkeley per Flugzeug anreiste, je nachdem, wo er gerade seinen vielfältigen Lehrverpflichtungen nachging.

Mit Feyerabend war Hübner nicht nur durch sein wissenschaftstheoretisches Interesse an der Grundlagenforschung der Physik verbunden, sondern mehr noch durch das gemeinsame Interesse an der Erforschung der historischen Gewordenheit der sogenannten exakten Wissenschaften. Hübner war durch seine Detail-Untersuchungen über das Werden der Wissenschaft und insbesondere der Physik zu dem für die Wissenschaftstheorie grundlegenden Ergebnis vorgedrungen, daß der historische Begriffs- und Theoriebildungsprozeß weit mehr durch den geistesgeschichtlichen Wandel bedingt ist, als durch die empirischen Entdeckungen in den Naturwissenschaften, insbesondere in der Physik selbst (vgl. Hübner 1968b). Hübner hat diese Ergebnisse auf dem Wiener Philosophenkongreß 1968 durch ins Einzelne gehende historische Beispielanalysen belegt. Durch seine Untersuchungen von Keplers Astronomia Nova über dessen Weg zum Auffinden seiner berühmten Gesetze hat Hübner nachgewiesen, daß Kepler seine Gesetze nicht hätte finden können, wenn er die wissenschaftstheoretischen Methoden der Logischen Positivisten oder der Kritischen Rationalisten angewandt hätte (vgl. Hübner 1969b), sondern daß er sich von historisch überlieferten philosophischen Prinzipien über das astronomische Geschehen ausgehend, von sehr gewagten eigenen Hypothesen zur Veränderung jener historisch gewordenen Überzeugungen über die Formen der Sternenbewegung leiten ließ, die teilweise sogar der späteren Newtonschen Theorie widersprachen, die aber im nachhinein mit ihr kompatibel gemacht werden konnten. Diese Ergebnisse waren viel Wasser auf die Mühlen des ‘wissenschaftstheoretischen Revoluzzers schlechthin’, Paul Feyerabend, der sein Hauptwerk Against Method trotz Hübners argumentativer Schützenhilfe erst 1974 herausbrachte.

Im Sinne seines Brückenbauvorhabens begann Hübner, Symposien mit internationalen Persönlichkeiten der Philosophie und der Wissenschaften in Griechenland in Zusammenarbeit mit der 1959 gegründeten Griechischen Humanistischen Gesellschaft in Athen zu organisieren. Daß es gelingen konnte, während dieser Symposien internationale Größen der Philosophie und der Wissenschaft brennende Grundlagenfragen der Wissenschaften und der Gesellschaft diskutieren zu lassen, ist dem Organisationstalent Kurt Hübners zu danken, der die finanzielle Unterstützung dieses großen Brückenbau-Unternehmens zwischen Geistes- und Naturwissenschaften durch die Fritz-Thyssen-Stiftung sicherstellte. Derartige Symposien, in denen die bedeutendsten Köpfe unserer Zeit um tragfähige Lösungen der europäischen Vereinigungsproblematik ringen, in Griechenland, dem Ursprungsland der Philosophie und Wissenschaft, wiederzubeleben, könnten eine gesunde Vereinigung Europas jetzt sehr unterstützen.Footnote 3

Freilich vermochte Kurt Hübner diese weitsichtigen Aktivitäten in Berlin nur dank der Zuarbeit seiner drei Assistenten Rapp, Lenk und Fiebig durchzuführen. Leider war diesem nahezu idealen philosophischen Zukunftsgespann aufgrund der, nicht nur für Hübner, in den sechziger Jahren unerträglich gewordenen Krawalle an den Berliner Universitäten, die ein solides wissenschaftliches Arbeiten und Diskutieren mit den Studierenden verhinderten, keine längere Lebensdauer beschieden. Darum nahm Hans Lenk schon 1969 einen Ruf an die Universität Karlsruhe an, und auch Hübner zog es von Berlin hin nach Kiel, das—bedingt durch Hans Diller und Walter Bröcker—seine philosophische Heimat geworden war. Hübner nahm den 1971 an ihn ergangenen Ruf auf eine ordentliche Professur für Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gern an. In seinen Berufungsverhandlungen wurden ihm wieder zwei Assistentenstellen zugesprochen, eine für die geisteswissenschaftliche Seite seines Brückenschlagunternehmens und eine für die weitere Ausarbeitung seines mathematisch-naturwissenschaftlichen Schwerpunkts.

Für die geistesgeschichtliche Grundlagenarbeit konnte Hübner seinen gut eingearbeiteten Assistenten Hans Fiebig aus Berlin mitnehmen, und für den mathematisch-physikalisch-naturwissenschaftlichen Arbeitsbereich suchte er um Findungshilfe bei den Professoren der Math.-Nat.-Fakultät der Universität Kiel nach. Ein Vorschlag kam vom Direktor des Instituts für reine und angewandte Kernphysik Prof. Dr. Erich Bagge. Er schlug den in seinem Institut unter Prof. Dr. K. O. Thielheim promovierenden Diplomphysiker, Maschinenbauingenieur und Schlossergesellen vor, der sich gewiß für Philosophie interessiere, ‚weil er Musik mache‘ und der nun der Autor des vorliegenden Nachrufs geworden ist. Nach einem intensiven Vorstellungsgespräch, das keinen 68er-Verdacht ergab, ging Hübner schließlich das Wagnis ein, einen Assistenten ohne Abitur und ohne Philosophiestudium in seine Dienste treten zu lassen.

5 Die frühe Kieler Zeit: Entwicklung einer historistischen Wissenschaftstheorie

In Kiel ging es für Hübner anfangs wesentlich darum, seine physikalischen Kenntnisse in Quantentheorie, Allgemeiner Relativitätstheorie und Astrophysik mit Hilfe seines neuen Assistenten so zu erweitern und zu festigen, daß er es wagen konnte, die wissenschaftstheoretischen Herrschaftsansprüche der sogenannten normativen Wissenschaftstheorien gut begründet zurückzuweisen. Aufgrund seiner wissenschaftstheoretischen Arbeiten in Berlin hat Hübner während des deutschen Philosophenkongresses 1969 in Düsseldorf, auf dem er zum Präsidenten gewählt wurde, seine Weiterentwicklung der historistischen Wissenschaftstheorie von Pierre Duhem (1861–1916) vorgetragen (vgl. Hübner 1972a), worin er seine wissenschaftstheoretischen Erkenntnisse über die grundsätzliche Historizität aller Wissenschaften und ihrer Ergebnisse belegte. Die damit verbundene Ablehnung jeden Absolutheitsanspruchs wissenschaftlicher Erkenntnisse ist bereits die Position des wissenschaftlichen Relativismus, eine Bezeichnung, die Hübner gern umging, weil allzu oft die Ernsthaftigkeit des Relativismus mit der Behauptung denunziert wurde, im Relativismus herrsche Beliebigkeit, was zweifellos nicht nur falsch, sondern geradezu umgekehrt ist: Die Relativität einer Aussage bedeutet, daß deren Wahrheit oder lediglich Gültigkeit von Bedingungen abhängt—im krassen Gegensatz zu der Beliebigkeit einer Aussage, deren Wahrheit oder Gültigkeit keinerlei Bedingungen unterworfen ist.Footnote 4 Um diesem Vorurteil, das oft mit dem Begriff des Relativismus auf unverantwortliche Weise verbunden wird, gar nicht erst ausgeliefert zu sein, sprach Hübner gern von einem Relationalismus, den er mit seinem Historismus vertrete.

Durch die Historisierung durfte nicht die solide Basis jeder wissenschaftlichen Arbeit verlorengehen; denn Hübner wollte für die Wissenschaft und deren Fortschritt ein Fundament aufzeigen, das eine zukünftige wissenschaftliche Wirksamkeit wissenschaftlicher Arbeit sichert: Das ist die Bedingung für mühevolles, sinnvolles wissenschaftliches Arbeiten. Obwohl die normativen Wissenschaftstheorien ursprünglich entstanden, um den Philosophen wieder ein sinnvolles Arbeitsgebiet zu verschaffen, als sie glaubten, die theoretische Grundlagenarbeit den theoretischen Physikern überlassen zu müssen, könnte es nun so erscheinen, als ob die normativen Wissenschaftstheoretiker in einer Art Vorahnung möglicher wissenschaftlicher Verunsicherungen, wie sie durch die Hübnersche Historisierung der Wissenschaften eingetreten waren, Abhilfe schaffen wollten, indem sie darum bemüht waren, den Wissenschaftlern Konzepte gesicherten wissenschaftlichen Arbeitens zu liefern. Damit aber machten sie ihnen Vorschriften zur Durchführung ihrer Forschungsarbeit, um ihren Arbeitsergebnissen anerkennbare Wissenschaftlichkeit zu garantieren, was freilich nicht zur Beliebtheit der Wissenschaftstheorie unter den Wissenschaftlern beitrug. Aus den drei historischen erkenntnistheoretischen Hauptrichtungen des Empirismus, des Rationalismus und des Konstruktivismus entstanden die drei normativen Wissenschaftstheorien des Logischen Empirismus—auch Logischer Positivismus genannt—, des Kritischen Rationalismus und des Erlanger Konstruktivismus. Ihre normativen Ansprüche stützten sie auf ihre erkenntnistheoretischen Traditionen.

Hübner hatte schon in seinen Kieler Studienzeiten jene Grundrichtungen der Erkenntnistheorie und die darauf aufbauenden normativen Wissenschaftstheorien gründlich studiert und in seiner Berliner Zeit nicht eben weniger gründlich die Literatur über die tatsächlich erfolgten revolutionären physikalischen Erkenntnisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bei diesen Studien stellte er fest, daß die neuen Erkenntnisse nicht durch die Befolgung der Vorschriften der normativen Wissenschaftstheoretiker hätten hervorgebracht werden können. Dadurch stand es für Hübner in Kiel schon mit seinem Amtsantritt fest, die Vernünftigkeit des fordernden Vorgehens der normativen Wissenschaftstheoretiker zu bestreiten, womit das Thema seines wissenschaftstheoretischen Hauptwerks Kritik der wissenschaftlichen Vernunft (KwV) geboren war. Das Buch ist allerdings erst 1978 beim Alber-Verlag erschienen. Diese Verzögerung entstand aufgrund der zeitlichen Inanspruchnahme Hübners durch seine Präsidentschaft der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland e.V. von 1969 bis 1975; es waren die Philosophie-Kongresse 1972 in Kiel und 1975 in Göttingen verantwortlich durchzuführen, die Hübner ganz seinen Zielen widmete, Brücken des gegenseitigen Verstehens zwischen Philosophie, Natur- und Geisteswissenschaften zu schlagen. Auch seine in viele Sprachen übersetzte KwV diente diesem Ziel und nicht etwa dem, Wissenschaft ohne Vernunft betreiben zu lassen, sondern im Gegenteil dem Ziel, der Vernunft wieder den Rang einzuräumen, der ihr als einer sich selbst kritisierenden Vernunft seit Kant zukommt.

Durch Hübners Forschung über die historischen Begründungen wissenschaftlicher Theorien und mit Entdeckerfreude betriebenen Anwendungen derselben fand er fünf Typen von Festsetzungen, die zu ihrer Erstellung nötig sind. Sie werden von den Wissenschaftlern meist intuitiv und damit nur unbewusst benutzt. Hübner nennt diese Festsetzungen wissenschaftstheoretische Kategorien. Er hat sie bereits in seiner Arbeit über Duhems historistische Wissenschaftstheorie vorgestellt und im Kap. IV der KwV im Einzelnen begründet:

  1. 1.

    die instrumentellen Festsetzungen zur Gewinnung einzelner Aussagen,

  2. 2.

    die funktionalen Festsetzungen zur Bestimmung allgemeiner Aussageformen zur Erfassung der durch die instrumentellen Festsetzungen gewonnenen Datenmengen und zur Erkenntnisgewinnung,

  3. 3.

    die axiomatischen Festsetzungen zur Darstellung der gegenseitigen Bedeutungsabhängigkeiten der in den instrumentalen und funktionalen Festsetzungen verwendeten Begriffe,

  4. 4.

    die judicalen Festsetzungen zur Bestimmung der Möglichkeit, Verifikationen oder Falsifikationen von wissenschaftlichen Theorien vorzunehmen und der Konsequenzen, die daraus für das weitere wissenschaftliche Arbeiten zu ziehen sind,

  5. 5.

    die normativen Festsetzungen, die festlegen, welche Eigenschaften eine wissenschaftliche Theorie als Ganzes im Rahmen der Wahrnehmungs- und Einsichtsvermögen der Menschen besitzen soll. Dies können z.B. Einfachheitsprinzipien der Theorie und ihrer Erklärungen sein oder die Unterscheidung von Falsifikationsgraden oder die Festsetzung, ob ausschließlich kausale Beziehungen zugelassen werden oder auch finale.

Mit der Denkmöglichkeit, finale Erklärungen als wissenschaftliche Erklärungen anzusehen, hatte es für Hübner eine ganz besondere Bewandtnis, denn bis heute ist man unter Naturwissenschaftlern ganz selbstverständlich der Meinung: ‚Finale Erklärungen sind unwissenschaftlich‘. Diese Wissenschaftler haben intuitiv die normative Festsetzung getroffen, nur Kausalerklärungen zuzulassen. Obwohl oder gerade weil ich für Hübner stets die Rolle des versierten Naturwissenschaftlers zu spielen hatte, äußerte er mir gegenüber häufig die Meinung, daß die Finalität in den Naturwissenschaften—insbesondere in der Physik—einmal große Bedeutung gewinnen könnte. Erstaunlicherweise konnte ich—allerdings etwa 25 Jahre danach und nicht mehr als sein Assistent—Hübners Vermutung in einem Aufsatz bestätigen, den ich ihm darum zu seinem 88. Geburtstag widmete.Footnote 5 Durch die von Hübner geforderte Bewußtmachung der oft nur intuitiv benutzten wissenschaftstheoretischen Kategorien, können derartige Überraschungen auftreten oder gar wissenschaftliche Revolutionen entstehen, wie es Einstein mit seiner scheinbar einfachen Frage nach der Gleichzeitigkeit räumlich entfernter Ereignisse ergangen ist, wodurch die wissenschaftliche Revolution der speziellen Relativitätstheorie losgetreten war. Das Entsprechende gilt für die Sozial- und Geisteswissenschaften. Auch sie sind durch Hübners Theorie der wissenschaftstheoretischen Kategorien dazu aufgefordert, ihre Festsetzungen explizit zu machen. Durch seine Theorie der wissenschaftstheoretischen Kategorien gelingt es Hübner, den Allgemeingültigkeitsanspruch der normativen Wissenschaftstheorien zurückzuweisen. Aber weil auch die Inhalte der wissenschaftstheoretischen Kategorien historisch abhängig und keine absoluten Kriterien zu ihrer Bestimmung angebbar sind, ist Hübners Wissenschaftstheorie eine durchgängig historistische Wissenschaftstheorie. Darum läßt sich auch der Fortschritt in der Wissenschaft nur historisch bestimmen, weil alle Entdeckungen historische Ereignisse sind, d.h. nur durch historisch gewordene Bewußtseinsformen erkennbar sind. Demzufolge hat Hübner zur Bestimmung des Fortschrittsbegriffs eine eigene Theorie in seiner KwV entworfen. Darin benutzt er das evolutionäre Modell der Widerspruchsbeseitigung in der von ihm konstruierten Menge von Regelsystemen des menschlichen Verhaltens, welche er als Systemmenge kennzeichnet. Eine historische Situation identifiziert er mit der Systemmenge, deren Regeln in ihr gelten. Ein Fortschritt geschieht, wenn Widersprüche in der Systemmenge beseitigt werden, die in ihr auftreten, weil sich die Regelsysteme in ihr in widersprüchlicher Weise verändert haben, etwa durch die Änderungen der Lebensauffassungen der Menschen. Dies ist ein Modell für eine kulturelle Evolution. Besonders eigentümlich ist Hübners negative Einstellung gegenüber der biologischen Evolution, die sogar zu einem Zerwürfnis mit seinem Freund, dem Paläontologen Heinrich Karl Erben, führte. Angeblich sei die biologische Evolutionstheorie theoretisch nicht gut begründet, ein Einwand, der von Erben und von vielen anderen Autoren widerlegt worden ist.Footnote 6

Diese mit zunehmendem Alter wachsende Abneigung Hübners gegenüber der biologischen Evolutionstheorie könnte aus der religiösen Erziehung in seiner Kindheit stammen, die später eine Neigung erweckte, Freiräume für wissenschaftlich nicht Erforschbares zu reservieren, um das Wunderbare der Entstehung des Lebens als Wunder zu bewahren. Zunächst aber ist Hübner in seiner ersten Kieler Zeit zum Bewunderer Nietzsches geworden und nach dem Bekunden seiner Söhne aus der katholischen Kirche ausgetreten. Aber in seiner zweiten Kieler Zeit entzog er sich diesem Einfluß Nietzsches, indem er sich bei der Beurteilung des Streits zwischen Wagner und Nietzsche allmählich mehr auf die Seite Wagners schlug, um dem Numinosen im Sinne Rudolf Ottos mehr Raum zu geben. Dabei wuchs sein Interesse an mythischen Stoffen, wie Wagner sie für die Verwirklichung seiner Gesamtkunstwerk-Idee verwendete.

Ich erinnere mich deutlich daran, wie Hübner auf einer der monatlichen ‚Kneipensitzungen‘ mit seinen Assistenten begeistert aus einem Brief von Paul Feyerabend vorlas, der meinte, in den überlieferten Mythen tiefe Menschheitsweisheit entdeckt zu haben, die uns aufgrund unseres wissenschaftlich-rationalen Hochmuts verborgen bleibe, und es an der Zeit sei, diese Schätze zu bergen, zu heben und in unser Bewusstsein zu integrieren. Dieser Brief Feyerabends könnte der Anstoß für Hübner gewesen sein, der KwV ein Kapitel über den Mythos anzufügen, in dem er die wichtigsten Grundgedanken seiner späteren Mythosforschung anlegte: Der Mythos ist die Vorstufe zum wissenschaftlichen Zeitalter, das die mythischen Formen noch verdeckt enthält. Das ist deshalb erstaunlich, weil die mythischen Menschen, deren Wirklichkeitsverständnis durch die mythischen Formen geprägt war, ein ganz anderes Bewusstsein hatten, als die Menschen heute, etwa in Form des zyklischen Zeitbewusstseins der ewigen Wiederkehr des Gleichen, wodurch sie nicht in der Lage waren, Einzelnes von Allgemeinem oder Materielles von Ideellem zu unterscheiden.

6 Die späten Kieler Jahre: Die Mythostheorie und ihre Konsequenzen

Sieben Jahre hat Hübner über den Mythos geforscht, bis er die Wahrheit des Mythos der staunenden Öffentlichkeit präsentierte. Warum die Wahrheit? Weil nach Hübner alles oder das Allermeiste, was über den Mythos erzählt wurde, falsch war. So meinte man, Mythen seien Märchen oder naive Welterklärungsversuche, die heute widerlegt werden können, etwa, wenn im griechischen Mythos das Echo als das Wirken der Nymphe Echo verstanden wurde, welche Hera wegen ihrer Geschwätzigkeit damit bestrafte, nur noch nachplappern und keinen Satz selbständig beginnen zu können, weil sie Hera mit Schwatzen aufgehalten hatte, wenn Zeus nicht beim Fremdgehen erwischt werden wollte, oder in einem anderen Beispiel mythischer Erklärungen, wenn Blitz und Donner als die Funken und das Gelärme verstanden wurden, das der wütende Thor im Götterhimmel mit seinen Hammerschlägen vollbrachte. Für all diese Naturerscheinungen gebe es heute wissenschaftliche Erklärungen, welche die Mythen als Unsinn entlarvten.

Das Bewußtsein der mythischen Menschen und ihr Wirklichkeitsverständnis war aber ein ganz anderes als das, welches wir heute in uns vorfinden. Das hat Kurt Hübner durch langwierige und mühevolle Denkarbeit erst allmählich herausgefunden. Indem er diese neue Sicht des Mythos am Ende seiner KwV in ihren Grundzügen mit den Mitteln des wissenschaftlichen Argumentierens herausarbeiten konnte, war ihm ein neues Argument in die Hand gegeben, um unsere wissenschaftliche Vernunft zu kritisieren und ihren Allgemeingültigkeitsanspruch überzeugend zurückzuweisen. Aus diesem Grund wieder ein mythisches Zeitalter einführen zu wollen, hielt er aber schon immer für absurd, weil die Menschenwelt inzwischen ganz von der wissenschaftlich-technischen Denk- und Arbeitsweise durchdrungen sei. Aber es mußte verstanden werden, wie unsere Vorfahren mit einem so anders gearteten Bewusstsein haben überhaupt überleben können.

Um das zu begreifen, suchte Hübner zunächst mythische Denkformen auf, die bei Menschen der Neuzeit noch zu finden sind, bei den Dichtern, Musikern und Malern und sogar bei in den Anfängen und Grundlagen der Naturwissenschaft. Nachdem er bei Wagner mythische Formen in seiner musikalischen Motivkultur als mythische Substanzen entdeckt hatte, welche die handelnden Personen verbinden, wurde Hübner bei Friedrich Hölderlin fündig, der großflächige Zusammenhänge von Landschaften und Kulturen der Menschen durch Numinose Wesenheiten komponierte, eine Begrifflichkeit, die Hübner von Rudolf Otto übernommen und vielfältig ausgebaut hat,Footnote 7 um dem unnennbaren Wirken von etwas Göttlichem Ausdruck zu verleihen. Es gelingt ihm sogar, bei den Grundlagen der alten und neuen Physik mythische Denkstrukturen nachzuweisen, die sich als die Beziehungsproblematik zwischen Subjekt und Objekt erweisen, welche aber nicht erkannt werden konnten, solange ihre mythischen Ursprünge nicht aufgedeckt waren. Diese Nachweise nährten Hübners Vermutung, daß auch in den heutigen Menschen das Mythische weiterhin lebendig ist, nur auf ganz andere Weise, als es in den überlieferten Mythen zum Ausdruck kommt. Für diese Vermutung fand er in der abstrakten Malerei und Bildhauerei reichhaltige Belege.

Aufgrund der ganzheitlichen Verfassung des Mythos hat Hübner schon in seiner KwV gezeigt, wie die heute unterschiedenen Kulturbereiche der Sinnstiftung (Religion), der Kreativitätsausübung (Kunst) und der Welterkenntnis (Wissenschaft) im Mythos gänzlich miteinander verschmolzen waren, so daß eine historische Betrachtung von Religion, Kunst und Wissenschaft erst nach dem allmählich zunehmendem Zerfall des Mythos beginnen kann (Hübner 1978a, 397f.). Demgemäß hat Hübner das Unternehmen einer wissenschaftlichen Erforschung des menschlichen Wesens in seinem Werk Die Wahrheit des Mythos damit begonnen, daß er die Entwicklung der menschlichen Sinnstiftungsfähigkeiten anhand der mit dem allmählichen Zerfall des Mythos auftretenden ersten Religionsformen untersuchte. An der Verbindung der damit verbundenen theologischen Denkformen mit den Denkformen der mythischen Substanz, mythischen Qualität und Quantität zeigt Hübner, daß die bis heute erhaltenen Religionsformen von mythischen Inhalten abhängig sind, so daß Bultmanns Versuch der Entmythologisierung des Christentums in seine Sinnleere führen mußte.Footnote 8

Nach Hübner besitzen die mythischen Menschen noch keinerlei Individualität, wohl aber die von den menschlichen Gehirnen erfundenen Göttinnen und Götter. Erst mit den Heroen, die einer göttlichen Herkunft wegen verehrt wurden, traten Menschen mit Individualität und besonderer Kreativität hervor, so auch die Propheten des Alten Testaments, die allerdings ihre Gedanken noch immer als Aussagen ihres Stammesgottes interpretierten. Schöpfungskraft, Eigenständigkeit und Individualität werden ursprünglich als göttliche Eigenschaften verstanden, die zuerst besonderen Menschen von Göttern verliehen oder von ihnen ererbt werden. Mit dem schrittweisen Zerfall des Mythos haben sich in der Neuzeit allmählich die einst göttlichen Eigenschaften auf die Menschen übertragen, was die Stufung der Phylogenese des Gehirns weiter aufhellt und insbesondere die Verbundenheit unserer Kultur mit ihren mythischen Ursprüngen. Für Hübner besitzen die heutigen Menschen die ehemals göttliche Eigenschaft der Kreativität, warum er der Kunst der Moderne seine besondere Aufmerksamkeit in seinem Werk Die Wahrheit des Mythos widmet und sein späteres Werk über die Kunst Die zweite Schöpfung nennt.

Hübner hat gezeigt, wie in unserer wissenschaftlich-technischen Weltauffassung noch immer mythische Formen enthalten sind. Als neuzeitliche Menschen haben wir ein offenes Zeitbewußtsein und kein zyklisches mehr. Dennoch manifestiert sich in der Physik noch deutlich die mythische Vorstellung eines zyklischen zeitlichen Geschehens, da wir die Zeit nur mit periodischen Prozessen messen können, deren streng periodischen Verlauf wir postulieren müssen, so, als ob in den physikalisch periodischen Vorgängen zur Zeitmessung eine mythische zyklische Zeit abliefe.Footnote 9

Das mythische Bewußtsein einer zyklischen Zeit war an die Überzeugung geknüpft, daß alles Geschehen von unsterblichen Gottheiten bewirkt wird. Nach dem Stand der Wissenschaft heute sind diese Wirklichkeitsvorstellungen Produkte der Gehirne, welche die evolutionär entstandenen Sicherheits-Organe der Lebewesen sind, die bei den Tieren die äußere und bei den Menschen auch ihre innere Existenz durch Bewußtseinsformen und Wirklichkeitsvorstellungen sichern. Mit den von menschlichen Gehirnen gegliederten Lebensbereichen, die gemäß der biologischen Erfahrungswelt von weiblichen oder männlichen Gottheiten regiert werden, beginnt die Kulturentwicklung, in der anfangs das Überleben der Nachkommen durch unbedingtes Unterordnen gesichert wird. Diese Unterwürfigkeits-Bewußtseinsform bestimmt die erste menschheitsgeschichtliche Kulturstufe des Mythos, in dem die Götter im Jahreslauf nur einen scheinbaren Tod erleiden, da sie immer wieder geboren werden. Die Götter sind unsterblich und das Geschehen wird durch unveränderliche Göttergeschichten, die Hübner Archái nennt, beschrieben und festgelegt. Diese Archái bestimmen auch das, was mit den Menschen geschieht. Damit sind sie für Hübner die gedanklichen Vorläufer der von uns als unveränderlich gedachten Naturgesetze, die alles Geschehen in unserer sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit beherrschen.

Bis Hübner die Wahrheit des Mythos veröffentlichte, waren für die Mythosdeuter die Menschen in der Zeit des Mythos die gleichen wie heute. Für Biologen gilt es nämlich als Tatsache, daß sich die Menschen seit der Zeit des Mythos biologisch nicht mehr verändert haben und daher ebenso ausgestattet waren, wie die biologische Evolution uns Menschen seit vielen Tausenden von Jahren hervorgebracht hat; denn die historischen Entwicklungszeiträume von wenigen tausend Jahren sind viel zu kurz, als daß in ihnen erhebliche biologische Erbänderungen hätten stattfinden können.

Mit seiner Mythostheorie betont Hübner, daß es neben der naturwissenschaftlichen Wirklichkeit, wie wir sie heute erfassen, noch eine Wirklichkeit im Bewusstsein der Menschen gibt, die mit der Bewusstseinsveränderung durch die kulturelle Entwicklung der Menschheit einem historischen Wandel unterworfen ist.

Trotz oder auch wegen der Vielfalt der Erscheinungen des Mythischen suchte Hübner nach Formen, die in ihnen trotz ihrer Vielgestaltigkeit überall anzutreffen sind, so daß sich überhaupt von dem Mythos sprechen läßt, mit dem eine vom naturwissenschaftlich-technischen Weltbild tiefgreifend unterschiedene Wirklichkeitsauffassung gegeben ist. Diese Formen findet er durch Analyse des griechischen Mythos, ohne denselben zu verabsolutieren, was ihm fälschlicherweise dennoch vorgeworfen wurde.

Hübner hat als Charakteristikum der mythischen Menschen herausgefunden, noch nicht Einzelnes von Allgemeinem unterscheiden zu können und nicht Materielles von Ideellem und auch nicht Faktisches von Möglichem oder sogar nicht einmal Traum von Wirklichkeit. Unser heutiges begriffliches Denken, so wie es Kant dem Vermögen des Verstandes zugeschrieben hat, bedarf der klaren Unterscheidungsfähigkeit von Einzelnem und Allgemeinem, die aber keine biologische Eigenschaft des Menschen ist, sondern sie wird erst durch eine von unseren Gehirnen bestimmte Bewusstseinsform hervorgebracht. Die Kulturgeschichte der Menschen ist somit eine Geschichte des Wandels der Bewusstseinsformen ihrer Gehirne. Im antiken Griechenland lässt sich die Phylogenese der neuronalen Gehirnverschaltungen in Form des Bewusstseinswandels bei den Vorsokratikern von Hesiod bis Sokrates Schritt für Schritt nachzeichnen. Für die Forschungsarbeit in Hübners Nachfolge ist darum der Bewusstseinsbegriff zu klären, um die Phylogenese der Gehirnverschaltungen als Zuarbeit für eine theoretische Gehirnphysiologie genauer beschreiben zu können.Footnote 10

Weil sich die menschlichen Gemeinschaftsformen schon in mythischer Zeit ausgeprägt haben, begann Hübner schon in seiner Wahrheit des Mythos, den Zusammenhang der heutigen Vorstellungen von staatlichen und überstaatlichen Gemeinschaftsformen zu den mythischen Formen aufzuzeigen, was er angesichts der europäischen Einigungsversuche 1991 in einem besonderen Werk mit dem vielsagenden Titel Das Nationale. Verdrängtes, Unvermeidliches, Erstrebenswertes fortsetzte. Erstaunlicherweise benutzt Hübner darin die Gemeinschaftsformen der Geschichtsfähigkeit, wie sie Kurt Lewin mit seinem Begriff der Genidentität einführte, um die Evolutionsfähigkeit der Lebewesen durch ein ihnen innewohnendes Prinzip der Erhaltung der eigenen Genidentität hervorzuheben. Ebenso bestimmt Hübner den Begriff der Nation am Beispiel des deutschen Volkes, welches von ihm „als ein überzeitliches Individuum verstanden“ wird, „das sich aus seiner Geschichte versteht und definiert und diese damit fortlebende Wirksamkeit und Wirklichkeit werden lässt“ (Hübner 1991a, 283). Das Volk oder die Nation wird damit zu einem kulturellen Lebewesen, welches über das Nationalgefühl der Volksangehörigen sogar einen Selbsterhaltungswillen der eigenen Genidentität besitzt und darum wie biologische Lebewesen zu einer Evolution fähig ist. So wie diese aus Verbänden von Lebewesen bestehen, etwa in Form von Zellverbänden als Organe der Lebewesen, so denkt sich Hübner das Zusammenwachsen von überstaatlichen Zusammenschlüssen, wie es im vereinten Europa sein sollte, weil dann die Entwicklungsfähigkeit der einzelnen Staaten erhalten bliebe. Wieder zeigt sich Hübner dem evolutionären Denken zugeneigt, wenn es um die Entfaltung mythischer Wurzeln geht, wie in der Ganzheit einer Nation, in der jeder Teil nicht nur mit ihr verbunden ist, sondern sich auch für den Erhalt der Nation einsetzt. Dazu führt Hübner aus:

Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Frage der Kollektivschuld der Deutschen an den Verbrechen der Nationalsozialisten. Wer das Bekenntnis zu dieser Schuld fordert, setzt notwendig die Identifikation mit der Nation voraus, versteht sich als ein Teil, der zugleich mit dem Ganzen verschmilzt. […] Im übrigen ändert die heute noch andauernde Debatte über diese Frage nichts daran, daß jeder, der sich als Deutscher versteht, zwangsläufig ein Schamgefühl darüber empfindet, was im „deutschen Namen“ geschehen ist, und daß er genauso unwillkürlich seine eigene Existenz gehoben fühlt, wo er sich als Angehöriger einer Nation sieht, die herausragende Beiträge zur Kultur der Menschheit geleistet hat. (Hübner 1991a, 273)

Bis es aber zu einem europäischen Nationalgefühl kommen könne, wäre noch viel Bewußtmachung der gemeinsamen Geschichte in allen europäischen Ländern vonnöten, eine Aufgabe, die Hübner am Schluß seines Buches den Politikern zuweist: „Es ist aber eine Frage praktischer Politik, dies zu erkennen und danach zu handeln“ (Hübner 1991a, 310).

Damit wendet sich Hübner mit seinem Buch über das Nationale an das Verantwortungsbewußtsein der handelnden Politiker, gemäß der Aufgabe der Philosophen, Anregungen durch gründliches Nachdenken über das Wesen des Menschen auszuarbeiten und zur Nutzung bereitzustellen. Hübner hat seine systematische Behandlung des Wesens der Menschen mit ihrem als religiös zu bezeichnenden Sinnstreben begonnen, wohlwissend, daß zu allem Sinnstreben auch die menschlichen Gemeinschaftsformen gehören, in denen sich Lebenssinn verwirklichen läßt. Darum folgte der Wahrheit des Mythos sein Buch über das Nationale, das aber lediglich das Äußere der Lebenswirklichkeit der Menschen betrifft. Ihrem Inneren wendet sich Hübner 1994 in seinem Buch mit dem vielsagenden Titel zu: Die zweite Schöpfung. Das Wirkliche in Kunst und Musik. Das zu beschreibende Wirkliche ist die innere Wirklichkeit, die im Menschen stattfindet und die ihn zu schöpferischen Leistungen befähigt. Im Gegensatz zur äußeren gehört die innere Wirklichkeit nicht zur sinnlich-wahrnehmbaren Wirklichkeit, sie spannt den Raum des Möglichen, Denkbaren und Verwirklichungsfähigen auf. Die sokratische Ermunterung zur Selbsterkenntnis dient der Erkundung dieser eigenen inneren Wirklichkeit. Wie Sokrates täglich auf der Agora fremde Menschen ansprach, um in sich selbst bislang unbekannte Saiten seiner inneren Wirklichkeit zum Schwingen zu bringen, so versteht Hübner die Kommunikationsangebote der Künstler und sucht nach Begrifflichkeiten der menschlichen Kommunikationsformen, um die innere Wirklichkeit des Menschen auszuleuchten. Er findet eine Spur in den mit jedem Sprechen verbundenen nichtsprachlichen Mitteilungen, in den sogenannten Konnotationen der Sprache, die Wilhelm von Humboldt als ‚Stimmung‘ zu fassen suchte, die an den Begriff der Saite erinnert, die mitschwingen und die gestimmt werden kann. Hübner bildet damit den Begriff der Gestimmtheit, indem er formuliert:

Ich verwende daher den Begriff Gestimmtheit als den für den gegebenen Fall umfassendsten und grundlegenden und verstehe Stimmung, Gefühl, Empfindung, Grundgestimmtheit, usw. als besondere Modi von Gestimmtheit. (Hübner 1994a, 29)

Sie ist es, die nach Hübner in Kunst und Musik zum Ausdruck im Sicht- und Hörbaren drängt. Diese Gestimmtheit sei auch geschichtlichen Veränderungsprozessen unterworfen, wie alles, was zum Wesen des Menschen gehört, insbesondere die stufenweise Kulturentwicklung durch die kulturelle Phylogenese seines Gehirns. Durch die kulturschaffenden Leistungen ihrer Gehirne gehören die Menschen der Kultur an, in der sie aufgewachsen sind, in der sich epochale Gestimmtheiten ausbilden, die sich auf die Kulturträger übertragen, wodurch das „Persönliche, Besondere, Individuelle“ aber keineswegs untergehe, wie Hübner es betont:

Dies alles ist auch daran erkennbar, daß Musik wesentlich in Gemeinschaft erfahren wird, sei es im Kulturraum, im Konzertsaal, in der Oper, ja selbst im Hause. Sie stellt ein Gemeinschaftserlebnis dar und kommt auch dort am stärksten zur Wirkung, wo dies empfunden wird. (Hübner 1994a, 67f.)

Damit unterstreicht Hübner, daß sich nicht nur im Bereich der Erkenntnisfähigkeiten von Wissenschaft und Technik eine historische Entwicklung vollzieht, sondern gemäß der Phylogenese ihrer Gehirne in allen Lebensbereichen der Menschen.

7 Die Zeit nach der Emeritierung: Abschied und Fortwirken

Bald nach Hübners Abschied von seiner universitären Lehre verabschiedete sich sein langjähriger Assistent Hans Fiebig aus beamtenrechtlichen Gründen vom Universitätsdienst und brach seinen Kontakt zu Hübner ab, was ihn sehr getroffen hat. Was ihn aber nicht davon abbrachte, sein Brückenbauvorhaben fortzusetzen, da er 1994 mit dem russischen Philosophen Teodor Iljitsch Oiserman und anderen russischen und deutschen Kollegen das Zentrum zum Studium der deutschen Philosophie und Soziologie in Moskau gründete.Footnote 11 Bevor dies geschah, war es wohl die letzte der vielen ‚Kneipensitzungen‘, die ich mit Hübner und Fiebig zusammen erlebte, als uns Hübner zum Schluß des Gesprächs über seine Erfahrungen im Ruhestand eröffnete, daß er an seinem ‚Schwanengesang‘, d.h., seinem letzten Werk, arbeite. Nach einer Weile unseres erstaunten, gedankenvollen Schweigens fügte er sehr bestimmt hinzu, er sei fest entschlossen, dieses Werk zu verbrennen, wenn es ihm nicht gelänge. Darüber zeigten wir uns äußerst verwundert, so daß er seinen Entschluß mehrfach bekräftigte. Wir schätzten seine Kritikfähigkeit und daß er uns immer angehalten hatte, seine Arbeiten so scharf wie möglich zu kritisieren, und dies sogar zu unserer Assistentenpflicht gemacht hatte. Aber diese Schärfe sich selbst gegenüber war uns neu. Dieses Gespräch fand im Herbst 1994 statt, als wir nicht mehr seine Assistenten waren. Wir nahmen daher an, daß Hübner unsere Kritikerfunktion nun selbst übernehmen wollte. Er hatte von uns nie eine vernichtende Kritik gefordert, und unsere Kritik ist auch niemals eine vernichtende gewesen, wie er sie nun an seinem eigenen letzten Werk im Falle des Mißlingens vorsah. Das war eine uns unbekannte und rätselhafte Einstellung, die Hübner seinem eigenen Werk und sogar seinem ‚Schwanengesang‘ gegenüber demonstrierte.

Es musste da etwas in Hübner für ihn selbst Überraschendes geschehen sein, das womöglich von der Art absolutistischer Neigungen war, die er unerwartet durch sein Vorhaben in sich vorfand, das Christentum philosophisch zu legitimieren. Über die immer wieder bei Philosophen auftretenden Annäherungsversuche zum Absoluten hat er sich früher oft mit uns zusammen lustig gemacht, etwa wenn er über Poppers Glauben an eine absolute Wahrheit lästerte. Sollten da etwa einige aus Hübners Kinder- und Jugendzeit stammende absolutistische Vorstellungen in verändertem Gewand wieder in seinem Bewusstsein aufgetaucht sein, von denen er zur Zeit unseres Gespräches noch nicht wußte, wie er mit ihnen umgehen konnte? Dies alles bleibt rätselhaft. Hübners ‚Schwanengesang‘ ist schließlich 2001, etwa sieben Jahre nach unserem Gespräch, mit dem Titel Glaube und Denken. Dimensionen der Wirklichkeit als ziemlich umfangreiches Buch erschienen. Hübner hat es mir mit der liebevollen handschriftlichen Widmung „Der Trinitarier dem Unitarier in alter, herzlicher VerbundenheitKurt Hübner“ überreicht. Für diesen feinsinnigen Gruß empfinde ich tiefe Dankbarkeit. Offensichtlich hat Kurt Hübner sein Manuskript nicht verbrannt, obwohl sein Vorhaben, darin eine Theologie eines geschichtslosen und absoluten Logos der Offenbarung durch seine Mythosphilosophie zu legitimieren, nicht gelingen konnte. Ich habe mir lediglich gestattet, ihm gegenüber dies anzudeuten, was seinen Abschied von mir nach sich zog. Darum hielt ich eine kritische Zurückhaltung gegenüber seinen beiden noch folgenden Werken für geboten: Das Christentum im Wettstreit der Weltreligionen. Zur Frage der Toleranz (2003) und Irrwege und Wege der Theologie in die Moderne. Ein kritischer Leitfaden zu einer Problemgeschichte (2006).

Diese Werke bedeuten für mich Kurt Hübners altersbedingten Abschied von der Philosophie des Historismus, die er so sorgsam ausgearbeitet hat und die auf eine Kennzeichnung des menschlichen Wesens als eines grundsätzlich historischen Wesens zielt. Diese zutiefst humanistische Philosophie wird für mich immer mit dem Namen seines Urhebers Kurt Hübner verbunden bleiben. Sein allmählicher Abschied davon ist für mich sehr schmerzlich gewesen, hatte ich doch das große Glück erlebt, Kurt Hübner auf dem Weg zur Entwicklung seiner Philosophie 30 Jahre lang begleiten zu dürfen, einer Philosophie, die zur Aufdeckung der Wahrheit des Mythos führte, woraus sich die bisher nur angedeuteten vielfältigen Konsequenzen für die Philosophie, die Wissenschaft, die Kunst, die Politik und die Gesellschaft ergeben.

8 Aufrufe an Philosophen, Wissenschaftler und Mitmenschen im Namen Kurt Hübners

Meine Dankbarkeit gegenüber Kurt Hübner und der Zeit des gemeinsamen Studierens und Philosophierens möchte ich zum Ausdruck bringen, indem ich versuche, Hübners Ruf an die Philosophen unserer Zeit und künftiger Zeiten deutlich hörbar zu machen, sich wieder mit aller aufwendbaren Mühe und Kraft den Grundlagen-Problemen unserer Zeit zuzuwenden, um dazu beizutragen, die Zukunft der Menschheit im friedlichen Zusammenleben der Menschen untereinander und mit der Natur möglichst langfristig sicherzustellen, so wie es Kurt Hübner sein philosophisches Leben lang mit großen Engagement getan hat. Um diesen Ruf unüberhörbar zu machen, stelle ich abschließend Kurt Hübners wichtigste Aufforderungen und Anregungen zum tatkräftigen Philosophieren und dem daraus folgenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Handeln in drei Aufrufen zusammen:

  1. 1.

    Philosophen, kümmert Euch um die Grundlagenprobleme der Wissenschaften, die aus ihrer historischen Gewordenheit und ihren Konfrontationen mit den Herausforderungen der Gegenwart entstehen! Durch Eure Fähigkeiten zum gründlichen Nachdenken seid Ihr Philosophen in den Grundlagenfragen aller Wissenschaften und aller Lebensbereiche besonders gefragt.

  2. 2.

    Wissenschaftler aller Bereiche, bemüht Euch, die für Euer wissenschaftliches Arbeiten erforderlichen Festsetzungen explizit zu machen und für andere wissenschaftliche Disziplinen verstehbar schriftlich niederzulegen, weil es dadurch zu der nötigen interdisziplinären Zusammenarbeit kommen kann, die für viele Problemstellungen in allen Lebensbereichen erforderlich ist, um zu langfristig tragbaren Lösungen zu kommen!

  3. 3.

    Mitmenschen, werdet Euch Eurer historisch gewachsenen Fähigkeiten zum gründlichen Nachdenken bewußt, werdet Eure eigenen Philosophen! Euren Verstand nutzt, um Eure äußere Existenz zu sichern, und Eure Vernunft zur Sicherung Eurer inneren Existenz, die aus den Sinngebungen Eurer Sinnstiftungsfähigkeit besteht.

Ich sehe es als eine Aufgabe der Philosophie an, diese Aufrufe im Namen Hübners über seinen Tod hinaus weiterzutragen und so der Philosophie wieder mehr Gewicht zu verleihen, als sie heute besitzt.

Kurt Hübner starb am 8. Februar 2013 in Kiel. Es war nur eine kleine Gemeinde, die zur Trauerfeier am 15. Februar 2013 in einer Kapelle des Friedhofs von Grünwald bei München zusammengekommen war, um von ihm Abschied zu nehmen. Sein letzter Aufsatz „Die Freude“ erschien noch in seinem Todesjahr (vgl. Hübner 2013a). Auch in ihm hat er unserem griechischen philosophischen Erbe der Humanität, der er Zeit seines Lebens verpflichtet war, ein Denkmal gesetzt.