FormalPara Ad hoc Taskforce der DGfE, ÖGfE und der Schweizerischen Epilepsie-Liga (alphabetisch)
  • Prof. Dr. Hajo Hamer, MHBA, Erlangen, Deutschland

  • Dr. med. Günter Krämer, Zürich, Schweiz

  • Prof. Dr. med. Stephan Rüegg, Basel, Schweiz

  • Prof. Dr. med. Andreas Schulze-Bonhage, Freiburg, Deutschland

  • Univ. Prof. Dr. Mag. Eugen Trinka, FRCP, Salzburg, Österreich

FormalPara Kernpunkte
  • Die ILAE hat eine überarbeitete Klassifikation der Anfallsformen erarbeitet; die Klassifizierung ist operational und beruht nicht auf fundamentalen Mechanismen.

  • Gründe der Überarbeitung waren die Klarheit der Nomenklatur, die Möglichkeit, manche Anfälle entweder als fokal oder generalisiert zu klassifizieren, und einer Klassifizierung, wenn der Beginn unbekannt ist.

  • Anfälle werden unterteilt in fokal, generalisiert oder unbekannt beginnend, mit den Unterkategorien motorisch, nichtmotorisch, mit erhaltenem oder gestörtem Erleben* bei fokalen Anfällen

* Für das englische Wort „awareness“ gibt es im Deutschen keine adäquate Übersetzung. Wir verwenden an manchen Stellen „Bewusstseinsstörung“, an anderen „bewusst erlebt“ bzw. für „non aware“ „nicht bewusst“ erlebt.

Die Internationale Liga gegen Epilepsie (International League Against Epilepsy; ILAE) hat durch die Klassifikations- und Terminologiekommission eine Arbeitsgrundlage zur Klassifizierung von Anfällen und Epilepsien entwickelt. Nach dem Reorganisationsvorschlag von 2010 [1, 2] wurden weitere Klarstellungen diskutiert und zu Rückmeldungen der Mitglieder aufgefordert. Ein Bereich, der weiterer Aufklärung bedurfte, war die Einteilung der Anfallsformen. 2015 wurde eine Klassifizierungs-Taskforce für Anfallsformen gegründet, um Empfehlungen vorzubereiten, welche in diesem Dokument zusammengefasst werden. Ein Begleitdokument erläutert die beabsichtigte Anwendung der Klassifikation.

Beschreibungen von Anfallsformen reichen mindestens bis in die Zeit von Hippokrates zurück. Gastaut [3, 4] schlug 1964 eine moderne Klassifikation vor. Verschiedene Grundgerüste einer Anfallsklassifizierung können in Betracht gezogen werden. Die Manifestationen mancher Anfälle sind altersspezifisch und von der Reifung des Gehirns abhängig. Frühere Klassifikationen beruhten auf der Anatomie mit temporalen, frontalen, parietalen, okzipitalen, dienzephalen oder Hirnstammanfällen. Die moderne Forschung hat unseren Blick auf die beteiligten pathophysiologischen Mechanismen verändert und gezeigt, dass Epilepsie eine Netzwerkerkrankung und nicht nur ein Symptom umschriebener Auffälligkeiten im Gehirn ist [5]. Auf der Netzwerkebene können Anfälle in neokortikalen, thalamokortikalen, limbischen und Hirnstammnetzwerken entstehen. Auch wenn unser Verständnis von Anfallsnetzwerken rasch zunimmt [6], reicht es als Grundlage einer Anfallsklassifizierung noch nicht aus. 1981 wertete eine von Dreifuss und Penry geleitete ILAE-Kommission [7] Hunderte von Video-EEG-Ableitungen aus, um Empfehlungen zu entwickeln, die Anfälle in solche mit fokalem und generalisiertem Beginn, in einfach- und komplex-partielle Anfälle und in verschiedene spezifische generalisierte Anfallsformen einteilen. Diese Klassifikation ist heute nach wie vor weit verbreitet mit Revisionen der Terminologie und Klassifizierung von Anfällen durch die ILAE [2, 8,9,10,11,12,13,14] und mit vorgeschlagenen Ansichten, Änderungen und Kritik anderer [15,16,17,18,19,20,21,22,23,24]. Wir entschlossen uns, keine allein auf dem beobachteten Verhalten beruhende Klassifikation zu entwickeln – stattdessen ist die 2017er-Klassifikation wie im klinischen Alltag interpretierend und erlaubt die Nutzung zusätzlicher Daten zur Klassifizierung von Anfallsformen.

Die Absicht der Berichte von 2001 [12] und 2006 [13] zur Reklassifizierung war die Identifizierung eigenständiger diagnostischer Entitäten mit ätiologischen, therapeutischen und prognostischen Implikationen, sodass die Therapie und prognostische Einschätzung bei fehlender Möglichkeit einer Syndromdiagnose auf der Anfallsform basieren würde. Eine solche Klassifizierung würde die Gruppierung relativ einheitlicher Patientenkohorten zur Entdeckung von Ätiologien ermöglichen einschließlich genetischer Faktoren, der Erforschung fundamentaler Mechanismen, beteiligter Netzwerke und klinischer Studien. Die ILAE-Klassifizierungs-Taskforce für Anfallsformen (im Folgenden „die Taskforce“ genannt) entschloss sich für die Formulierung „operationale Klassifizierung“, da es derzeit unmöglich ist, eine Klassifizierung vollständig wissenschaftlich zu begründen. In Ermangelung einer vollständig wissenschaftlichen Klassifikation entschloss sich die Taskforce, die 1981 initiierte und fortlaufend modifizierte grundsätzliche Einteilung [1, 2] als Ausgangspunkt für die überarbeitete, operationale Klassifikation zu nutzen.

Methoden

Was ist eine Anfallsform?

Ein Anfall ist definiert als „ein vorübergehendes Auftreten von Zeichen und/oder Symptomen aufgrund abnormal exzessiver oder synchroner neuronaler Aktivität im Gehirn“ [25]. Die erste Aufgabe des behandelnden Arztes ist die Feststellung, ob ein Ereignis die Merkmale eines epileptischen Anfalls und nicht die eines der vielen Imitatoren von Anfällen aufweist [26]. Der nächste Schritt ist die Klassifizierung in eine Anfallsform.

Die Taskforce definiert eine Anfallsform operational als eine nützliche Gruppierung von Anfallsmerkmalen zum Zweck der Kommunikation bei der klinischen Versorgung, Lehre und Forschung. Die Erwähnung einer Anfallsform sollte an eine bestimmte Entität denken lassen, wenn auch manchmal mit Subkategorien und Variationen. Interessierte Beteiligte müssen die Entscheidung treffen, Gruppierungen von Anfallsmerkmalen hervorzuheben, die für bestimmte Zwecke nützlich sind. Solche Beteiligten sind Patienten, Familien, medizinische Fachpersonen, Forscher, Epidemiologen, in der medizinischen Lehre Tätige, klinische Studien durchführende Ärzte und andere Forscher, Versicherer, Aufsichtsbehörden, Interessengruppen und medizinische Journalisten. Personen mit spezifischen Interessen können für ihre Zwecke operationale (praktische) Einteilungen vornehmen. Beispielsweise könnte ein Pharmakologe Anfälle nach der Wirksamkeit von Medikamenten gruppieren. Ein Forscher, der eine klinische Studie durchführt, könnte Anfälle als behindernd oder nicht behindernd charakterisieren. Ein Chirurg könnte unter anatomischen Aspekten gruppieren, um die Eignung und Erfolgswahrscheinlichkeit einer chirurgischen Therapie vorherzusagen. Ein Arzt in einer Intensivstation mit meist bewusstlosen Patienten könnte Anfälle teilweise nach EEG-Mustern einteilen [27]. Das Hauptziel der hier vorgelegten Klassifikation ist es, einen klinisch verwendbaren Kommunikationsrahmen zur Verfügung zu stellen. Anfallsformen sind für die klinische Praxis bei Menschen relevant, wohingegen Anfallsformen bei anderen Spezies, ob experimentell erzeugt oder natürlich vorkommend, möglicherweise in der hier vorgeschlagenen Klassifikation nicht wiedergegeben werden. Ein Ziel bestand darin, die Klassifikation für Patienten und Familien verständlich und für alle Altersschichten, einschließlich Neugeborener, anwendbar zu machen. Der ILAE-Klassifikations- und Terminologiekommission ist bewusst, dass Anfälle bei Neugeborenen motorische Manifestationen haben können, aber auch kaum bis gar keine im Verhalten erkennbaren Auswirkungen. Eine separate Neugeborenen-Anfalls-Taskforce arbeitet an der Entwicklung einer Klassifikation neonataler Anfälle. Die 2017er-Anfallsklassifikation ist keine Klassifikation von elektroenzephalographischen iktalen oder subklinischen Mustern. Das Leitprinzip der Anfallsformen-Taskforce war der Rat von Albert Einstein, „die Dinge so einfach wie möglich zu machen, aber nicht einfacher“.

Gründe für Veränderungen

Die Anpassung an Veränderungen einer Terminologie kann mühsam sein und muss durch eine Begründung der Änderungen motiviert werden. Eine Klassifikation von Anfallsformen ist aus mehreren Gründen wichtig. Erstens wird sie eine weltweite Kurzform für die Kommunikation unter Ärzten, die Menschen mit Epilepsien betreuen. Zweitens erlaubt die Klassifikation ein Einteilen von Patienten hinsichtlich der Therapien. Manche Behörden erteilen Medikamenten oder Geräten auf spezifische Anfallsformen bezogene Zulassungen. Eine neue Klassifikation sollte sich mühelos auf existierende Indikationen für Medikamente oder den Gebrauch von medizinischen Geräten anwenden lassen. Drittens könnte das Gruppieren von Anfallsformen nützliche Verbindungen zu spezifischen Syndromen oder Ätiologien aufzeigen, z. B. wenn eine Assoziation zwischen gelastischen Anfällen und hypothalamischen Hamartomen oder epileptischen Spasmen mit tuberöser Sklerose auffällt. Viertens erlaubt die Klassifikation, dass Forscher ihre Studien besser auf die Mechanismen verschiedener Anfallsformen ausrichten können. Fünftens stellt eine Klassifikation den Patienten die Begriffe zur Verfügung, um ihre Krankheit zu beschreiben. Nachfolgend sind die Beweggründe zur Überarbeitung der 1981er-Anfallsklassifikation aufgelistet:

  1. 1.

    Manche Anfallsformen, z. B. tonische Anfälle oder epileptische Spasmen, können einen fokalen oder generalisierten Beginn haben.

  2. 2.

    Ohne Kenntnis des Anfallsbeginns war es in dem 1981er-System nicht möglich, einen Anfall zu klassifizieren, und schwierig, darüber zu diskutieren.

  3. 3.

    Retrospektive Anfallsbeschreibungen spezifizieren oft nicht den Grad des Bewusstseins, und ein verändertes Bewusstsein, wenn auch von zentraler Bedeutung bei vielen Anfällen, ist ein kompliziertes Konzept.

  4. 4.

    Einige aktuell im Gebrauch befindlichen Begriffe sind nicht allgemein akzeptiert oder verständlich, beispielsweise „psychisch“, „partiell“, „einfach-partiell“, „komplex-partiell“ und „dyskognitiv“.

  5. 5.

    Einige wichtige Anfallsformen wurden nicht berücksichtigt.

Ergebnisse

Klassifizierung von Anfallsformen

Abb. 1 zeigt die Basisversion und Abb. 2 die erweiterte Version der 2017er-Anfallsklassifikation. Beide repräsentieren die gleiche Klassifikation, bei der Basisversion mit Komprimierung der Subkategorien. Ob die eine oder die andere verwendet wird, hängt vom gewünschten Detailgrad ab. Variationen des individuellen Anfallsablaufs können bei fokalen Anfällen in Abhängigkeit vom Grad des Bewusstseins hinzugefügt werden.

Abb. 1
figure 1

Die Basisversion der 2017er-ILAE-Klassifikation der Anfallsformen. a Definitionen, andere Anfallsformen und Deskriptoren sind in einer Begleitpublikation und im Glossar der Fachbegriffe aufgeführt. b Aufgrund unzureichender Information oder fehlender Möglichkeit, den Anfall anderen Kategorien zuzuordnen

Abb. 2
figure 2

Die erweiterte operationale 2017er-ILAE-Klassifikation der Anfallsformen. Die folgenden Erklärungen sollen eine Anleitung bei der Wahl der Anfallsform sein. Bei fokalen Anfällen ist die Angabe der Bewusstseinslage bzw. des bewussten oder nicht bewussten Erlebens optional. Bewusstes Erleben bedeutet, dass der Patient sich seiner selbst und der Umgebung gewahr ist, auch wenn er sich nicht bewegen kann. Ein bewusst erlebter fokaler Anfall entspricht dem früheren Begriff „einfach-partieller Anfall“. Ein nicht bewusst erlebter Anfall entspricht dem früheren Begriff „komplex-partieller Anfall“ und ein beeinträchtigtes Bewusstsein während irgendeines Abschnittes des Anfalls bedingt die Einstufung als nicht bewusst erlebter Anfall. Bewusst erlebte oder nicht bewusst erlebte fokale Anfälle können darüber hinaus durch eines der unten angeführten initialen motorischen oder nicht-motorischen Symptome charakterisiert werden, die das erste prominente Anfallssymptom widerspiegeln. Anfälle sollten anhand des frühesten prominenten Zeichens klassifiziert werden, mit Ausnahme eines Innehaltens, das nur dann zur Klassifikation genutzt werden soll, wenn es während des gesamten Anfalls das prominente Symptom ist. Daneben kann bei der Bezeichnung eines fokalen Anfalls auf die Erwähnung des Bewusstseinszustandes verzichtet werden, wenn dies nicht anwendbar oder der Zustand nicht bekannt ist, und der Anfall unmittelbar durch seine initialen motorischen oder nicht-motorischen Charakteristika klassifiziert werden. So wird das Bewusstsein bei atonischen Anfällen und epileptischen Spasmen üblicherweise nicht spezifiziert. Kognitive Anfälle implizieren eine Beeinträchtigung der Sprache oder anderer kognitiver Bereiche oder positive Symptome wie Déjà vu, Halluzinationen, Illusionen oder Wahrnehmungsstörungen. Emotionale Anfälle umfassen Angst, Furcht, Freude, andere Emotionen oder das Auftreten von scheinbar affektivem Verhalten ohne subjektiv erlebte Emotionen. Eine Absence ist atypisch bei langsamem Beginn oder Ende oder bei signifikanten Veränderungen des Muskeltonus, begleitet von atypischer, langsamer, generalisierter Spike-Wave-Aktivität im EEG. Ein Anfall kann aufgrund mangelhafter Informationen unklassifiziert sein oder weil man die Form nicht in die anderen Kategorien einordnen kann. a Definitionen, andere Anfallsformen und Deskriptoren sind in einer Begleitpublikation und im Glossar der Fachbegriffe aufgeführt. b Der Bewusstseinsgrad wird üblicherweise nicht spezifiziert. c Aufgrund unzureichender Information oder fehlender Möglichkeit, den Anfall anderen Kategorien zuzuordnen

Struktur der Klassifikation

Die Klassifikationsgrafik ist zwar in Säulen angeordnet, sie ist aber nicht hierarchisch (d. h. Stufen können übersprungen werden), weswegen Pfeile bewusst weggelassen wurden. Die Anfallsklassifikation beginnt mit der Feststellung, ob die initialen Anfallsmanifestationen fokal oder generalisiert sind. Wenn der Beginn verpasst wurde oder nicht erkennbar war, hat der Anfall einen unbekannten Beginn. Die Wörter „fokal“ oder „generalisiert“ am Beginn einer Anfallsbezeichnung sind dazu gedacht, einen fokalen oder generalisierten Beginn zu bezeichnen.

Bei fokalen Anfällen kann der Grad an Bewusstheit bzw. das bewusste oder nicht bewusste Erleben bei der Anfallsform berücksichtigt werden. Bewusstheit ist lediglich eine, potenziell wichtige Eigenschaft eines Anfalls, aber sie ist von ausreichend praktischer Bedeutung, um sie bei der Anfallsklassifikation zu berücksichtigen. Erhaltene Bewusstheit bedeutet, dass die Person sich über sich selbst und ihre Umgebung während des Anfalls bewusst ist, selbst wenn sie bewegungslos sein sollte. Ein bewusst erlebter fokaler Anfall (mit oder ohne nachfolgende Klassifikatoren) entspricht dem Begriff „einfach-partieller Anfall“, ein nicht bewusst erlebter fokaler Anfall dem früheren Begriff „komplex-partieller Anfall“. Sobald das Bewusstsein während irgendeines Teils des Anfalls beeinträchtigt ist, macht ihn das zu einem nicht bewusst erlebten fokalen Anfall. Zusätzlich werden fokale Anfälle nach motorischen und nichtmotorischen Zeichen und Symptomen beim Anfallsbeginn unterteilt. Wenn beim Anfallsbeginn sowohl motorische als auch nichtmotorische Zeichen vorhanden sind, dominieren meist die motorischen Zeichen, es sei denn nichtmotorische (z. B. sensible bzw. sensorische) Symptome und Zeichen sind prominent.

Sowohl bewusst erlebte als auch nicht bewusst erlebte fokale Anfälle können darüber hinaus optional mit einem der aufgeführten motorischen oder nichtmotorischen Symptome bei ihrem Beginn charakterisiert werden, die das erste prominente Zeichen oder Symptom des Anfalls darstellen, z. B. „nicht bewusst erlebter fokaler Anfall mit Automatismen“. Anfälle sollten nach dem ersten, prominenten motorischen oder nichtmotorischen Merkmal zu Beginn klassifiziert werden, außer bei einem fokalen Anfall, bei dem Innehalten die dominierende Eigenschaft ist. Jedwede signifikante Beeinträchtigung des Bewusstseins während eines Anfalls bewirkt, dass ein fokaler Anfall als nicht bewusst erlebt klassifiziert wird. Eine Klassifikation nach den Merkmalen zu Beginn des Anfalls hat eine anatomische Basis, während eine Klassifikation in Abhängigkeit vom Bewusstsein eine verhaltensbezogene Basis hat, was durch die praktische Relevanz einer Bewusstseinsstörung gerechtfertigt wird. Beide Methoden der Anfallsklassifizierung stehen zur Verfügung und können gemeinsam genutzt werden. Ein kurzes Innehalten zu Beginn eines Anfalls ist häufig unmerklich und wird dementsprechend nicht als Klassifikator genutzt, solange es nicht während des gesamten Anfalls dominiert. Der früheste (anatomische) Klassifikator ist nicht zwangsläufig die signifikanteste Verhaltenseigenschaft eines Anfalls. Zum Beispiel kann ein Anfall mit Angst beginnen und in heftige fokale klonische Aktivität übergehen, die dann zu einem Sturz führt. Dieser Anfall wäre dennoch ein fokaler emotionaler Anfall (mit oder ohne Beeinträchtigung des bewussten Erlebens), aber eine Freitextbeschreibung der Merkmale im weiteren Verlauf wäre sehr nützlich.

Die Bezeichnung eines fokalen Anfalls kann auf die Erwähnung der Bewusstheit verzichten, wenn dies nicht relevant oder unbekannt ist, wodurch der Anfall direkt nach motorischen oder nichtmotorischen Charakteristika klassifiziert wird. Die Begriffe motorischer Beginn und nichtmotorischer Beginn können weggelassen werden, wenn ein nachfolgender Begriff eine eindeutige Anfallsform generiert.

Die Klassifizierung eines individuellen Anfalls kann auf jeder Stufe aufhören: ein „fokal beginnender“ oder „generalisiert beginnender“ Anfall ohne weitere Ausführungen oder ein „fokaler sensibler/sensorischer Anfall“, „fokaler motorischer Anfall“, „fokaler tonischer Anfall“ oder ein „fokaler Automatismusanfall“ usw. Zusätzliche Klassifikatoren werden befürwortet, und ihr Gebrauch kann von der Erfahrung und den Beweggründen der klassifizierenden Person abhängen. Die Begriffe fokaler Beginn und generalisierter Beginn ermöglichen die entsprechende Gruppierung von Patienten. Es wird nicht gefolgert, dass jede Anfallsform in beiden Gruppen existiert; das Einschließen von Absencen in die Anfallskategorie mit generalisiertem Beginn impliziert nicht zwangsläufig die Existenz „fokaler“ Absencen.

Wenn der Vorrang von einem Schlüsselsymptom oder -zeichen gegenüber einem anderem unklar ist, kann der Anfall eine Stufe vor dem fraglich anwendbaren Begriff klassifiziert werden mit zusätzlichen Deskriptoren der für den individuellen Anfall relevanten Anfallssemiologie. Jegliche Anfallszeichen oder -symptome bzw. im Begleittext aufgeführte Beschreibungen können optional an die Beschreibung der Anfallsform angehängt werden, aber sie verändern die Klassifizierung der Anfallsform nicht.

Die Anfallsform „fokal zu bilateral tonisch-klonisch“ ist eine spezielle Anfallsform und entspricht der 1981er-Bezeichung „partieller Beginn mit sekundärer Generalisierung“. Fokal zu bilateral tonisch-klonisch reflektiert das Ausbreitungsmuster eines Anfalls und weniger eine eigene Anfallsform, aber es ist eine so häufige und wichtige Anfallspräsentation, dass eine separate Kategorie beibehalten wurde. Der Begriff „zu bilateral“ wurde anstelle „sekundär generalisiert“ benutzt, um diese fokal beginnende Anfallsform darüber hinaus von einem generalisiert beginnenden Anfall abzugrenzen. Der Begriff „bilateral“ wird für Ausbreitungsmuster benutzt und „generalisiert“ für Anfälle, die von Anfang an bilaterale Netzwerke beteiligen.

Anfallsaktivität breitet sich durch Netzwerke des Gehirns aus, was manchmal zu einer Unsicherheit führt, ob ein Vorkommnis ein einzelner Anfall oder eine Abfolge multipler Anfälle ist, die in unterschiedlichen Netzwerken beginnen („multifokal“). Ein einzelner unifokaler Anfall kann infolge der Ausbreitung mehrere klinische Manifestationsformen haben. Der behandelnde Arzt wird feststellen müssen (durch Beobachtung einer kontinuierlichen Entwicklung oder Stereotypie von Anfall zu Anfall), ob ein Vorkommnis ein einzelner Anfall oder eine Serie verschiedener Anfälle ist. Wenn ein einzelner fokaler Anfall aus einer Sequenz von Zeichen und Symptomen besteht, wird der Anfall nach dem initialen prominenten Zeichen oder Symptom benannt, was die übliche klinische Praxis reflektiert, den Fokus des Anfallsbeginns oder anfänglich beteiligten Netzwerks zu identifizieren. Zum Beispiel würde ein Anfall, der mit der plötzlichen Unfähigkeit beginnt, Sprache zu verstehen, gefolgt von beeinträchtigtem Bewusstsein und klonischen Zuckungen im linken Arm, als ein „nicht bewusst erlebter (nichtmotorisch beginnender) kognitiver Anfall“ (übergehend in klonisches Zucken des linken Arms) klassifiziert werden. Die in Klammern gesetzten Begriffe sind optional. Die formelle Bezeichnung der Anfallsform dieses Beispiels beruht auf dem kognitiven nichtmotorischen Beginn und dem Vorhandensein eines veränderten Bewusstseins zu irgendeinem Zeitpunkt des Anfalls.

Generalisierte Anfälle werden in motorische und nichtmotorische Anfälle (Absencen) unterteilt. Weitere Unterteilungen sind denen der 1981er-Klassifizierung ähnlich mit der Ergänzung von myoklonisch-atonischen Anfällen, die häufig bei der Epilepsie mit myoklonisch-atonischen Anfällen (Doose-Syndrom [28]) vorkommen, von myoklonisch-tonisch-klonischen Anfällen, häufig bei juveniler myoklonischer Epilepsie [29], von myoklonischen Absencen [30] sowie von Absencen mit Lidmyoklonien, wie sie bei dem von Jeavons beschriebenen Syndrom [31] und anderswo vorkommen. Generalisierte Anfallsmanifestationen können asymmetrisch sein, was die Unterscheidung von fokal beginnenden Anfällen erschweren kann. Das Wort „Absence“ hat eine weitverbreitete akzeptierte Bedeutung, aber ein „abwesendes Starren“ ist nicht synonym mit einer Absence, da das Innehalten auch bei anderen Anfallsformen auftritt.

Die 2017er-Klassifizierung erlaubt die Beschreibung von Anfällen mit unbekanntem Beginn durch eine begrenzte Zahl an angehängten qualifizierenden Begriffen, um den Anfall besser charakterisieren zu können. Anfälle mit unbekanntem Beginn werden entweder mit dem einzelnen Wort „unklassifiziert“ bezeichnet oder mit zusätzlichen Eigenschaften einschließlich motorisch, nichtmotorisch, tonisch-klonisch, epileptische Spasmen und Innehalten. Eine Anfallsform unbekannten Beginns könnte später als entweder fokal oder generalisiert beginnend klassifiziert werden, aber jegliches assoziiertes Verhalten (z. B. tonisch-klonisch) des vorher unklassifizierten Anfalls bleibt relevant. In dieser Hinsicht ist der Begriff „unbekannter Beginn“ ein Platzhalter – nicht eine Charakteristik des Anfalls, sondern des Unwissens.

Entscheidungsgründe

Die Terminologie der Anfallsformen wurde konzipiert, um bei der Kommunikation von Schlüsselmerkmalen von Anfällen nützlich zu sein und um als eine Schlüsselkomponente bei einer umfassenderen Klassifizierung von Epilepsien zu dienen, welche zurzeit von einer separaten ILAE-Klassifizierungs-Taskforce entwickelt wird. Das seit 1981 benutzte Grundgerüst der Anfallsklassifizierung wurde beibehalten.

Fokal versus partiell

1981 lehnte es die Kommission ab, einen Anfall, der eine ganze Hemisphäre beteiligen könnte, als „fokal“ zu bezeichnen, dementsprechend wurde der Begriff „partiell“ bevorzugt. In gewisser Hinsicht hat die 1981er-Terminologie die moderne Betonung von Netzwerke vorhergesehen, aber „partiell“ vermittelt eher den Eindruck eines Teils eines Anfalls als eine Lokalisation oder ein anatomisches System. Der Begriff „fokal“ ist im Sinne der Lokalisierung eines Anfallsbeginns besser verständlich.

Fokal versus generalisiert

2010 [1] definierte die ILAE fokal als „in auf eine Hemisphäre begrenzten Netzwerken entstehend. Diese können eng umschrieben oder weiter ausgebreitet sein. Fokale Anfälle können in subkortikalen Strukturen entstehen.“ Von Beginn an generalisierte Anfälle wurden als „an einem irgendeinem Punkt eines bilateralen Netzwerkes entstehend und mit einer raschen Beteiligung bilateral verteilter Netzwerke einhergehend“ definiert. Einen Anfall mit augenscheinlich generalisiertem Beginn zu klassifizieren schließt einen fokalen Beginn nicht aus, der unseren derzeit eingeschränkten klinischen Methoden verborgen bleibt; dies ist allerdings mehr ein Problem der korrekten Diagnose als eines der Klassifizierung. Weiterhin können fokale Anfälle rasch bilaterale Netzwerke aktivieren, während die Klassifizierung auf einem unilateralen Beginn beruht. Bei manchen Anfallsformen, z. B. epileptischen Spasmen, können für die Feststellung eines fokalen oder generalisierten Beginns sorgfältige Analysen von Video-EEG-Untersuchungen erforderlich sein, oder die Art des Anfallsbeginns könnte unbekannt sein. Eine Unterscheidung zwischen fokalem und generalisiertem Beginn hat praktische Gründe und kann sich bei verbesserten Fähigkeiten der Charakterisierung des Anfallsbeginns ändern.

Auf die Fokalität eines Anfallsbeginns kann durch das Erkennen von passenden Mustern bekannter fokal beginnender Anfälle geschlossen werden, selbst wenn die Fokalität im strikten Sinn vom beobachtbaren Verhalten her nicht eindeutig ist. Ein Anfall ist z. B. fokal, wenn er mit einem Déjà vu beginnt und dann zum Verlust des bewussten Erlebens und der Reaktion auf Ansprache, schmatzenden Lippenbewegungen und einem Reiben der Hände übergeht. Es gibt nichts intrinsisch „fokales“ in dieser Beschreibung, doch Video-EEG Aufnahmen zahlloser ähnlicher Anfälle haben zuvor einen fokalen Beginn gezeigt. Wenn die Art der Epilepsie bekannt ist, kann der Beginn unterstellt werden, selbst wenn er nicht beobachtet wurde, wie z. B. eine Absence bei einer Person mit bekannter juveniler Absencenepilepsie.

Klinikern ist seit langer Zeit bewusst, dass sog. generalisierte Anfälle wie beispielsweise Absencen mit generalisierter Spike-wave-Aktivität im EEG sich nicht gleichmäßig in allen Teilen des Gehirns manifestieren. Die Taskforce betont daher das Konzept einer bilateralen, eher als generalisierten, Beteiligung des Gehirns bei manchen Anfällen, da Anfälle bilateral sein können, ohne jedes Netzwerk mit einzubeziehen. Die bilateralen Manifestationen müssen nicht symmetrisch sein. Der Begriff „fokal zu bilateral tonisch-klonisch“ ersetzt die Bezeichnung „sekundär generalisiert“. Der Begriff „generalisiert“ wurde für Anfälle beibehalten, die von Beginn an generalisiert sind.

Unbekannter Beginn

Regelmäßig hören behandelnde Ärzte von tonisch-klonischen Anfällen, deren Beginn unbeobachtet war. Vielleicht schlief der Patient, war allein, oder die Beobachter waren von den Anfallsmanifestationen zu sehr abgelenkt, um das Vorhandensein fokaler Merkmale zu bemerken. Es sollte die Möglichkeit geben, einen solchen Anfall provisorisch zu klassifizieren, selbst ohne Kenntnis seines Ursprungs. Deswegen erlaubt die Taskforce eine weitere Beschreibung von Anfällen unbekannten Beginns, wenn während des Anfallablaufs Schlüsselmerkmale wie tonisch-klonische Aktivität oder ein Innehalten beobachtet wurden. Die Taskforce empfiehlt, einen Anfall nur dann als mit fokalem oder generalisiertem Beginn zu klassifizieren, wenn es einen hohen Grad an Sicherheit (z. B. >80 %, arbiträr gewählt, um dem üblicherweise erlaubten Beta-Fehler zu entsprechen) in der Genauigkeit der Bestimmung gibt, andernfalls sollte der Anfall unklassifiziert bleiben, bis mehr Informationen verfügbar sind.

Es kann generell unmöglich sein, einen Anfall zu klassifizieren, entweder aufgrund mangelnder Informationen oder wegen der ungewöhnlichen Art des Anfalls; in diesem Fall wird er als unklassifizierter Anfall bezeichnet. Die Kategorisierung als „unklassifiziert“ sollte der außergewöhnlichen Situation vorbehalten bleiben, in der ein behandelnder Arzt sicher ist, dass ein Vorkommnis ein epileptischer Anfall ist, dieses aber nicht weiter klassifizieren kann.

Bewusstsein und bewusstes Erleben (Bewusstheit)

Die 1981er-Klassifikation und die Revision von 2010 [1, 10, 32] schlagen eine grundlegende Unterscheidung zwischen Anfällen, bei denen das Bewusstsein verloren geht oder eingeschränkt ist, und Anfällen ohne Beeinträchtigung des Bewusstseins vor. Eine Klassifikation auf dem Bewusstsein (oder einer ihrer verwandten Funktionen) aufzubauen spiegelt die klinische Praxis wider, dass Anfälle mit beeinträchtigtem Bewusstsein oft anders gehandhabt werden sollten als solche mit nicht beeinträchtigtem Bewusstsein, beispielsweise hinsichtlich der Kraftfahreignung oder der Lernfähigkeit. Die ILAE entschied sich, die Beeinträchtigung des Bewusstseins als ein Schlüsselkonzept bei der Einteilung fokaler Anfälle beizubehalten. Bewusstsein ist jedoch ein komplexes Phänomen mit sowohl subjektiven wie auch objektiven Aspekten [33]. Bei Anfällen wurden mehrere unterschiedliche Formen von Bewusstsein beschrieben [34]. Surrogatmarker [35,36,37] von Bewusstsein umfassen üblicherweise Messungen von Bewusstheit, Ansprechbarkeit und Gedächtnis sowie einen Sinn für das eigene Ich in Abgrenzung von Anderen. Die 1981er-Klassifizierung erwähnte spezifisch die Bewusstheit und Ansprechbarkeit, aber nicht das Erinnerungsvermögen für Ereignisse.

Eine retrospektive Bestimmung der Bewusstheitslage kann schwierig sein. Ein untrainierter Klassifizierer könnte annehmen, dass eine Person auf dem Boden liegen, immobil, nicht bewusst erlebend und nicht reagierend (z. B. „ohnmächtig“) sein muss, damit ein Anfall als einer mit Bewusstseinsbeeinträchtigung gilt. Die Taskforce nahm den Status des bewussten Erlebens (der erhaltenen Bewusstheit) als einen relativ einfachen Platzhalter für Bewusstsein an. „Bewusst erlebt“ kann als Abkürzung für „Anfälle ohne Beeinträchtigung des Bewusstseins während des Ereignisses“ betrachtet werden. Wir benutzen „Wissen von sich selbst und dem Umfeld“ als operationale Definition von Bewusstheit. In diesem Kontext bezieht sich Bewusstheit auf Wissen über oder Wahrnehmung von Vorkommnissen während des Anfalls, nicht auf das Wissen darüber, dass es einen Anfall gab. In vielen Sprachen wird das englische Wort „unaware“ mit „bewusstlos“ übersetzt, wodurch die Veränderung der Anfallsbezeichnung von „komplex-partiell“ zu „nicht bewusst erlebt fokal“ für eine stärkere Betonung des Bewusstseins sorgt, weil das Surrogat dafür direkt in der Anfallsbezeichnung enthalten ist. Im Englischen ist „focal aware seizure“ kürzer als „focal seizure without impairment of consciousness“ und wird von Patienten evtl. besser verstanden. Auf die Praxis bezogen, wird mit „bewusst erlebt“ üblicherweise unterstellt, dass sich die Person, die den Anfall erleidet, später daran erinnern und das bewusste Erleben bestätigen kann; andernfalls könnte man von einem nicht bewusst erlebten Anfall ausgehen. Ausnahmsweise kann es zu einer bewusst erlebten isolierten transienten epileptischen Amnesie kommen [38], aber die Klassifizierung eines amnestischen Anfalls als ein bewusst erlebter Anfall würde eine eindeutige Dokumentation von peniblen Beobachtern erfordern. Die Bewusstheit kann unspezifiziert bleiben, wenn ihr Ausmaß nicht festgestellt werden kann.

Die Reaktionsfähigkeit kann, muss aber nicht, während eines fokalen Anfalls beeinträchtigt sein [39]. Die Reaktionsfähigkeit ist nicht mit Bewusstsein oder Bewusstheit gleichzusetzen, da manche Menschen während eines Anfalls immobilisiert und dementsprechend reaktionslos, aber dennoch in der Lage sind, ihre Umgebung zu beobachten und sich ihrer später zu erinnern. Außerdem wird die Reaktionsfähigkeit während Anfällen oft nicht getestet. Aufgrund dieser Gründe wurde die Reaktionsfähigkeit nicht als primäres Merkmal zur Anfallsklassifizierung gewählt, obwohl diese bei der Klassifizierung des Anfalls hilfreich sein kann, insofern testbar, und der Grad der Reaktionsfähigkeit kann für die Auswirkungen eines Anfalls relevant sein. Der Begriff „dyskognitiv“ wurde aufgrund mangelnder Klarheit und negativer Rückmeldungen von Laien und Fachleuten nicht als Synonym für „komplex-partiell“ in die aktuelle Klassifizierung übernommen.

Bewusstheit ist kein Klassifikator für generalisiert beginnende Anfälle, da die meisten generalisierten Anfälle mit einer Beeinträchtigung der Bewusstheit oder völligem Verlust des Bewusstseins einhergehen. Allerdings wird anerkannt, dass die Bewusstheit und Reaktionsfähigkeit während mancher generalisierter Anfälle zumindest teilweise erhalten bleiben kann, z. B. bei kurzen Absencen [40] inklusive Absencen mit Lidmyoklonien oder myoklonischen Anfällen.

Ätiologie

Eine Klassifizierung der Anfallsformen kann für Anfälle mit unterschiedlichen Ätiologien angewendet werden. Ein posttraumatischer Anfall oder ein Reflexanfall kann fokal mit oder ohne Beeinträchtigung des Bewusstseins sein. Die Kenntnis der Ätiologie, z. B. einer fokalen kortikalen Dysplasie, kann bei der Klassifizierung der Anfallsform helfen. Jeder Anfall kann prolongiert verlaufen und zu einem Status epilepticus der jeweiligen Anfallsform führen.

Zusätzliche Informationen

Gewöhnlich wird ein behandelnder Arzt bei der diagnostischen Einordnung zusätzliche Informationen nutzen, um einen Anfall zu klassifizieren, selbst wenn diese Indizien nicht Teil der Klassifikation sind. Derartige Informationen können von der Familie zur Verfügung gestellte Videos, EEG-Muster, durch die zerebrale Bildgebung entdeckte Läsionen, Laborresultate wie der Nachweis antineuronaler Antikörper oder von Genmutationen oder die Diagnose eines Epilepsiesyndroms sein, das bekanntermaßen mit fokalen oder generalisierten Anfällen oder auch beiden Anfallsformen einhergeht, wie dies beim Dravet-Syndrom der Fall ist. Meistens können Anfälle aufgrund der Symptome und des Patientenverhaltens klassifiziert werden, vorausgesetzt, dass gute subjektive und objektive Beschreibungen zur Verfügung stehen. Das Hinzuziehen jedweder zusätzlichen Informationen zur Klassifizierung eines Anfalls wird befürwortet. Zusatzinformationen stehen möglicherweise in ressourcenarmen Gebieten auf der Welt nicht zur Verfügung, was zu einer zu weniger spezifischen, aber dennoch korrekten Klassifikation führen kann.

ICD-9, ICD-10, ICD-11 und ICD-12

Die „World Health Organization International Classification of Diseases“ (ICD) wird für stationäre und ambulante Diagnosen, Rechnungserstellung, Forschung und viele andere Zwecke benutzt [41, 42]. Übereinstimmungen zwischen ICD-Epilepsie-Diagnosen und ILAE-Anfallsformen sind zum Zwecke der Klarheit und Konsistenz wünschenswert. Mit den derzeitigen ICD-Begriffen ist dies jedoch nur begrenzt möglich, da ICD-9, ICD-10 und ICD-11 bereits formuliert sind. Die ILAE-Vorschläge werden immer die ICD-Standards vorgeben. ICD-9 und ICD-10 benutzen die alte Anfallsterminologie einschließlich von Begriffen wie „Petit mal“ und „Grand mal“, ICD-11 benennt überhaupt keine Anfallsformen, sondern fokussiert sich auf Epilepsieätiologien und -syndrome so wie es bei den ILAE-Epilepsieklassifikationen der Fall ist [1]. Aus diesem Grund gibt es keinen Konflikt zwischen unserer vorgeschlagenen Klassifikation der Anfallsformen und der ICD-11. Es können Anstrengungen unternommen werden, die neuen Klassifikationen von Anfallsformen und Syndromen bei der Entwicklung von ICD-12 zu berücksichtigen.

Diskussion

Nicht mehr verwendete Begriffe

Einfach-/komplex-partiell

Nach ungefähr 35 Jahren der Benutzung könnten die Bezeichnungen „einfach-partieller Anfall“ und „komplex-partieller Anfall“ von manchen Ärzten vermisst werden. Es gibt jedoch mehrere Gründe für eine Veränderung. Erstens wurde bereits früher die Entscheidung getroffen [1], „partiell“ generell in „fokal“ zu verändern. Zweitens hat „komplex-partiell“ für die Öffentlichkeit keine intrinsische Bedeutung. Der Ausdruck „bewusst erlebt fokal“ kann einem Laien ohne Kenntnis einer Anfallsklassifikation eine Bedeutung vermitteln. Drittens können die Wörter „komplex“ und „einfach“ in manchen Zusammenhängen irreführend sein. Komplex scheint zu implizieren, dass die Anfallsform komplizierter oder schwieriger als andere Anfallsformen zu verstehen ist. Einen Anfall „einfach“ zu nennen könnte die Auswirkungen auf den Patienten verharmlosen, der die Manifestationen oder Konsequenzen der Anfälle in keinster Weise „einfach“ findet.

Konvulsion

Der Begriff „Konvulsion“ ist eine weitverbreitete, mehrdeutige und inoffizielle Bezeichnung für eine stärkere motorische Aktivität während eines Anfalls. Solche Aktivitäten könnten tonisch, klonisch, myoklonisch oder tonisch-klonisch sein. In manchen Sprachen werden Konvulsionen und Anfälle synonym verwendet, und die motorische Komponente ist unklar. Der Begriff „Konvulsion“ ist in der 2017er-Anfallsklassifikation nicht enthalten, wird aber zweifellos im allgemeinen Sprachgebrauch weiterbestehen.

Hinzugefügte, neue Begriffe

Bewusstes bzw. nicht bewusstes Erleben/gestörte Bewusstheit

Wie bereits erwähnt, beschreiben diese Begriffe das Wissen von sich selbst und der Umwelt während eines Anfalls.

Hyperkinetisch

Hyperkinetische Anfälle wurden der Kategorie fokaler Anfälle hinzugefügt. Hyperkinetische Aktivität umfasst agitiertes Strampeln oder Radfahrbewegungen. Eine frühere Bezeichnung dafür ist hypermotorisch, eingeführt im Rahmen einer anderen vorgeschlagenen Klassifikation von Lüders und Kollegen im Jahr 1993 [43]. Der Begriff hypermotorisch, der sowohl griechische wie auch lateinische Wurzeln hat, wurde in dem 2001er-ILAE-Glossar [44] und in dem 2006er-Report [2] durch hyperkinetisch ersetzt, und, um etymologisch und historisch konsistent zu sein, wurde hyperkinetisch für die 2017er-Klassifikation gewählt.

Kognitiv

Dieser Begriff ersetzt „psychisch“ und bezieht sich auf spezifische kognitive Beeinträchtigungen während des Anfalls, beispielsweise Aphasie, Apraxie oder Neglekt. Das Wort „Beeinträchtigung“ ist dabei implizit, weil Anfälle niemals die Kognition verbessern. Ein kognitiver Anfall kann auch positive kognitive Phänomene wie Déjà vu, Jamais vu, Illusionen oder Halluzinationen beinhalten.

Emotional

Ein fokaler nichtmotorischer Anfall kann emotionale Manifestationen wie etwa Angst oder Freude aufweisen. Der Begriff beinhaltet auch affektive Manifestationen von Emotionen, die ohne subjektive Emotionalität auftreten, wie dies bei manchen gelastischen oder dakrystischen Anfällen vorkommen kann.

Neue fokale Anfallsformen

Manche Anfallsformen, die früher lediglich als generalisierte Anfälle beschrieben wurden, werden nun als Anfälle mit fokalem, generalisiertem und unbekanntem Beginn aufgeführt. Diese bestehen in epileptischen Spasmen, tonischen, klonischen, atonischen und myoklonischen Anfällen. Die Liste von Anfallsformen darstellendem motorischem Verhalten umfasst die meistverbreiteten fokalen motorischen Anfälle, aber andere, weniger häufige Formen, wie z. B. fokal tonisch-klonisch, können vorkommen. Fokale Automatismen, autonome Anfälle, Innehalten, kognitive, emotionale und hyperkinetische Anfälle sind neue Anfallsformen. Fokaler zu bilateral tonisch-klonischer Anfall ist die neue Bezeichnung für sekundär generalisierten Anfall.

Neue generalisierte Anfallsformen

Im Vergleich zur 1981er-Klassifikation bestehen neue generalisierte Anfallsformen in Absencen mit Lidmyoklonien, myoklonisch-atonischen und myoklonisch-tonisch-klonischen Anfällen (obwohl ein klonischer Beginn tonisch-klonischer Anfälle in der 1981er-Publikation erwähnt wurde). Anfälle mit Lidmyoklonien könnten, logisch betrachtet, in der motorischen Kategorie platziert werden, aber da Lidmyoklonien am wichtigsten als Merkmal von Absencen sind, wurden Anfälle mit Lidmyoklonien in der nichtmotorischen/Absencekategorie eingeordnet. Anfälle mit Lidmyoklonien können selten sogar fokale Merkmale haben [45]. Gleichermaßen haben myoklonische Absencen grundsätzlich Eigenschaften von sowohl Absencen als auch motorischen Anfällen und hätten in beide Gruppen eingeordnet werden können. Epileptische Spasmen sind Anfälle, die bei fokal, generalisiert und unbekannt beginnenden Anfallsformen vorkommen, und eine Unterscheidung könnte Video-EEG-Aufzeichnungen erfordern. Der Begriff „epileptisch“ ist bei jeder Anfallsform impliziert, aber nur bei epileptischen Spasmen explizit genannt, weil das Wort „Spasmen“ alleine im neurologischen Gebrauch mehrdeutig ist.

Was ist anders als in der 1981er-Klassifikation?

Tab. 1 fasst die Veränderungen der ILAE-2017er-Anfallsformenklassifikation im Vergleich zur Klassifikation von 1981 zusammen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass mehrere dieser Veränderungen bereits in der 2010er- und nachfolgenden Revisionen der Terminologie beinhaltet waren [1, 32]. Im Vergleich zur Klassifikation von 1981 tauchen bestimmte Anfallsformen jetzt in mehreren Kategorien auf. Epileptische Spasmen können einen fokalen, generalisierten oder unbekannten Beginn haben. Sowohl in der fokalen als auch generalisierten Säule vertreten sind atonische, klonische, myoklonische und tonische Anfälle, obwohl die Pathophysiologie dieser Anfallsformen in Abhängigkeit vom Anfallsbeginn unterschiedlich sein kann. Ein begleitendes Manuskript gibt Hilfestellung bei der Anwendung der 2017er-Klassifikation. Die breite Anwendung dieser Klassifikation wird in einigen Jahren wahrscheinlich zu Teilrevisionen und Klarstellungen führen.

Tab. 1 Veränderung der Klassifikation der Anfallsformen von 1981 bis 2017

Korrespondierender Übersetzer

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Dr. med. Günter Krämer

Neurozentrum Bellevue

Theaterstr. 8, 8001 Zürich, Schweiz

g.kraemer@epilepsie-med.de