Ein Polytrauma als lebensbedrohliche Mehrfachverletzung führt zu einer komplexen Organantwort. Trotz moderner chirurgischer Gefahrenkontrolle im Sinne einer Stufentherapie („damage control orthopedic surgery“) und Fortschritten in der Intensivtherapie kommt es im posttraumatischen Verlauf nach wie vor zu infektiösen Komplikationen einschließlich Sepsis und septischem Multiorganversagen. Entsprechenden Daten des DGU-Polytraumaregisters der letzten 10 Jahre zufolge mit über 150.000 eingeschlossenen Patienten kam es auf der Intensivstation nach Polytrauma in ca. 6,3 % zu einer Sepsis, in über einem Drittel der Fälle zu einem Organversagen und in über 20 % zum Multiorganversagen [1, 2]. Es bleibt aktuell abzuwarten, welchen definitiven Einfluss die Einführung der Polytrauma- und Sepsisleitlinien diesbezüglich aufweist [3, 4]. Die großen wissenschaftlichen Bemühungen haben trotz unzähliger neuer pathophysiologischer Erkenntnisse in den letzten Dekaden keine überzeugenden translational wirksamen Konzepte für den klinischen Alltag ergeben.

Neue Sepsisdefinition

Die Fakten der Sepsisinzidenz beim polytraumatisierten Patienten sind mit Vorsicht zu interpretieren, da die international anerkannten Sepsisdefinitionen in den letzten Dekaden sich teilweise deutlich änderten. Beispielsweise waren in der Vergangenheit alle Sepsiskriterien erfüllt, wenn eine Tachypnoe, Tachykardie, Temperaturanstieg, Leukozytose und Bakteriämie vorhanden waren. Diese Kriterien konnten durchaus z. B. mühelos durch einen Marathonläufer erfüllt werden, der sich zur Induktion einer temporären Bakteriämie an der Ziellinie die Zähne putze. Daraus wird ersichtlich, dass die systemische Antwort, die den Zustand der „Sepsis“ definierte, eine generalisierte Stressantwort des Körpers darstellte mit hoher Sensitivität jedoch mäßiger Spezifität.

Die epidemiologischen Daten der Sepsisinzidenz nach Trauma, werden sich vermutlich signifikant ändern mit der Einführung der neuen Sepsisdefinition. Demnach ist eine systemische Entzündungsantwort (SIRS) durchaus eine angemessene, nicht notwendigerweise dysregulierte Antwort auf eine Infektion. Die Sepsis dagegen ist aktuell definiert als eine lebensbedrohliche Organfunktionsstörung aufgrund einer dysregulierten Antwort auf eine Infektion. Klinisch kann das Vorliegen einer Sepsis schnell und mit einer zufriedenstellenden Spezifität und Sensitivität mit dem sog. quick SOFA-Score eingeschätzt werden, der neben einem Infektverdacht 2 oder mehr der folgenden Symptome einschließt: Reduktion des Bewusstseins, Erhöhung der Atemfrequenz (≥22/min) und Abfall des systolischen Blutdrucks (≤100 mmHg) (Infobox 1; [4]). Möglicherweise kommt es nach der neuen Sepsisdefinition häufiger zur septischen Komplikation nach Polytrauma als bisher angenommen.

Infobox 1 Definition und Schnelldiagnose der Sepsis

Sepsis

Lebensbedrohliche Organfunktionsstörung bedingt durch eine dysregulierte Antwort des Patienten auf eine Infektion

Klinische Schnelldiagnose

„quick SOFA“ + (Verdacht auf) Infektion:

Mindestens 2 von:

  1. 1.

    Atemfrequenz ≥22/min

  2. 2.

    Reduzierte Bewusstseinslage

  3. 3.

    Blutdruckabfall systolisch ≤100 mmHg

Hämorrhagischer Schock als Motor für posttraumatische Organdysfunktion

Da Sepsis nunmehr den Fokus auf die Organdysfunktion legt, ist von hohem Interesse zu definieren, was die posttraumatische Organdysfunktion auslöst. In einer kürzlich durchgeführten experimentellen Studie an einem gut charakterisierten Polytraumamodell der Maus zeigte sich, dass ein Polytrauma ohne hämorrhagischen Schock bereits innerhalb der ersten Stunden eine deutliche Erhöhung des Lungenepithelschadensmarkers Clara Cell Protein 16 (CC 16) aufweist, der jedoch bei gleichem Verletzungsmuster bei zusätzlicher hämodynamischer Instabilität deutlich verstärkt auftritt. Die Nierenfunktion, organspezifisch eingeschätzt durch „neutrophil gelatinase associated lipocalin“ (NGAL), zeigt ein vergleichbares Schädigungsmuster, d. h. der hämorrhagische Schock verstärkte den erfassbaren Polytrauma-induzierten Nierenschaden. Dazu passend, zeigte sich das Ausmaß der systemischen Entzündung, bestimmt durch die Serumkonzentration von Interleukin 6 (IL-6), eine signifikante Erhöhung bei experimentellem hämorrhagischem Schock, jedoch deutlich verstärkt im Falle eines Polytraumas mit hämorrhagischem Schock [5]. Die beim Organversagen klinisch oft zu detektierende Blut-Organ-Schrankenstörung mit Entwicklung eines generalisierten Ödems war pathophysiologisch im Mauspolytraumamodell ebenfalls zu sehen: Hier kam es nicht beim Monotrauma, jedoch bei Kombinationstraumen und Polytrauma zum Auftreten von Tight-Junction-Schrankenmolekülen im Serum, z. B. junktionales Adhäsionsmolekül 1 (JAM-1) [6]. Zirkulierende Tight-Junction-Moleküle fand unsere Gruppe auch erstmalig im Polytraumapatienten [6]. Weitere Studien mit Serumanalysen an größeren Kollektiven von Polytraumapatienten z. B. im Rahmen der im Aufbau befindlichen Polytraumaserumbank des Netzwerks Trauma Forschung (NTF) der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) mit Korrelationsanalysen zum klinischen Datenverlauf (in Zusammenarbeit mit der AUC (Akademie der Unfallchirurgie)/DGU-Traumaregister) müssen hier die klinische Translation erreichen.

Zum anderen durch sekundär auftretende ischämische Schädigung zellulärer Barrieren, scheint für die Entwicklung von Ödemen und Organfunktionsstörungen entscheidend zu sein. Insbesondere ischämische und inflammatorische Endothelschäden verwandeln das physiologischerweise antikoagulatorisch wirkende Endothel in einen prokoagulatorischen Phänotyp, das die unkontrollierte Thrombenentstehung befördert [7]. Die Glykokalix des Endothels wird insbesondere beim hämorrhagischen Schock durch aktivierte Proteasen zerstört und in das Gefäßsystem abgestoßen, wo es durchaus für eine gewisse Zeit kolloidosmotisch im Sinne einer „Autotransfusion“ wirken kann [5]. Die Konsequenz ist jedoch ein durchlässigeres Endothel, das durch die Auflösung der Zell-Zell-Verbindungen (Tight-Junctions) undicht wird. Die klinische Manifestation können lokale oder generalisierte Ödeme, hämodynamische Instabilität, Leakage-Snydrome und Gerinnungs- und Organfunktionsstörungen sein.

Aktivierung des angeborenen Immunsystems mit der Komplementkaskade während der Sepsisentwicklung

Unmittelbar nach Polytrauma kommt es zu einer massiven Aktivierung des Gerinnungssystems mit Verbrauch von Koagulationsfaktoren und oft zur Entwicklung einer Koagulopathie [8]. Synchron dazu wird auch die Komplementkaskade als ein wichtiger Pfeiler des angeborenen Immunsystems aktiviert. Die Trauma-induzierte Aktivierung des Komplementsystems führt zur Generierung von Anaphylatoxinen (beispielsweise C5a), die klinisch alle klassischen Zeichen der lokalen und systemischen Entzündung hervorrufen können. Insbesondere können die in der frühen posttraumatischen Phase generierten chemotaktisch hochwirksamen Anaphylatoxine Leukozyten an den Ort der traumatischen Schädigung anlocken. Die rekrutierten Leukozyten räumen geschädigte und tote Zellen des Gewebedebris auf und sezernieren weitere Entzündungsmediatoren, die weitere Immunzellen anlocken. Diese können nach Klärung des Gewebeschadens regenerative Prozesse einleiten. Allerdings kommt es durch eine massive Aktivierung des Komplementsystems und durch die eingewanderten Leukozyten auch zu nicht unerheblichen Kollateralschäden, da das aktivierte Komplementsystem und aktivierte neutrophile Granulozyten nicht nur geschädigtes Gewebe und Mikroorganismen, sondern auch gesundes, eigenes Gewebe attackieren können. Durch die exzessive Aktivierung des Immunsystems kann es bereits frühzeitig nach Trauma zu einem Verbrauch von Komplementfaktoren mit Entwicklung einer Komplementopathie und Erschöpfung der Leukozytenfunktion kommen [9,10,11]. Klinische Konsequenz ist die Entwicklung einer zunehmenden lokalen bis generalisierten Abwehrschwäche, die den Weg zu infektiösen Komplikationen und Sepsis nach Trauma bahnt. Der Verbrauch z. B. des zentralen Komplementfaktors C3 bei Intensivpatienten war signifikant mit erhöhter Pneumonierate, Gerinnungsveränderungen, ansteigenden Procalcitoninwerten und einer erhöhten Letalitätsrate verbunden [12]. Ein erhöhter C3a/C3-Quotient im Serum wies auch auf eine Sepsisentwicklung hin [13]. Eigene und fremde klinische Daten zeigen, dass das Anaphylatoxin C5a wesentlich zur Entwicklung eines Sepsisgeschehens beiträgt [14, 15]. Experimentell konnte in verschiedenen Sepsismodellen die Hemmung von C5/C5a zu einer deutlich verbesserten Zell‑, Immun- und Organfunktion während der Sepsis führen [16]. Eine klinische Testung der Wirksamkeit einer C5a-Blockade bei der Sepsis ist derzeit in Planung. Aktuell gibt es eine klinische Studie (NCT00146432), in der eine Immunadsorption von Lipopolysacchariden (LPS), IL-6 und C5a bei Patienten mit Sepsis oder septischem Schock durchgeführt wird. Die Abb. 1 zeigt eine schematische Darstellung der beteiligten biologischen Systeme nach Polytrauma.

Abb. 1
figure 1

Schematische Darstellung beteiligter biologischer Systeme nach Polytrauma

Aktuelle und zukünftige Therapiestrategien für (posttraumatische) Sepsis

Gemäß den aktuellen Surviving Sepsis Campaign Guidelines sollten alle Patienten eine angemessene Flüssigkeitszufuhr, eine Breitspektrumantibiose, eine hämodynamische Kontrolle (mit Zielwerten für den mittleren arteriellen Druck [MAP] von 65 mmHg und Normalisierung des Serumlaktats), ggf. eine lungenprotektive Beatmung, ggf. Vasopressoren, ggf. Erythrozytenkonzentrate (nur wenn Hb <7,0 g/dl in Abwesenheit einer akuten Blutung oder myokardialen Ischämie etc.) erhalten. Steroide stellen keine Therapie der ersten Wahl dar. Chirurgisch obligatorisch ist die frühestmögliche notwendige chirurgische „Infektionsherdkontrolle“ [17]. Diese wurde bereits von Hippokrates mit dem Leitsatz „ubi pus ibi evacua“ festgelegt.

Zukünftige Therapiestrategien sollten zunächst eine erhöhte Sensitivität und Spezifität der Infektionsherddiagnostik anstreben z. B. durch Weiterentwicklung moderner bildgebender Verfahren und reliabler Detektion der verursachenden Mikroorganismen. Dadurch würde eine gezielte, ggf. minimalinvasive chirurgische Intervention möglich. Insbesondere in der posttraumatischen Osteitisdiagnostik besteht hier ein großer Forschungsbedarf.

Zur immunologischen Kontrolle muss vergleichbar zunächst ein reliables „bedside“ taugliches Immunmonitoring realisiert werden, um die notwendige Immunmodulation qualitativ und quantitativ zu definieren. Vielversprechendes Ziel der Immunmodulation könnte beispielsweise die Komplementkaskade sein, z. B. das C5-Molekül mit seinen Aktivierungsprodukten [16]. Die selektive Neutralisierung von „autoaggressiven“ neutrophilen Granulozyten per immunologischen Filtermethoden könnte ebenfalls benefiziell sein. Darüber hinaus ist die Verbesserung der Schrankenstörung sicherlich ein bisher klinisch und wissenschaftlich unterschätztes Gebiet, das mit innovativen Therapiestrategien zukünftig adressiert werden muss.

In Infobox 2 sind die pathophysiologischen Erkenntnisse zur Sepsis nach Polytrauma zusammengefasst.

Infobox 2 Zusammenfassung pathophysiologischer Erkenntnisse zur Sepsis nach Polytrauma

  • Frage der Sepsisdefinition (Organdysfunktion + Infektion)

  • Motor der Organdysfunktion: hämorrhagischer Schock

  • Beginn der Organdysfunktion: zeit-/organabhängig

  • Neue spezifische Organdysfunktionsmarker (z. B. Barrieremoleküle)

  • Therapie entsprechend den Polytrauma‑/Sepsisleitlinien

  • Immuntherapie: Gegenstand der Forschung

Fazit für die Praxis

  • Die Behandlung der Sepsis nach Polytrauma soll gemäß den Leitlinien erfolgen.

  • Der hämorrhagische Schock gilt als Motor für die Organdysfunktion.

  • Zukünftige Therapieansätze und Gegenstand der Forschung sind:

    • verbesserte bildgebende Verfahren zur genaueren Lokalisierung des Infektionsherds,

    • Immuntherapie in Form einer Immunmodulation (z. B. Komplement),

    • Verbesserung der Schrankenstörung.