Fallbeispiel

Ein bei der ambulanten Vorstellung 47-jähriger Verwaltungsangestellter erlitt vor mehr als 10 Jahren als Bäcker eine traumatische Mittelhandamputation, als er mit der rechten Hand in eine Teigtrennmaschine geriet (Abb. 12 und 3). Der Versuch der Replantation scheiterte, sodass etwa 2 Wochen nach dem Unfallereignis die Amputation auf Höhe der Mittelhandknochen erfolgte. Seither war er mit einer sog. passiven „Kosmetikhand“ versorgt. Vom versorgenden Orthopädietechniker wird ihm nun die Versorgung mit einer myoelektrischen Partialhandprothese vorgeschlagen. Laut Voranschlag ist hierfür mit Kosten in Höhe von ca. 64.000 € zu rechnen. Der zuständige Sachbearbeiter stellt den Versicherten daraufhin in der Prothesensprechstunde der BGU Murnau vor mit der Bitte, die Indikation für die Teilhandprothese zu überprüfen.

Abb. 1
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Röntgenaufnahme des Handamputates rechts nach dem Unfall

Abb. 2
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Röntgenaufnahme der verletzten rechten Hand a.-p. nach dem Unfall

Abb. 3
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Röntgen der rechten Hand a.-p., heutiger Stand

Hintergrund

Die orthopädietechnische Versorgung Amputierter hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Aufgrund der uns heute zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten gelingt es, den Verlust einer Extremität immer besser zu kompensieren. Allerdings führt dieser Fortschritt zu einem erheblichen Kostenanstieg bei der Prothesenversorgung. Parallel zu den technischen Fortschritten steigt auch die Erwartungshaltung der Betroffenen.

Kunstglieder sind Hilfsmittel, die dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienen, d. h. das Hilfsmittel tritt an die Stelle des ausgefallenen oder beeinträchtigten Organs mit dem Ziel, die Behinderung möglichst vollständig auszugleichen („Gleichziehen mit einem gesunden Menschen“). Die Versorgung mit Hilfsmitteln findet ihre gesetzliche Grundlage im Sozialgesetzbuch (SGB IX). Für die verschiedenen Leistungsträger gelten zudem eigene Regelungen, z. B. für die gesetzliche Unfallversicherung aus dem SGB VII. Versicherte haben deshalb einen Rechtsanspruch auf die erforderliche Versorgung mit Hilfsmitteln als Leistung zur Rehabilitation und zur Teilhabe. Entsprechend den UV (Unfallversicherungs)-Hilfsmittelrichtlinien [1] sind die Versicherten mit den Hilfsmitteln zu versorgen, die aufgrund des Gesundheitsschadens erforderlich sind. Diese sollen eine drohende Behinderung abwenden, ausgefallene Körperfunktionen ersetzen, beeinträchtigte ausgleichen und die Auswirkungen im medizinischen, beruflichen, schulischen und sozialen Bereich abmildern.

Dem Unfallversicherungsträger ist hinsichtlich der Art und des Umfanges der Versorgung mit Hilfsmitteln ein Auswahlermessen eingeräumt, soweit nicht die VO 73 (Verordnung über die orthopädische Versorgung Unfallverletzter vom 18.07.1973) eine abschließende Regelung trifft. Die Ausübung des Ermessens hat sich an dem „mit allen geeigneten Mitteln“ anzustrebenden Rehabilitationsziel auszurichten. Dabei sind Art und Schwere des Gesundheitsschadens, die persönlichen, familiären, beruflichen und schulischen Verhältnisse der Versicherten, ihr Bedarf, ihre Leistungsfähigkeit, die örtlichen Verhältnisse sowie ihre angemessenen Wünsche zu berücksichtigen (§ 33 SGB I). Zur Bereitstellung der Hilfsmittel ist der konkrete Bedarf der Versicherten durch den Unfallversicherungsträger festzustellen.

Verordnungsgrundsätze

Für die Bedarfsfeststellung ist die medizinische Diagnose nicht allein maßgebend. In Orientierung am biopsychosozialen Modell der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) ist daneben immer auch eine Gesamtbetrachtung der funktionellen/strukturellen Schädigungen sowie der Beeinträchtigungen und verbliebenen Ressourcen im Bereich der Aktivitäten und Teilhabe erforderlich. Der Bedarf, die Fähigkeit zur Nutzung sowie die Prognose und das Ziel einer Hilfsmittelversorgung sind auf der Grundlage realistischer und alltagsrelevanter Anforderungen zu ermitteln. Dabei sind die individuellen Kontextfaktoren in Bezug auf die Person und die Umwelt als Voraussetzung für die angestrebten Rehabilitations- und Teilhabeziele zu berücksichtigen [2].

Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts fällt auch eine hochpreisige Passteilversorgung gegenüber einer konventionellen Prothetik in die Leistungspflicht des Kostenträgers, wenn sich „wesentliche“ Gebrauchsvorteile durch das neue Hilfsmittel ergeben. Dies ist dann der Fall, wenn sich die Gebrauchsvorteile allgemein im Alltagsleben auswirken, sich also nicht bloß auf einen besseren Komfort im Gebrauch oder eine bessere Optik beschränken.

Die Hilfsmittel sollen dem allgemein anerkannten Stand der technischen Entwicklung entsprechen. Der Patient muss sich dabei nicht darauf verweisen lassen, der bisher verwendete Versorgungsstandard sei ausreichend. Dies gilt auch dann, wenn das bisher genutzte Hilfsmittel noch intakt ist. Kommt ein verbessertes Hilfsmittel auf den Markt und hat es für den Anwender Gebrauchsvorteile, die sich auf seinen gesamten Alltag auswirken, so besteht ein Versorgungsanspruch auf das neue Hilfsmittel (Urteil des Bundessozialgerichts vom 16.09.2004, Az. B 3 KR 2/04 R). Diese Frage stellt sich insbesondere durch die Weiterentwicklung myoelektrischer und multiartikulierender Handprothesen, die in der Regel einen weitergehenden Behinderungsausgleich ermöglichen.

In der Praxis kann es für den D‑Arzt und/oder Sachbearbeiter der Unfallversicherung schwierig sein, die Notwendigkeit eines Hilfsmittels und die getroffene Auswahl aus einer Vielzahl zur Verfügung stehender Hilfsmittel nachzuvollziehen. Hat er begründete Zweifel an dem Erfordernis oder auch an der Zweckmäßigkeit oder Wirtschaftlichkeit des Versorgungsvorschlages, ist es sinnvoll, zusätzliche Informationen einzuholen und/oder die Verordnung in einem Kompetenzzentrum überprüfen zu lassen.

Aber auch für den erfahrenen Arzt ist die Feststellung der Notwendigkeit einer teureren und fraglich besseren Prothesenversorgung häufig nicht einfach. Verschiedene Kriterien können zur Bewertung herangezogen werden. Die BGU Murnau bietet mit der im Folgenden beschriebenen Indikationsprüfung ein Assessment an, das erforderlich wird bei den Fällen, bei denen sich aus der Diagnose oder der Problemdefinition durch den Patienten und den Arzt nicht eindeutig Art und Umfang der Hilfsmittelversorgung bestimmen lassen oder bei einer geplanten Veränderung ein wesentlicher Gebrauchsvorteil des neuen Hilfsmittels für den Kostenträger nicht sofort erkennbar ist.

Die Frage, die sich immer stellt: Kann der Amputierte die technischen Möglichkeiten des neuen Passteils tatsächlich nutzen und hat er dadurch Gebrauchsvorteile in seinem Alltag?

Indikationsstellung unter Berücksichtigung des biopsychosozialen Modells der ICF

Das der ICF zugrunde liegende Verständnis der Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Komponenten kann für die Indikationsstellung genutzt werden (Abb. 4). Auf der Ebene der Körperfunktionen und -strukturen stellt sich die Frage, ob die technischen Möglichkeiten der Prothese überhaupt genutzt werden können. Kann dies bejaht werden, ist zu klären, welche (alltagsrelevanten) Aktivitäten dadurch erleichtert werden und wie sich dies auf die Teilhabe auswirkt [3,4,5].

Abb. 4
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Ablauf der Indikationsprüfung neuer Arm- und Handprothesen, orientiert am biopsychosozialen Modell der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) (Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten, Partizipation, Kontextfaktoren)

Eine besonders wichtige Komponente stellen die Kontextfaktoren dar, die praktisch den gesamten Lebenshintergrund einer Person abbilden. Sie können sich positiv (Förderfaktoren), aber auch negativ (Barrieren) auf die Nutzung und Auswahl der neuen Prothese auswirken.

Weitere wichtige Kriterien für die Prothesenauswahl sind:

  • Größe und Gewicht der Prothese,

  • Griffkraft,

  • Robustheit der Prothese,

  • Schnelligkeit der Ansteuerung,

  • Kompatibilität der einzelnen Passteile/Komponenten zueinander,

  • körperliche Voraussetzungen (Leistungsfähigkeit, Stumpf …),

  • kognitive Fähigkeiten des Patienten, die Prothese einzusetzen,

  • optischer Anspruch des Patienten an die Prothese,

  • Anspruch an bestimmte Greifformen (Mausklick, Spitzgriff …).

Die Indikationsprüfung neuer Prothesenpassteile der BGU Murnau dient dazu, für den Sachbearbeiter/Reha-Manager die oben genannten Informationen zusammenzutragen, auf deren Basis dann die Entscheidung bezüglich der Versorgung mit einer „besseren“, in der Regel teureren Prothese getroffen werden kann.

Ablauf

Vor der eigentlichen klinischen Prüfung erfolgt eine ambulante ärztliche Eingangsuntersuchung mit einer Anamneseerhebung, die insbesondere der Ermittlung relevanter Kontextfaktoren dient. Nach der klinischen Beurteilung der Stumpfbeschaffenheit und der vorhandenen prothetischen Versorgung kann ggf. die Testfähigkeit attestiert werden. Der Auftraggeber erhält darüber einen ausführlichen Bericht und entscheidet auf dieser Basis, ob die Indikationsprüfung durchgeführt werden soll.

Ziel der weiteren Prüfung ist die Feststellung des „funktionellen Zugewinns“ durch die geplante neue Versorgung. Dabei setzt sich der funktionelle Zugewinn aus folgenden 7 Kriterien zusammen:

  1. 1.

    Steigerung der Selbstständigkeit, weil mehr Tätigkeiten im Alltag und Beruf bilateral ausgeführt werden können;

  2. 2.

    Entlastung der gesunden Gegenseite und der Wirbelsäule;

  3. 3.

    verbesserte Performance: Je flüssiger und „normaler“ eine Handlung ausgeführt werden kann, umso alltagstauglicher ist sie;

  4. 4.

    optimiertes Greifen: Gegenstände können in einer für die Tätigkeit angemessenen Position sicher gehalten werden;

  5. 5.

    geteilte Aufmerksamkeit: Voraussetzung für bilaterale Tätigkeiten;

  6. 6.

    reduzierter Kraftaufwand: Gewicht, Bedienung und Bewegungsmöglichkeiten der Prothese reduzieren den Kraftaufwand;

  7. 7.

    Hilfsmittelreduktion: Weniger Hilfsmittel verbessern die Selbstständigkeit.

Nach Absprache mit dem Kostenträger und dem versorgenden Orthopädietechniker wird der Proband stationär einbestellt. Die Indikationsprüfung neuer Prothesenpassteile findet im Rahmen einer in der Regel 5‑tägigen komplexen stationären Rehabilitation in der BGU Murnau statt. Voraussetzungen für die Durchführung der Testverfahren sind eine ausreichende körperliche Belastbarkeit, reizlose Stumpfverhältnisse, ein passender Schaft sowie ein optimal vom Orthopädietechniker eingestelltes neues Passteil bzw. Probeprothese. Probeversorgungen sind in der Regel möglich und sollten trotz der gelegentlich damit verbundenen Kosten unbedingt vor der Indikationsstellung und Verordnung erfolgen.

Wesentliche Merkmale der stationären Indikationsprüfung sind die vergleichende Testung der neuen Prothese gegen die vorhandene und die Möglichkeit der mehrtägigen Prothesengebrauchsschulung. Oftmals berichten Amputierte, dass bislang keine ausreichende Gebrauchsschulung erfolgt war und der Amputierte mit seiner Prothese nach dem Motto „learning by doing“ alleingelassen wurde. Die ausführliche Prothesengebrauchsschulung sollte generell selbstverständlicher Bestandteil der Prothesenversorgung sein und muss vom behandelnden Arzt entsprechend verordnet werden.

Nach Anreise des Probanden (in der Regel montags) findet ein ärztliches Aufnahmegespräch statt. Hierbei wird nochmals die Testfähigkeit überprüft. Im Rahmen des ergotherapeutischen Assessments werden dann zunächst die für den Probanden alltagsrelevanten Aktivitäten mit dem OPUS-Fragebogen erfasst [6, 7]. Anschließend erfolgt die Funktionsprüfung der vorhandenen Prothese. Es wird geklärt, welche technischen Möglichkeiten diese bietet und ob sie genutzt werden können. Ein standardisiertes Testset ermöglicht die Überprüfung, welche Aktivitäten durchgeführt werden können. Dabei werden neben der grundsätzlichen Ausführbarkeit auch erforderliche Ausweichbewegungen erfasst und bewertet (Abb. 5). Zuletzt werden für den Probanden relevante Alltagsaktivitäten identifiziert und ebenfalls bezüglich Ausführbarkeit und Ausweichbewegungen bewertet, beispielsweise Essen mit Besteck, Öffnen einer Flasche oder Tragen eines Wäschekorbes.

Abb. 5
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„Box-and-Blocks-Test“ [8]. Vom Ergotherapeuten werden neben der grundsätzlichen Ausführbarkeit auch erforderliche Ausweichbewegungen z. B. der Schulter und der Wirbelsäule bewertet. a Durchführung mit der vorhandenen Armprothese, b mit der gewünschten neuen

Nach der Testung mit dem bisherigen System (Tag 1) erfolgt die Versorgung mit der neuen Prothese, deren Gebrauch für einige Tage (Tag 2–4) intensiv im Rahmen ergotherapeutischer Einzel- und Gruppenbehandlungen geübt wird. Am Tag 5 werden die abschließenden Tests (gleiche Testbatterie wie am Tag 1) mit der neuen Prothese wiederholt. Eine wesentliche Rolle spielt auch die subjektive Einschätzung des Prothesenträgers, die standardisiert erfasst wird.

Am Ende der stationären Indikationsprüfung werden die oben genannten Prüfkriterien sowohl aus ergotherapeutischer als auch ärztlicher Sicht einzeln bewertet und die Testergebnisse zu Beginn und am Ende verglichen. Hieraus wird ein möglicher funktioneller Zugewinn erkannt und damit, ob ein Gebrauchsvorteil im Alltag durch die neue Prothese erwartet werden kann. Wir gehen davon aus, dass ein Prothesenträger von einer neuen Versorgung „profitiert“, wenn er in mindestens 4 Kriterien einen funktionellen Zugewinn erreicht.

Ergebnis der Indikationsprüfung

Der Mittelhandamputierte unseres oben angeführten Fallbeispiels erhielt die myoelektrische Teilhandprothese als Probeversorgung und führte damit unsere stationäre Indikationsprüfung durch. Nach Auswertung aller Beobachtungen und Testergebnisse konnten wir bestätigen, dass er in der Lage ist, die technischen Möglichkeiten der neuen Teilhandprothese voll zu nutzen. Die 3 Griffformen (Neutral‑, Pinzetten‑, Taschengriff) konnten von ihm gut umgesetzt werden. Die demonstrierten Fähigkeiten mit der Probeprothese ließen bereits nach wenigen Tagen eine umfangreiche Entlastung der Gegenseite und mehr Selbstständigkeit in den Aktivitäten des täglichen Lebens für die Zukunft erwarten. Beispielsweise gelang das Essen mit Messer und Gabel annähernd normal und beidhändig. Zudem konnte das noch erhaltene und uneingeschränkte Bewegungsausmaß des rechten Armes genutzt werden. Auch subjektiv profitierte der Proband von der neuen Teilhandprothese deutlich. Er gab nach der Indikationsprüfung an, dass er eine extreme Entlastung für seine gesamte linke obere Extremität durch die neue Prothese erfahren habe. Die Versorgung mit der Teilhandprothese ermöglicht ihm mehr Selbstständigkeit im Alltag. Viele Tätigkeiten des täglichen Lebens kann er wieder selbst erledigen, was seine Familie zukünftig entlasten wird.

Wir gehen davon aus, dass mit der zunehmenden Tragedauer die Fähigkeiten der Prothesennutzung noch deutlich zunehmen werden. Schon jetzt besteht aus unserer Sicht durch die Versorgung mit der myoelektrischen Teilhandprothese ein erheblicher Gebrauchsvorteil im Alltag. Wir haben deshalb eine entsprechende Versorgung empfohlen.