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„Wollen wir, dass unser Versorgungssystem aus Frauen routinemäßig behandlungsbedürftige Patientinnen macht, erfasst von der Pubertät über die Mutterschaft und Wechseljahre bis hin in die Geriatrie?“

Dr. med. Dipl. Lic. Psych. Johannes Horlemann Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. Facharzt für Allgemeinmedizin, spezielle Schmerztherapie, Kevelaer; Leiter des Regionalen Schmerzzentrums DGS, Geldern

Am 28. Mai 2018 fand der Internationale Tag der Frauengesundheit statt. In den Medien wurde eine anhaltende Über-, Unter- und Fehlversorgung bei Millionen Frauen beklagt. Fragen Sie sich regelmäßig, ob Frauen und Männer unterschiedlichen schmerzmedizinischen (diagnostischen und therapeutischen) Bedarf, eine unterschiedliche Verstoffwechselung der verordneten Analgetika, ja eventuell sogar unterschiedliche schmerzmedizinische Ziele aufweisen? Werden chronische Schmerzen bei Frauen weniger ernst genommen als bei Männern? Der Eindruck drängt sich auf.

Diese Fragen mögen Sie überraschen. Unser Versorgungssystem arbeitet traditionell — auch heute noch — mit deutlichen Unterschieden in der Behandlung von Mann und Frau. Nachweislich führte über Jahrzehnte die allgemeine Krankheitserwartung, dass Männer eher zu Herzinfarkten neigen als Frauen, wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung zu der Schieflage, dass Herzinfarkte bei Frauen in der Tat signifikant häufiger, nicht oder verspätet erkannt wurden (Regitz-Zagrosek V. EMBO Rep. 2012;13(7):596–603). Osteoporose und Depression werden als weibliche Erkrankungen eingestuft. Die Einweisung von weiblichen Patienten mit rheumatoider Arthritis in eine Rheumaklinik erfolgt signifikant später als bei Männern.

Auch die Forschung erscheint stärker auf Männern ausgerichtet. Ulrike Hauffe, im Verwaltungsrat der Barmer Ersatzkasse, hat beklagt, dass Frauen in klinischen Studien stark unterrepräsentiert seien. Nur rund ein Drittel der auswertbaren Studienergebnisse stamme von Frauen, Schwangere blieben meist ausgeschlossen. Dadurch bilden Präparate die Zielgruppen nur unzulänglich ab. Zudem halten sich hartnäckige Vorurteile zum Umgang mit Frauen, die Schmerzen haben (z. B. gegenüber Frauen mit Migräne oder psychischer Komorbidität bei Schmerz). Der Erschöpfungszustand einer alleinerziehenden Mutter wird leicht einer Depression zugeordnet. Im Begriff der „Hysterie“ wirkt die Gebärmutter auf die Funktionen des Gehirns. Die Verschreibung von Antidepressiva und Schlafmitteln, aber auch Neuroleptika und Tranquilizern erfolgt etwa doppelt so häufig bei Frauen wie bei Männern (Gläske D. Barmer GEK Arzneimittelreport 2012).

Diese Fehlversorgung mit System hat Folgen: Nach Wochen bis Monaten können sich Abhängigkeitserkrankungen einstellen, die nicht mehr ohne Fremdhilfe aufzuheben sind. Unter den Patienten mit Medikamentenabhängigkeit sind Frauen mit einem Anteil von zwei Dritteln überrepräsentiert. Die Mehrzahl der Bewohner in Pflegeheimen ist weiblich. Dass durch die bedenkliche Überversorgung mit Psychopharmaka zentrale Sedation, Gangunsicherheit und Stürze in Kauf genommen werden, erscheint wie ein Versorgungsstandard. Wollen wir, dass unser Versorgungssystem aus Frauen routinemäßig behandlungsbedürftige Patientinnen macht, erfasst von der Pubertät über die Mutterschaft und Wechseljahre bis hin in die Geriatrie? Für einige Schmerzbilder, etwa das der Fibromyalgie, werden deutlich höhere Frauenanteile beschrieben. Diese Angaben wären zu überprüfen. Sind Wirkminderungen von Analgetika, wie NSAR, bei Patientinnen klinisch überhaupt relevant, wenn sie hauptsächlich an Männern beforscht wurden?

Unsere schmerzmedizinischen Konzepte sollten in allen diagnostischen und therapeutischen Fragestellungen die besonderen Bedürfnisse von Männern und Frauen — obwohl kaum beforscht — in den Vordergrund rücken. Dieses Versorgungsthema könnte in einer neuen Praxisleitlinie untersucht werden. Es gäbe viel zu tun! Wer möchte diese dringliche Aufgabe übernehmen?

Ihr