Der Onkologe startet eine neue Serie von Artikeln zur integrativen Onkologie, die zu jedem Leitthema geeignete Methoden der wissenschaftlich-evaluierten komplementären Medizin darstellen. Ärzte, die ihre Patienten zu der Fragestellung „Was kann ich selber tun?“ beraten, haben ebenso wie Wissenschaftler im Umgang mit der komplementären und alternativen Medizin eine schwierige Aufgabe. Schon allein die Zusammenziehung von komplementär und alternativ in einer gemeinsamen (?) Therapierichtung ist hochgradig fragwürdig. Alternative Medizin bezeichnet nicht nur Methoden, die dem Patienten suggerieren, dass sie ohne die Methoden der akademischen, wissenschaftlich geprüften Medizin genauso gut oder sogar noch besser zu einem Heilungserfolg kommen können, der dann auch noch ohne Nebenwirkungen mit 100 %-iger Sicherheit gelingen wird, sondern auch parallel zur akademischen Medizin angewendete Methoden, die mit den Grunderkenntnissen der wissenschaftlichen Medizin nicht in Einklang zu bringen sind oder die die Grundregeln der evidenzbasierten Medizin implizit oder explizit ablehnen.

Dagegen ist die komplementäre Medizin den Regeln der evidenzbasierten Medizin zutiefst verbunden. Sie akzeptiert, dass wir für die Anwendung nach den Prinzipien der Medizinethik, den Nutzen ebenso wie den Schaden kennen und auf die jeweilige individuelle Patientensituation anwenden bzw. beziehen müssen und den Patienten befähigen müssen, eine Entscheidung nach seinen Präferenzen zu treffen. Hinzu kommt der Respekt vor der Patientenautonomie und in einem gesamtgesellschaftlichen Blick – die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit kann hier auch unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet werden, da komplementäre und alternative Medizin vielfach von Patienten selber bezahlt werden. Dies allein bedeutet schon, dass die angewendete Methode ihren „Preis wert sein muss“. Ohne Nachweis eines Nutzens im Vergleich zu einem fehlenden bzw. möglichst geringen Schaden, ist eine Methode nicht „den Preis wert“. Gerechtigkeit ist aber auch ein wesentlicher Aspekt, wenn die Methode im Rahmen des gesetzlichen oder privatversicherungsrechtlichen Systems kostenerstattet wird. Hier sind die Anforderungen mindestens ebenso hoch anzusetzen, denn angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen im Gesundheitssystem ist die Bezahlung von wirksamen und möglichst wenig schädlichen Methoden ein wichtiges Kriterium.

Patienten mit einer Krebserkrankung haben oft hohe Erwartungen an die komplementäre oder alternative Medizin. Dies ist nur allzu verständlich. Ziel eines Patienten mit einer Krebserkrankung ist das Überleben, die Heilung. Allein dies bringt Ärzte im Diskurs mit dem Patienten in eine uns fordernde Lage. Viele Patienten sind in einer nichtheilbaren Situation. Auch für Patienten mit kurativer Therapie besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Versagens dieser Therapie und selbst bei hoher Erfolgswahrscheinlichkeit sind die Therapien mit teils erheblichen Nebenwirkungen und Spät- bzw. Langzeitfolgen assoziiert. Die Frage der Patienten nach einer einfacheren, wirksameren und sanfteren Therapie ist also nur zu verständlich und übt auf den aufklärenden Arzt einen erheblichen Druck aus. Hier ehrlich zu sagen, dass wir mit naturheilkundlichen und anderen komplementären Methoden keine direkte Therapie der Krebserkrankung anbieten können, setzt nicht nur erheblichen Mut, sondern auch kommunikative Fähigkeiten und einen organisatorischen wie zeitlichen Rahmen voraus, der es uns erlaubt, ein solches Gespräch empathisch und patientenzentriert zu führen.

Leider sind diese Grundvoraussetzungen in den meisten Patientenkontakten nicht gegeben.

Die Frage ist, wie wir hier im individuellen Gespräch vorgehen können? Es hat sich bewährt, zunächst eine gemeinsame Zielklärung vorzunehmen. Was wird von naturheilkundlichen Methoden im konkreten Beratungsfall erwartet? Ehrlichkeit gebietet, dass wir keine falschen Versprechungen machen. Ehrlichkeit gebietet auch, dass wir dem Patienten sagen, dass komplementäre Maßnahmen unterstützend – insbesondere mit der Zielsetzung der besseren Verträglichkeit der Therapie – einen Sinn machen. Karsten Münstedt bezeichnet dies in seinem ersten Artikel in unserer neuen Serie als „Sinnhaftigkeit“. Sinnhaft bedeutet nicht nur zielgerecht – also passend zu den Patientenzielen, sondern auch realistisch – also mit dieser Methode erreichbar und evidenzbasiert.

Hier kommen wir zu einem weiteren Problem der sog. komplementären Medizin. Die vorliegende Evidenz ist häufig relativ gering. Dies liegt nicht nur daran, wie häufig postuliert wird, dass Studienkonzepte, Finanzierungen etc. fehlen, sondern ganz im Wesentlichen handelt es sich um grundsätzliche Probleme der zu untersuchenden Behandlungskonzepte. Verblindung ist meist nicht möglich. Placebos sind häufig schwer zu konstruieren und Patienten haben eine eigene Präferenz. Dies bedeutet, dass Patienten in einer Studie, wenn sie erfahren, dass sie der Kontrollgruppe sind, in der Regel keine besonders großen Schwierigkeiten haben, sich das zu untersuchende Agens bzw. die zu untersuchende Methode anderweitig zu besorgen. Umgekehrt setzen viele komplementärmedizinische Methoden eine hohe Adhärenz der Patienten voraus. Das gilt z. B. für bestimmte Übungsverfahren. Das heißt, wir haben sowohl in der Interventions- sowie in der Kontrollgruppe einen hohen Anteil von Patienten, der nicht das tut, was von ihm/ihr in diesem Arm erwartet wird. Wahrscheinlich ist dies eine der häufigsten Erklärungen für zwar methodisch gut gemachte, dann aber negativ verlaufende klinische Studien.

Dies bringt ehrlich aufklärende Ärzte in eine weitere Zwickmühle. Selbst wenn eine gewisse Evidenz vorliegt, sind die Evidenzgrade häufig nicht so hoch, wie wir sie uns wünschen würden. Hierfür gibt es aber Lösungsstrategien. Zunächst sollte überprüft werden, ob es für die gewählte Methode eine Hypothese zur Wirkung und Wirksamkeit gibt, die im Einklang mit wissenschaftlichen Konzepten zur Erkrankung Krebs und zu den biochemischen und physiologischen Vorgängen im menschlichen Körper steht. Fehlt eine solche überprüfbare Hypothese, so ist die Methode mit äußerster Vorsicht zu betrachten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei positiven Studienergebnissen um einen Placebo-Effekt. Als zweites ist zu überprüfen, ob die Methode einen Schaden entwickeln kann, also mit Risiken verbunden ist. Hier ist ebenfalls wieder die Frage nach klinischen Daten zu stellen. Meist wird die Suche jedoch ins Leere laufen. Selbst in klinischen Studien finden sich kaum Berichte von Nebenwirkungen. Dies kann einmal mit der Harmlosigkeit der Methoden zusammenhängen, könnte aber auch daran liegen, dass viele der Nebenwirkungen im Rahmen einer onkologischen Erkrankung kaum zu erkennen ist. Die Zuordnung des Anstiegs, z. B. von Leber- oder Nierenwerten als Hepato- oder Nephrotoxizität durch die komplementärmedizinische Methode, werden wahrscheinlich nur wenige Studienleiter und Autoren durchführen. Viel wahrscheinlicher ist die Zuordnung zur onkologischen Therapie.

Auch aus der Versorgungsforschung werden wir wenig Daten hierzu erfahren, da meistens dem Onkologen nicht bekannt ist, welche Methoden der Patient parallel anwendet, der verordnete Naturheilkunde‑, Hausarzt oder Heilpraktiker und auch der Patient gar nicht davon ausgeht, dass seine Methoden Schaden anrichten können.

Vielfach werden Ärzte deshalb zu der Entscheidung kommen, dass „das grüne Zeug zwar nichts nützt, aber auch nicht schaden kann“. Andere werden sich angesichts der hohen Erwartungen der Patienten entschließen, auf den Placebo-Effekt zu setzen oder vielleicht leichte Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen, um den Wunsch des Patienten, selber etwas zu tun, entgegen zu kommen. Angesichts teilweise sogar hochgradig toxischer naturheilkundlicher Methoden (z. B. Vitamin B17: Amygdalin, eine Blausäure freisetzende Substanz) wird das Schadenspotential dieser Haltung deutlich.

Aber auch andere, angeblich völlig harmlose Methoden können durchaus einen Schaden auslösen. So konnte unsere Arbeitsgruppe in mehreren Untersuchungen zeigen, dass Patienten, die im Rahmen banaler, selbst ausheilender Erkrankungen, positive Erfahrungen mit alternativmedizinischen Methoden wie Homöopathie oder Akupunktur gemacht haben, auch dazu neigen, diese Methoden einzusetzen, wenn sie an einer ernsthaften Erkrankung wie Krebs erkrankt sind.

Komplementäre Medizin ist aus der Sicht der Arbeitsgemeinschaft „Prävention und integrative Onkologie“ nicht nur der Einsatz von naturheilkundlichen und anderen natürlichen Methoden in supportiver Intention und Ergänzung zur Schulmedizin und zur schulmedizinischen supportiven Therapie, sondern vor allen Dingen eine ausgezeichnete Methode, Patient-Empowerment zu fördern. Die Frage der Patienten ist gut zu beachten: „Was kann ich selber tun?“. Damit ist schon klar, dass es sich weder um Infusionstherapie noch um technische Geräte u. ä. handeln kann. Vielmehr besteht seriöse komplementäre Medizin aus einfachen natürlichen Methoden und beginnt bei Ernährung und Bewegung, gesundem Lebensstil und einfachen Tipps, wie z. B. gekochte Möhren oder geriebenen Apfel bei Durchfällen. Dies setzt bei uns Ärzten eine gewisse Bescheidenheit und Respekt vor der Selbstverantwortung und dem Selbstmanagement des Patienten voraus. Komplementäre Medizin könnte man symbolisch als die Haltung beschreiben, in der wir den weißen Kittel manchmal ausziehen, dem Patienten übergeben und ihn selber entscheiden lassen. Was wir fördern, ist das Gefühl von Selbstwirksamkeit, das häufig mit der Diagnose Krebs verloren geht.

Für die Rubrikherausgeber

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Jutta Hübner