Praxisrelevante Kompetenzen für Pflegesituationen zu Hause

Simulationstrainings für pflegende Angehörige als wirkungsvolle Lernmöglichkeit

Unter Simulationstraining wird eine Lernmethode verstanden, bei der Situationen aus dem wirklichen Leben nachgebildet werden, um die Sicherheit, Effektivität und Effizienz von Gesundheitsdienstleistungen zu verbessern. Im Wesentlichen bietet Simulationstraining den Lernenden eine kontrollierte und sichere Lernumgebung, in welcher Fehler erlaubt sind. Die moderierte Diskussion nach dem Training (Debriefing) wird als der wesentliche Aspekt des Simulationstrainings beschrieben, bei dem den Teilnehmern die Möglichkeit gegeben wird, ihre Leistung zu reflektieren, Stärken und Verbesserungspotenzial zu identifizieren [1].

Studienergebnisse zeigten, dass Simulationstraining die Sicherheit erhöhen, Fehler verringern, das klinische Urteilsvermögen und die klinischen Fähigkeiten verbessern und ein größeres Selbstvertrauen der Lernenden fördern kann [2].

Simulationstrainings für pflegende Angehörige

71 Prozent der 462.179 Pflegegeldbezieher in österreich (Stand 31.12.2018) [3] werden von Angehörigen zu Hause betreut (zum Teil unterstützt durch mobile Dienste). Somit sind geschätzte 801.000 Menschen auf irgendeine Art und Weise in die Pflege und Betreuung ihrer hilfsbedürftigen Familienmitglieder zu Hause eingebunden [4]. Als größter „Pflegedienst der Nation“ kommt pflegenden Angehörigen somit hohe Bedeutung zu, weil ohne sie ein Leben zu Hause für viele Menschen schlicht nicht möglich wäre [5]. Oft verfügen pflegende Angehörige aber nicht über das notwendige Wissen und die nötigen Kompetenzen, um ihre hilfsbedürftigen Familienmitglieder zu Hause adäquat zu unterstützen, zu betreuen und zu pflegen. Oft fehlen den pflegenden Angehörigen auch die entsprechenden Fähigkeiten, um ihre eigene Gesundheit zu fördern und Krankheiten im Zusammenhang mit ihrer teilweise sehr belastenden Betreuungstätigkeit zu vermeiden.

Pflegekurse für pflegende Angehörige stellen ein Public Health-relevantes Angebot für diese große und wichtige Bevölkerungsgruppe dar. Die Kurse dienen vorrangig dem Wissens- und Kompetenzerwerb. Sie sollen den pflegenden Angehörigen darüber hinaus aber auch die Möglichkeit bieten, ihre Ressourcen und Potenziale sowie ihre Gesundheit, Selbstwirksamkeit und Lebensqualität zu stärken.

Eine innovative Möglichkeit, über herkömmliche Pflegekurse hinausgehende, praxisrelevante Kompetenzen für diverse Pflegesituationen zu Hause aufzubauen, stellen Simulationstrainings für pflegende Angehörige dar. Diese Lernmethode bietet die Möglichkeit, wertvolle Erfahrungen für die Pflege zu Hause zu machen, indem die Kursteilnehmer in Kleingruppen und in einer kontrollierten und sicheren Lernumgebung konkrete Fallbeispiele aus ihrem Pflegealltag lösen [6, 7].

Ein geschichtlicher Rückblick

Die Geschichte der Simulationstrainings als Lernins-titutionen reicht weit zurück: bis ins 6. Jahrhundert und bis zum Schachspiel. Um 1900 startete der Einsatz von Flugsimulatoren in der Luftfahrt. Im Gesundheitsbereich war die Anästhesiologie Vorreiter in der Verwendung von Simulationstrainings. Laerdal entwickelte Anfang der 1960er den Simulator „Resusci-Anne“. Dieser Simulator unterstützt bis heute das Training der Mund-zu-Mund-Beatmung und Reanimation. Zur selben Zeit entwickelten Abrahamson und Barrows Simulationen mittels Schauspielpatienten, die derzeit weitverbreitet zum Einsatz kommen. Die heutigen High-Fidelity-Patientensimulatoren wurden ebenfalls in den späten 1960ern durch Abrahamson entwickelt und durch Gaba und Good weiterentwickelt [8].

Simulationstrainings für pflegende Angehörige sind neu. Ein Blick in die Literatur zeigt, dass die Studienlage zu dieser vielversprechenden Lernmethode für pflegende Angehörige noch überschaubar ist. Durch simulationsbasierte Trainings für pflegende Angehörige erwarten Löffler und Kollegen eine Verringerung der Belastung pflegender Angehöriger sowie eine Steigerung der pflegerischen Kompetenz und des Wissens über Pflege [9]. Umfangreiche Erkenntnisse gibt es zum Einsatz von Simulationstrainings in Medizin und Pflege und insbesondere zu deren Anwendung in der Ausbildung von Medizinern und Pflegepersonen. Auch finden sich in der Literatur Beispiele zum Einsatz von klinischen Pflegesimulationen speziell in der Geriatrie [10, 11]. Simulationstrainings für pflegende Angehörige stehen somit am Beginn einer vielversprechenden Zukunft.

Mehr Lernfreude und ein sicheres Umfeld

Interview mit Urs-Beat Schaer, Berufschullehrer und Skillstrainer aus dem Berner Bildungszentrum

Was stellt für Sie den größten Mehrwert der Lernmethode Simulationstraining dar?

Schaer: Im Simulationstraining können Pflegehandlungen in den Mittelpunkt gestellt werden, welche die lernenden Personen üben können. Viele solcher übungen ergeben ein Lernfeld, in dem die Lernenden ihre Handlungen immer wieder durchführen können. Die erbrachten Erfolge werden sichtbar und führen zu mehr Lernfreude. Gemachte Fehler werden auch sichtbar. Da sie aber am Simulator gemacht werden, nimmt der Patient keinen Schaden. Sie können besprochen und Strategien zur Vermeidung solcher Fehler entwickelt werden. Das hilft, Fehler zu vermindern und zu eliminieren. Für mich heißt das Patientensicherheit durch Simulationstrainings. Das ist der Mehrwert, der an erster Stelle steht.

Was sind die wichtigsten Aspekte bei der Verwendung der Lernmethode Simulationstraining bei der Zielgruppe pflegender Angehöriger?

Schaer: Dazu kommen mir spontan zwei Stichworte in den Sinn: Wiederholungen und Feedback. Wenn wir das chronologisch anschauen, sieht das für mich in etwa so aus: Ich habe die Absicht, den pflegenden Angehörigen den Tiefentransfer vom Bett in den Rollstuhl zu lehren. Dazu formuliere ich maximal drei, lieber zwei passende Lernziele. Aufgrund dieser Lernziele arbeite ich ein Lernsetting aus, welches die pflegenden Angehörigen dann durchführen können. Jetzt kommt die angesprochene Wiederholung zum Tragen. Immer wieder üben, üben, üben führt zum Ziel. Dieses üben geschieht idealerweise mit einer anderen Person, damit sie sich unterstützen und motivieren, aber auch korrigieren können. Dieses Motivieren und Korrigieren kann in einer Zeit des gegenseitigen Feedbacks geschehen. Somit ist auch das zweite Stichwort in die Diskussion aufgenommen. Diese zwei Menschen können ihre Rollen als Ausführende und Beobachtende immer wieder tauschen, so dass sie einander im Lernen unterstützen können. Ein Feedback des Trainers muss am Schluss folgen, damit die pflegenden Angehörigen Sicherheit erlangen können und hören, was aus fachlicher Sicht gut und korrekt ist.

Wie kann der Nachweis des Erfolges der lernenden Person im Simulationstraining gelingen?

Schaer: Gerade im Umfeld von lernenden Personen aus dem Bereich der pflegenden Angehörigen ist hier eine Methodik der Reflexion eher angezeigt [12]. So können mit „Kurzantwort-Fragen“ Fähigkeiten der Vernetzung von Gelerntem in den (Pflege-)Alltag sichtbar gemacht werden. Oder es wird mit einer „strukturierten direkten Beobachtung“ gearbeitet. Anhand einer Checkliste wird die Handlung einer lernenden Person beobachtet und im Nachgang besprochen.

High-Fidelity-Simulationen mit einem Simulator sind an und für sich auch eine Möglichkeit, der lernenden Person ihre erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten sichtbar zu machen. Wobei hier eine Nachbesprechung (Debriefing) nie fehlen darf. Oder das „Peer-Feedback“: Zwei Personen können zusammen lernen und einander nach jedem Lernschritt ein inhaltsreiches Feedback geben. Dieses Feedback kann strukturiert oder frei sein. Der Lernerfolg wird auf jeden Fall sichtbar.

Was denken Sie über Simulationen in Zeiten von Covid-19?

Schaer: In diesen speziellen Zeiten lassen sich Simulationen gut zum Lernen einsetzen. Auf der einen Seite können wir unsere Lernenden in ein Lernfeld hineinversetzen, in dem sie alleine sind. Das Einhalten der Abstände entfällt. Oder wir arbeiten in Zweier-Gruppen, wobei das Distanzhalten einfacher ist als in größeren Gruppen. So können Unterrichtssequenzen durchgeführt werden, die ansonsten im Moment schwer möglich oder nicht zugelassen sind.

Das Aussetzen von Schulungen im Simulationszentrum während der Corona-Pandemie ist meiner Ansicht nach nicht der richtige Weg. Die Trainings mit den Schauspielpatienten können nicht mehr so wie früher durchgeführt werden. Da bietet sich der Simulator geradezu an. Schutzkonzepte und Distanzhalten müssen dabei immer miteinbezogen sein.

Was ist Ihr schönstes Erlebnis im Rahmen Ihrer Arbeit mit der Lernmethode Simulationstrainings?

Schaer: Von den zahlreichen positiven Erlebnissen war das eindrücklichste mit einer Lernenden, die sich so in die Situation hineinbegeben konnte, dass sie sich total identifizierte und den Bezug zum Arbeitsalltag bereits in der Simulations-Situation vollzog.

Das zeigte mir auf, wie wir mit Simulationen die Wirklichkeit ins Simulationszentrum bringen können und die Spiegelneuronen der Lernenden anregen und reizen können. Lernen wird authentisch und der Transfer von Gelerntem im Simulationszentrum in den Alltag der Arbeitswelt kann stattfinden. Wenn uns das immer mehr gelingt, dann haben wir „Patient Safety: Powered by Simulation“.

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Photo: © GGZ

ALTER:N NEU DENKEN

Unter dem Titel Alter:n neu denken beschäftigt sich das Albert Schweitzer Institut für Geriatrie und Gerontologie. Geriatrische Gesundheitszentren der Stadt Graz mit innovativen Lösungsansätzen, um Menschen im Alter die bestmögliche Betreuung anzubieten. In Kooperation mit PROCARE erscheinen zu unterschiedlichen Themen Artikel, die den Stand der Forschung und Erfahrungsberichte für praxisrelevante Impulse anbieten.

ZUR PERSON:

Urs-Beat Schaer arbeitet seit 2007 im Lernbereich Training und Transfer am Berner Bildungszentrum Pflege (CH) als Koordinator, Skills Trainer und Fachmann für Simulation mit dem Pflegesimulator. Sein Hauptinteresse liegt in der Begleitung der auszubildenden Pflegefachpersonen in den Simulationen und an der steten Weiterentwicklung der Simulationen mit dem High-fidelity- Simulator. Auch die Schulung von Trainern und Operatoren am High-fidelity-Simulator bilden einen seiner thematischen Schwerpunkte.

Esther* erzählt ...

Erfahrungen und Eindrücke einer pflegenden Angehörigen

Simulationstrainings mit pflegenden Angehörigen werden anhand eines Fallbeispiels mit Schauspielern oder einem Simulator in einer realitätsnahen Lernumgebung durchgeführt. Der Ablauf einer Simulation ist in drei Phasen aufgeteilt: In einem ersten Briefing-Gespräch erklärt der Trainer dem Freiwilligen, wie das bevorstehende Fallbeispiel aufgebaut ist. Im Anschluss startet das Szenario. Das ist ein Fallbeispiel, bei dem es darum geht, eine bestimmte Pflege-Situation zu meistern. Sobald der Teilnehmer das Fallbeispiel absolviert hat, kommt es zum abschließenden dritten Teil der Simulation, dem Debriefing.

Frau R. erzählt als pflegende Angehörige, die sich in einem Simulationstraining freiwillig für die Simulation gemeldet hat, über ihre Erfahrungen, ihre Aufgabe und den Aufbau des Fallbeispiels.

Das Fallbeispiel und die Aufgabe

Bei meinem Fallbeispiel ging es um einen an Alzheimer erkrankten Mann, der sein Frühstück essen sollte. Er wollte aber seine Mama besuchen und konnte sich auch nicht mehr richtig verständlich ausdrücken. Meine Aufgabe war, ihn zu beruhigen und dazu zu bringen, etwas zu essen.

Das Szenario und die Umsetzung

Meine erste Reaktion war: „Oh Gott, auf was habe ich mich da eingelassen!“ Als es mir aber gelungen ist, mich auf die Situation einzulassen, hatte ich meine an Alzheimer erkrankte Mutter vor mir und an die „Beobachter“, also den Trainer und die anderen Kursteilnehmer, habe ich dann gar nicht mehr gedacht. Es war für mich sehr wichtig, den Film über meinen Einsatz im Anschluss zu sehen. Ich hatte zuerst Zweifel, ob ich es richtig gemacht habe und im Film sah man, dass sich selbst der zu Pflegende, also der Schauspieler, meinen Argumenten nicht mehr widersetzen konnte. Es gab mir richtig viel Sicherheit für den Alltag. Ich konnte bei vielen schwierigen Situationen mit meiner Mutter gelassener reagieren.»

Debriefing

Beim abschließenden Gespräch gab es Lob und auch unterstützende Infos, wie man es noch besser machen könnte. Es war für mich sehr wichtig, die Meinung eines Profis zu hören.

Persönlicher Einddruck

Das Training ist absolut praxisnah. Fehler werden angesprochen und gemeinsam ausgebessert. Das gibt Sicherheit für den Alltag. Die Trainer sind sehr kompetent und wissen, worauf es im Alltag ankommt. Wenn ich an die Trainingstage zurückdenke, merke ich wieder, wieviel Spaß sie gemacht haben und wieviel Sicherheit sie mir im Alltag brachten. Auch die Gespräche mit den anderen Teilnehmern waren für mich sehr wichtig.

* Esther: Eine historische und zugleich symbolische Person, die als Repräsentantin für ältere Personen bzw. Personen mit komplexen Bedürfnissen steht, erfunden von den Gründern des südschwedischen Esther Netzwerks.