Die Arbeitswelt im Wandel – das Beispiel der Gig Economy

Die Arbeitswelt ist aktuell – mal wieder – im Umbruch. Neue Berufsfelder entstehen, andere verlieren an Bedeutung. Eine wichtige Triebfeder hierfür ist die Digitalisierung. Die rasante Entwicklung digitaler Technologien erlaubt dabei die Erschließung neuer Märkte. Ein sich besonders dynamisch entwickelndes Feld ist das der Plattform-Ökonomie, in dessen Schlagschatten neue Arbeitsformen entstehen. Dass dies als tiefgreifender Umbruch verstanden wird und Folgen für weite Teile der Gesellschaft prognostiziert werden, zeigt der im Oktober 2020 erschienene Abschlussbericht „Digitale Transformation der Arbeitswelt in Nordrhein-Westfalen“ der Enquetekommission des Landtags NRW (vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen 2020).

Der Begriff Plattform-Ökonomie (platform economy) bezeichnet neuere Geschäftsmodelle, die durch den nahezu ubiquitären Einsatz technologischer Hilfsmittel wie Smartphones sowie einem fast lückenlosen Zugang zum Internet ermöglicht werden. Aus marktwirtschaftlicher Sicht ermitteln Plattformen ein optimales Matching von Angebot und Nachfrage, also zwischen Verkäufer*innen und Käufer*innen von Produkten oder Dienstleistungen. Bekannte Betreibende digitaler Plattformen sind Ebay (Waren), Airbnb (temporärer Wohnraum) oder Uber (Taxi‑/Fahrdienst). Gemein ist den Plattformen, dass sie in der Regel lediglich an den Gebühren für erfolgreiche Vermittlungen verdienen und nicht selbst als produzierendes oder dienstleistendes Unternehmen in Erscheinung treten (vgl. Greef und Schroeder 2017; Schmidt 2017). Die Voraussetzung dafür sind Apps, die mittels Algorithmen die effizienteste Vermittlung zwischen Angebot und Nachfrage berechnen und dies in benutzerfreundlichen Oberflächen darstellen.

Der Beitrag widmet sich einem Teilbereich der Plattform-Ökonomie, nämlich der Gig Economy. Es lassen sich zahlreiche Formen plattformvermittelter Arbeit unterscheiden. Dabei bestehen zum Teil große Unterschiede in Bezug auf die notwendigen Qualifikationen und Fähigkeiten sowie die Möglichkeiten, Einfluss auf die eigene Arbeit zu nehmen (vgl. Greef und Schroeder 2017). Unterschieden wird vor allem zwischen Gig Work und Cloud Work; während Cloud Work ortsunabhängig erfolgen kann, ist Gig Work in der Regel durch Einsatzgebiete und die physische Ausübung der Dienstleistung ortsgebunden (Schmidt 2017). Zu Gig Work gehören vor allem Tätigkeiten in den Bereichen haushaltsnahe Dienstleistungen (z. B. Pflegepersonal, Putzhilfen) und Liefer‑/Fahrdienste (z. B. Taxifahrten, Essensauslieferung).

Während in der Diskussion die Möglichkeiten des effizienten und flexiblen Einsatzes von Arbeitskräften als Vorteile hervorgehoben werden, warnen kritische Stimmen gleichzeitig vor einer weiteren Deregulierung und Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen (u. a. Ruiner und Wilkesmann 2016; Minssen 2012), die aus gewerkschaftlicher Sicht auch zur Herausbildung neuer prekärer Beschäftigungsverhältnisse führen können (vgl. Huws 2014; Prassl 2018; Woodcock und Graham 2019).

Zahlreiche Studien gehen der Frage nach, wie die Gig Economy gegenwärtig zum Wandel von Arbeitswelten beiträgt. Dabei werden insbesondere die damit einhergehenden Risiken und Herausforderungen für Arbeitnehmer*innen wie Scheinselbständigkeit, mangelnde soziale Absicherung, unzureichender Arbeitsschutz sowie die Abwälzung beruflicher Risiken auf die Arbeitskräfte diskutiert (vgl. Greef und Schroeder 2017; Ivanova et al. 2018; Schmidt 2017). Mit einer Webseite bzw. App und wenigen Angestellten nutzen die Betreibenden digitaler Plattformen neue Technologien, um eine Vielzahl an Freiberufler*innen, und Zeitarbeiter*innen zu beschäftigen.

Die digitale Vermittlung des Lieferservices zwischen Restaurants und Kund*innen ist ein dynamischer Markt, der durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie einen weiteren Schub erhalten hat. Prognosen gehen davon aus, dass die Umsätze für Online Food Delivery von 1,2 Mrd. € (2017) bis 2024 um etwa das Dreifache steigen werden (vgl. Statista 2020). Marktführendes Unternehmen in diesem Segment sind in den meisten europäischen Ländern Tochterunternehmen des 1999 in den Niederlanden als Thuisbezorgd.nl gegründeten Konzerns Takeaway, der in Deutschland unter dem Namen des 2014 übernommenen Marktführenden Lieferando firmiert (vgl. Wirminghaus 2020, siehe Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Marktführend in Deutschland – Lokal von Lieferando. Foto: J. Plöger

Ziel dieses Beitrags ist es, aus geographischer Perspektive die Herausforderungen digital organisierter Arbeit näher zu beleuchten. Das erfolgt anhand einer Studie über die Arbeitsbedingungen von Fahrer*innen im Bereich Essensauslieferung in Münster. Es wird der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen sich durch neue Formen der Arbeit in der Gig Economy auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten ergeben.

Auswirkungen der Gig Economy auf die Arbeitsbedingungen von Fahrer*innen

Die folgenden Ergebnisse resultieren aus einer Fallstudie zur Gig Economy in Münster, die im Herbst 2019 im Rahmen eines Seminars zur Plattform-Ökonomie an der Universität Münster durchgeführt wurde. Damit ergänzen wir den bestehenden empirischen Fundus an Studien zur Gig Economy in Deutschland, die bislang vor allem die Situation in Metropolen wie Berlin untersucht haben. Mithilfe eines im Seminar erstellten Leitfadens konnten 7 Fahrer*innen von Lieferando zu ihren Arbeitsbedingungen befragt werden (siehe Tab. 1). Vorliegende Studien haben sich vorwiegend Lieferplattformen wie Foodora oder Deliveroo gewidmet, die mit selbstständigen Ridern arbeiten. Im Unterschied dazu befinden sich die Fahrer*innen bei Lieferando im Angestelltenverhältnis. Ergänzend wurde mit einem Gewerkschaftsvertreter ein Expertengespräch geführt. Zudem erfolgte eine Durchsicht der Berichterstattung lokaler Medien.

Tab. 1 Übersicht der befragten Fahrer*innen

Im Folgenden werden die Auswirkungen der Gig Work auf die Arbeitsbedingungen der Gig Worker vorgestellt. Wir legen den Fokus hier auf 3 Aspekte, die in der bisherigen Auseinandersetzung mit den Arbeitsbedingungen in der Gig Economy etwas weniger beleuchtet wurden. Erstens wird die zentrale Rolle der App weiter hervorgehoben, indem aus ihrer Wirkungsweise zentrale Mechanismen zur Ausübung von Kontrolle sowie zur Leistungssteigerung der Fahrer*innen abgeleitet werden. Weiter wird aufgezeigt, wie durch die App die Distanz zwischen Unternehmen und Arbeitnehmer*in erhöht wird. Zweitens zeigen wir am Beispiel Arbeitsschutz und Arbeitsmittel, wie sich Verantwortlichkeiten zwischen Unternehmen und Arbeitnehmer*innen verschieben. Drittens verweisen wir auf die Möglichkeiten eines gemeinschaftlichen Copings durch die Fahrer*innen.

Kontrolle durch die App

Die App kann ihre Wirkungsmacht nur entfalten, wenn sie von einer Vielzahl von Kund*innen und Fahrer*innen heruntergeladen und verwendet wird. Im untersuchten Fall kommt der App eine zentrale Rolle bei der Strukturierung der Arbeit der Gig Worker zu. Sie vermittelt Nachfrage (Essenswünsche der Kundschaft) und Angebot (der Restaurants) und steuert die Essensauslieferung.

Ein Blick auf den typischen Ablauf einer Schicht verdeutlicht den Einfluss der App auf den Arbeitsalltag der Fahrer*innen. Mit dem Einloggen auf der App melden sich die Fahrer*innen zum Dienst und können Aufträge zur Auslieferung von Essensbestellungen annehmen. Auf Basis der GPS-Daten von Fahrer*innen, Restaurants und Kund*innen schlägt der Algorithmus der App daraufhin eine Fahrtroute zwischen Restaurant und Kundschaft vor und gibt für die Erledigung der Auslieferung ein Zeitfenster vor. Laut Aussage einiger Fahrer*innen ist das nicht unbedingt die günstigste Fahrtroute, da lokales Wissen oder Hindernisse nicht immer berücksichtigt werden. Ein zentrales Element der Steuerung der Arbeitskräfte ist die Berechnung der Effizienz der Fahrer*innen. Der Algorithmus greift dafür auf die Daten aller Bestellungen und Fahrten zurück, wobei insbesondere die Zuverlässigkeit der Auslieferung (Schnelligkeit, Kundenzufriedenheit) sowie die Anzahl der absolvierten Fahrten berücksichtigt werden. Wie sich diese Effizienz genau berechnet, bleibt allerdings intransparent.

Die Fahrer*innen werden nach dem derzeitigen Mindestlohn bezahlt; neben Trinkgeldern kommen dazu Boni für höhere Leistungen. Deren Höhe richtet sich nach der Anzahl der Auslieferungen pro Monat, z. B. pro Lieferung zusätzlich 25 Cent (ab der 25. bis 100. Lieferung) oder 1 € (ab der 100. bis 200. Lieferung). Die Aussagen der Interviewten zu den Boni wichen allerdings voneinander ab, was auch hier auf Intransparenz hindeutet. Laut Marvin „geht es manchen Leuten schon darum, dem Bonus hinterherzujagen“. Für Minijobber mit Einkommensgrenzen (z. B. wegen BAföG) wie Ben sind die Boni hingegen kaum Anreiz, da sie als Einkommen angerechnet werden.

Ein weiteres wichtiges Ziel der digitalen Überwachung ist es, eine hohe Arbeitsleistung der Fahrer*innen zu gewährleisten. Zur Steigerung des Wettbewerbs verwendet die App auch spielerische Elemente (vgl. Mason 2018 zu Gamification). Neben den Boni kommt das sogenannte Nudging zum Einsatz, welches gezielte Impulse zur Steigerung der Effizienz setzt. Im vorliegenden Fall gehören dazu Push-Nachrichten durch Manager lokaler Teams (siehe Abb. 2). Einerseits reagieren diese Dispatcher auf etwaige Probleme und warnen z. B. bei schlechtem Wetter. Andererseits versenden sie Nachrichten zur Steigerung der Motivation der Fahrer*innen. Das kann auch Lob umfassen („hey, habt ihr alle super gemacht“, André) oder die Aussicht auf zusätzliche Boni, wenn bei erhöhter Nachfrage die Schicht verlängert wird. Diese Einflussnahme auf die Fahrer*innen während ihrer Arbeitszeit sehen diese durchaus kritisch; André spricht sogar von „Psychospielchen“:

Generell versuchen sie uns aber nicht zu motivieren, sondern eher auf die Finger zu hauen. … Sie versuchen, es [Druck] zu erzeugen, also dadurch, dass du die Information kriegst „in 5 Minuten musst du 4 Kilometer weiter das Essen abliefern“. … Du versuchst halt schon einen Bonus zu kriegen. Also das gibt dir schon einen Druck. Letztendlich passiert aber nichts, wenn du da nicht mitmachst. Es ist aber natürlich ein Psychospielchen.

Abb. 2
figure 2

Screenshot des Accounts eines Fahrers. Quelle: Account eines Fahrers, nachträglich anonymisiert

Diese Aussagen verdeutlichen, dass Überwachung und die Möglichkeiten der Kontrolle der Arbeitskräfte wesentliche Merkmale der Arbeit in der Gig Economy sind. In Bezug auf diese Mechanismen zur Ausübung von Macht lohnt sich ein Blick auf die Überlegungen von Foucault (vgl. Törnberg und Uitermark 2020). In seinem Werk Überwachen und Strafen interpretiert Foucault (2016 [1976]) das Panopticon, ein Gefängnistyp im 18. Jahrhundert, als Metapher für die Wirkungsweisen der modernen französischen Gesellschaft. Die Bauweise des Panopticons erlaubt die Überwachung aller Zellen von einem zentralen Turm aus, wogegen es den Gefangenen nicht möglich war, zu erkennen, ob sie tatsächlich überwacht wurden (vgl. Törnberg und Uitermark 2020, S. 4). Während die Beobachtenden bemüht sind, den Blick und somit die Kontrolle auszuweiten, ist den Beobachteten daran gelegen, sich dieser Kontrolle zu entziehen (Reckwitz 2017).

In der Wirkungsweise der App sind solche panoptischen Elemente erkennbar. Durch das erzwungene Einloggen bei Schichtbeginn ist der Zugriff auf die Individuen möglich. Die Fahrer*innen sind ab diesem Zeitpunkt mittels des GPS-Tracking ihrer Smartphones räumlich verortbar und messbar. Allerdings sind auch die Grenzen der Kontrolle erkennbar, denn eine Sanktionierung, z. B. bei verspäteter Auslieferung, erfolgt nicht.

So sind einerseits produktive Elemente der Subjektivierung bzw. Selbstdisziplinierung durch die oben beschriebenen Mechanismen der Leistungssteigerung (vgl. Bröckling 2007) und andererseits repressive Mechanismen in Form der aufgezwungenen, einseitigen Sichtbarkeit zu erkennen (vgl. Reckwitz 2017). Die App bzw. die Dispatcher können somit direkt auf das Verhalten der Fahrer*innen einwirken.

Gläserne Arbeitnehmer*innen, verborgene Arbeitgebende

Die Mehrheit der Befragten hatte einen sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag. Die Erfahrungen mit Lieferando einen Arbeitsvertrag einzugehen, variierten teilweise stark. Innerhalb des Vertrags wurden manchen Mindeststunden zugesichert, wiederum anderen nicht. Allerdings gelang es André und Julia durch Eigeninitiative bzw. Unterstützung der Gewerkschaft ihren Vertrag nach Verlängerung zu entfristen. Paul berichtete uns davon, dass er bei seiner Anfrage nach einer neuen Ausführung seines Vertrags erfuhr, dass Lieferando seinen Vertrag ebenfalls verloren hatte. Ein neuer wurde nicht ausgestellt.

Ein weiteres wichtiges Merkmal der App ist ihr Einfluss auf das Verhältnis zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmer*innen. Im Unterschied zu den mehrheitlich noch analog organisierten Arbeitswelten kennen die Fahrer*innen ihre Vorgesetzten nicht. Die Kommunikation beschränkt sich in der Regel auf Nachrichten in der App. Abgesehen von den Dispatchern haben die Fahrer*innen keine direkten Ansprechpartner*innen. Etwaige E‑Mails vom Arbeitgebenden werden über anonyme Adressen versendet. Paul berichtet, dass man „immer nur weitergeleitet wird und nur sehr verzögerte Antworten bekommt, die wenig behilflich sind“. Eine ähnliche Erfahrung hat Ben gemacht:

Über dieses E‑Mail-Verfahren hat man ja keinen persönlichen Ansprechpartner. Man muss immer schreiben und warten …. Und ich habe mich schon bemüht …, damit die das verstehen. … Ich weiß nicht, ob die das mit Absicht gemacht haben, … manchmal kam das so rüber.

Diese Aussagen fügen sich in Befunde aus anderen Studien, wonach der Einsatz der Technologie die Distanz zwischen Arbeitgebenden und Fahrer*innen erhöht (vgl. Ivanova et al. 2018). Nicht alle Fahrer*innen sehen darin ein Problem. Lukas schätzt es, keinen direkten Vorgesetzten zu haben, „der einem sagt ‚mach das‘ oder ‚mach das‘“. Dennoch äußert sich in der Distanz eine weitere Abhängigkeit: Während die Fahrer*innen, sobald sie eingeloggt sind, jederzeit erreichbar und lokalisierbar sind, bleiben die Arbeitgebenden im Dunkeln. So verlagert sich das Machtverhältnis zugunsten Letzterer; beispielsweise weil Beschwerden vonseiten der Fahrer*innen erschwert werden oder auf Anfragen spät bzw. gar nicht hilfreich geantwortet wird. So verzögerte sich auch bei einer fehlerhaften Monatsabrechnung die Ausgleichszahlung von Paul um einen Monat.

Die Distanz beeinträchtigt weiterhin die Einflussnahme von Vertretungen der Interessen der Arbeitnehmer*innen in der Gig Economy. Zwar wurden Betriebsräte per Gesetz mit Mitbestimmungsrechten ausgestattet, die gesetzlichen Rahmenbedingungen hinken dem Wandel insbesondere digital organisierter Arbeit jedoch hinterher (vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen 2020, S. 210).

Zwar wurden in einigen deutschen Städten – darunter auch in Münster – mittlerweile Betriebsräte gegründet, welche in ihrer Arbeit von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) unterstützt werden. Allerdings kritisiert der gewerkschaftliche Vertreter, dass die Arbeitgebenden „keine Lust haben, sich mit Betriebsräten auseinanderzusetzen“ und die Mitbestimmung erschweren. Lieferando ist bemüht, die Gründung von Betriebsräten zu verhindern (u. a. Wyputta 2020; Schwär 2020). Ein zentrales Argument dabei ist, dass es vor Ort keine Betriebe gebe. Trotz Verlagerung der Arbeitsorganisation ins Digitale findet die Ausübung der Tätigkeiten in der Gig Economy im physischen Raum statt.

Die Interessenvertretungen der Fahrer*innen setzen sich z. B. für eine Entfristung von Arbeitsverträgen ein oder bei Unstimmigkeiten bei der Auszahlung der Löhne. Ein weiterer Aufgabenbereich ist die Einhaltung des gesetzlichen Arbeitsschutzes, auf den im folgenden Abschnitt eingegangen wird.

Arbeit auf eigene Verantwortung?

Beim Thema Ausstattung wird das ungleiche Machtgefüge zwischen Fahrer*innen und Arbeitgebenden besonders deutlich. Zwar stellt Lieferando Arbeitskleidung wie Regen- und Fleecejacken, Mützen, Rucksäcke und Helme. Allerdings bemängeln die Fahrer*innen deren niedrige Qualität:

Die Regenjacken waren keine Regenjacken. Das waren normale Jacken. Also man war komplett nass hinterher, und wenn das Handy dann nicht wasserfest war, dann war das danach auch kaputt. (Ben)

Zudem dauert die Nachbestellung bei defekten Rucksäcken oder Jacken teilweise sehr lange, so der Gewerkschaftsvertreter. Als Reaktion auf diese Mängel konnte auf Einwirken des Betriebsrates erreicht werden, dass das Tragen der gestellten Arbeitskleidung nicht mehr verpflichtend ist. In den einzelnen Einsatzgebieten verfügen die Fahrer*innen zudem über unterschiedlichen Zugriff auf Material je nachdem, ob Lieferando dort einen Hub betreibt. Das sind lokale Lager bzw. Büros, wo Arbeitsmaterialien und auch E‑Fahrräder aufbewahrt werden, auf die die Fahrer*innen zu Schichtbeginn oder bei defektem Material zurückgreifen können.

Das Tragen eines Helmes ist für die Fahrer*innen vertraglich verpflichtend und Voraussetzung für den Versicherungsschutz bei Unfällen. Marvin bemerkte allerdings, dass die Einhaltung der Helmpflicht in der Praxis nicht kontrolliert wird. Lediglich bei schlechten Witterungsbedingungen wird eine Aufforderung zum Tragen des Helmes versendet. Mehrere Interviewte bestätigten, dass die Verantwortung auch bei der Verkehrssicherheit der Fahrräder bei den Fahrer*innen liegt und hier ebenfalls keine Kontrollen stattfinden:

Man selbst ist verantwortlich dafür, dass das Fahrrad in Schuss ist. Man repräsentiert die Firma Lieferando und sollte ordentlich auftreten. (Paul)

Für die Fahrer*innen ist das Risiko eines Unfalls erhöht, z. B. durch unachtsame Autofahrer*innen, Defekte am Fahrrad oder schlechte Witterung. Während ihres Dienstes sind die Fahrer*innen über das Unternehmen bei der Berufsgenossenschaft Verkehr gegen Unfälle versichert. Allerdings bemerkt Julia, dass die schnelle Erledigung von Lieferungen und die Jagd nach Boni einige Fahrer*innen dazu veranlassen, Verkehrsregeln zu missachten und riskant zu fahren.

Ein weiterer Kritikpunkt wird von Lukas vorgebracht. Er berichtet, dass der Verschleiß selbst eingebrachter Arbeitsmittel nicht zufriedenstellend erstattet wird. Eine Grundvoraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit ist der Besitz eines Smartphones mit ausreichend Datenvolumen und Akkuleistung. Der Verschleiß des Geräts wird allerdings nicht angerechnet. Auch für die Verwendung des eigenen Fahrrads erhalten die Fahrer*innen keine Verschleißpauschale, sondern einen Gutschein für einen Online-Shop, mit dem die Befragten mehrheitlich unzufrieden sind:

Wir haben noch Aufwendung für Verschleißkosten. Pro gefahrene Stunde bekommen wir 25 Cent bei einem Onlineshop. … Das ist keiner von den Großen, bei dem man Fahrräder kauft, sondern das ist irgendein kleines Start-up aus München und das Angebot ist kacke … und sehr teuer. (Marvin)

Das Fehlen einer angemessenen Entschädigung für selbst eingebrachte Arbeitsmittel wie Handy, Fahrrad oder Kleidung wird auch von der Gewerkschaft NGG beanstandet (u. a. Kluge 2019).

Praktiken des Coping abseits der App

Gleichwohl lassen sich als Reaktion auf die Kontrolle durch die App vonseiten der Fahrer*innen sowohl Anzeichen gemeinschaftlicher Praktiken als auch Praktiken der Unterstützung erkennen. So berichten André, Julia und Marvin, dass es einen „harten Kern“ von ca. 20–25 Fahrer*innen gibt, aus dem sich zum Teil Freundschaften entwickelt hätten. Untereinander tauschen die Fahrer*innen beispielsweise Informationen aus.

Zudem sind viele Fahrer*innen in einer WhatsApp-Gruppe organisiert. Darüber erfolgt ein Austausch über die Arbeit. Marvin berichtete davon, dass in der Gruppe auf die Möglichkeit der Entfristung von Arbeitsverträgen hingewiesen wurde. Vor allem nutzen die Fahrer*innen diese Gruppe allerdings, um bei konkreten Problemen Unterstützung zu erhalten. Zum Beispiel sind die Fahrer*innen aufgrund ihrer Abhängigkeit von der App darauf angewiesen, dass der Akku ihres Smartphones voll aufgeladen ist. Bei niedrigem Akkustand, so Julia, könne man in die Gruppe schreiben, um sich eine Powerbank zu leihen. Mit dieser Verlagerung der Kommunikation in eine von der App unabhängige Chat-Gruppe verschaffen sich die Fahrer*innen somit etwas Freiraum, in dem auch kritische Kommentare bezüglich der Arbeit möglich sind, ohne eine Sanktionierung befürchten zu müssen.

Die hier beschriebenen Praktiken zeigen, wie Fahrer*innen mit Herausforderungen im Arbeitsalltag umgehen. Ob sich dies allerdings in einem solchen Umfang erweitern kann, dass sich der Status quo zugunsten der Arbeiter*innen verändert und es womöglich dazu führt, dass sich die Beschäftigungsverhältnisse verändern, ist zu hinterfragen und war auf Grundlage der Interviews nicht zu erkennen.

Fazit

Durch den Einsatz neuer Technologien entwickelt sich die App-gesteuerte Vermittlung von Arbeit dynamisch. In der Gig Economy werden mit einer weiteren Deregulierung und Flexibilisierung von Arbeit aber auch die Konsequenzen für die Beschäftigung im Niedriglohnsektor deutlich.

Über die App verfügen Unternehmen über ein Instrument der Vermittlung, Kontrolle und Regulierung von Arbeitnehmer*innen (vgl. Ivanova et al. 2018). Am Beispiel einer Fallstudie zu Fahrer*innen von Lieferando in Münster konnte aufgezeigt werden, dass die App aus Perspektive der Arbeitgebenden vielfältige Möglichkeiten der Einflussnahme auf Beschäftigte bietet, z. B. über Boni, Nudging oder Dispatcher. Eine inhärente Logik des Arbeitens in der Gig Economy ist es, die Konkurrenz unter den Arbeitnehmer*innen anzufachen, um trotz niedriger Löhne eine hohe Effizienz zu erzielen. Wir können das anhand des empirischen Materials allerdings nur andeuten.

Darin offenbart sich wiederum ein widersprüchliches Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdbestimmung im Arbeitsverhältnis. Denn die Arbeitgebenden treten zunehmend in den Hintergrund und entziehen sich so den Anliegen der Fahrer*innen sowie ihrer Interessenvertretung. Dadurch ist nicht nur der Zugriff auf die Arbeitgebenden erschwert. Die App verschleiert auch andere Rahmenbedingungen der Arbeit, wie die Intransparenz bei der Berechnung der Boni zeigt.

An 3 Punkten kann veranschaulicht werden, dass die Arbeitsbedingungen in der Gig Economy eine räumliche Komponente haben. Erstens gibt es Unterschiede bei der Gründung von Betriebsräten für die einzelnen Einsatzgebiete. Während das in Münster gelang, sind solche Initiativen der Fahrer*innen nicht überall von Erfolg gekrönt. Zweitens unterhält Lieferando nicht in allen Einsatzgebieten Hubs zur Bereitstellung von Arbeitsmaterialien. In Münster kritisieren die Fahrer*innen in diesem Zusammenhang die vergleichsweise schlechte Versorgung mit Kleidung, Rucksäcken und E‑Fahrrädern. Drittens gewinnt in der Gig Economy der digitale Raum stark an Bedeutung für das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer*innen und Arbeitgebenden. Wegen der Gefahr der Unterwanderung von Arbeitsstandards und der Entstehung prekärer Beschäftigungsverhältnisse sollte diese Entwicklung in Zukunft im Auge behalten werden.

Gerade aus diesem Grund sind die Bemühungen von Lieferando, die Gründung lokaler Betriebsräte zu verhindern, kritisch zu beurteilen. Um zu verhindern, dass die Arbeitsbedingungen in der Gig Economy weiter zu Ungunsten der Beschäftigten kippen, müssen regulierende Instanzen die Entwicklungen im Blick behalten.

Anhand verschiedener Beispiele konnte die Verlagerung der Verantwortung zu Lasten der Fahrer*innen aufgezeigt werden. So wird von diesen verlangt, dass sie funktionsfähige Arbeitsgeräte wie Smartphones und z. T. Fahrräder selbst bereitstellen. Auch beim Thema Arbeitsschutz ist eine Verschiebung auf die Gig Worker erkennbar. Zur Erhöhung der Verkehrssicherheit wären regelmäßige Kontrollen der Fahrräder wünschenswert, z. B. in Kooperation mit lokalen Fahrradwerkstätten. Zudem sollten Fahrer*innen eine angemessene Entschädigung für eingebrachte Arbeitsmittel erhalten.

Ein Beispiel der Selbstorganisation sind die von den Fahrer*innen selbst initiierten Formen des Austauschs. So ermöglicht die WhatsApp-Gruppe einiger Fahrer*innen neben der Verbreitung von Informationen und der Vermittlung schneller Hilfeleistungen insbesondere auch eine kritische Auseinandersetzung mit den konkreten Arbeitsbedingungen.