Die digitale Transformation schreitet unaufhaltsam fort und durchdringt alle unsere Lebensbereiche. Sie verändert nicht nur das Wirtschaftsleben, die Arbeitswelt und die private Kommunikation, sondern betrifft auch den Gesundheitssektor in besonderem Maße. Gesundheitsversorgung, medizinische Forschung und Pflege erfahren grundlegende Veränderungen, die auf der diesjährigen Jahrestagung der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) vom 13.–15.09.2018 in Köln diskutiert werden sollen.

Ob Speicherung persönlicher Gesundheitsinformationen in elektronischen Gesundheits- und Patientenakten, Aufbau und Vernetzung medizinischer Datenbanken, Nutzung künstlicher Intelligenz in Diagnostik, Therapie, Forschung sowie Aus- und Weiterbildung, Einsatz von gesundheitsbezogenen Apps, Wearables oder digitale Assistenz- und Überwachungssysteme – die Menge und die Vielfalt gesundheitsrelevanter Daten sowie technologischer Anwendungen zur Vernetzung, Auswertung und Nutzung dieser Daten wachsen stetig und in ungekannter Geschwindigkeit.

All dies bietet verheißungsvolles Potenzial für Verbesserungen: Allein digitalisierte Gesundheits- und Patientenakten versprechen den Informationsfluss zwischen Patienten, Ärzten und Pflegekräften transparenter, effizienter und sicherer zu gestalten. Doppeluntersuchungen, fehlende Befunde mit der Konsequenz gefährlicher Falschbehandlungen, vermeidbare Wechselwirkungen zwischen Medikamenten, Patienten, die nur mühsam und unvollständig Zugang zu ihren eigenen Gesundheitsdaten erhalten – all dies scheint mithilfe digitaler Kranken- und Pflegeakten leicht vermeidbar zu sein.

Wearables und Apps erlauben Nutzern, ihre individuellen gesundheitsbezogenen Daten selbstbestimmt zu erheben und, im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten, zur Erreichung selbst gesetzter Gesundheitsziele auszuwerten oder auch mit anderen zu teilen. Schlafrhythmen, Bewegungs- und Ernährungsmuster werden bereits heute nicht mehr allein von Spitzensportlern oder chronisch Kranken dauerhaft kontrolliert, sondern auch unabhängig von hochrangigen Leistungszielen oder schwerwiegenden Gesundheitsrisiken. Die Vielfalt und Menge der erhobenen Daten ist dabei nicht allein für die individuellen Nutzer interessant, sondern auch für die medizinische Forschung und Versorgung.

In Diagnosestellung und Therapiefindung gehen zunehmend datenbasierte Technologien zur Auswertung und Entscheidungsunterstützung ein, die möglicherweise in manchen Bereichen fundiertere Empfehlungen geben als der menschliche Arzt, welcher sich naturgemäß auf einen Bruchteil vergleichbarer Primärdaten stützen muss, dafür aber den individuellen Patienten besser kennt und seine persönliche Erfahrung einbringen kann. Algorithmische Systeme können die Entscheidung von Arzt und Patient zumindest unterstützen; die Hoffnung richtet sich darauf, dass sie nicht nur die Qualität von Diagnose und Therapie erheblich verbessern, sondern auch die Versorgungsprozesse im Gesundheitswesen mit seinen unterschiedlichen Sektoren.

Noch werden viele der technisch bereits verfügbaren Möglichkeiten in der medizinischen und pflegerischen Praxis allenfalls sporadisch genutzt. Angesichts des demographischen Wandels und einer immer kostenintensiveren Hochleistungsmedizin ist einerseits die Frage zu stellen, wie lange die fehlende Nutzbarmachung der bereits heute vielfältig zur Verfügung stehenden Daten noch hinnehmbar ist. Andererseits sind weder geeignete Strukturen noch Forschungsdesigns etabliert, die eine evidenzgenerierende Nutzung der Daten zulassen. Zudem fördern „Deep Learning“, das „Internet der Dinge“ und ein stetig wachsender Datenpool ein Zukunftsbild der Medizin, das von immer weitreichenderer Transparenz des Individuums, einem Primat der Gesundheitsoptimierung, stetiger Gesundheitsüberwachung und individueller Verantwortungszuschreibung geprägt ist.

Dies zeigt, dass all diese Entwicklungen nicht nur Vorteile versprechen, sondern auch eine ganze Reihe grundlegender Fragen aufwerfen. Auf der AEM-Jahrestagung werden die vielfältigen Aspekte der Digitalisierung in der Medizin in drei Themenkomplexen diskutiert.

„Gesundheit, Krankheit und individuelle Selbstbestimmung“ bilden den ersten Schwerpunkt, in dem u. a. folgenden Fragen nachgegangen wird: Wie verändern sich die Konzepte von Gesundheit und Krankheit, wenn schon beim Gesunden ansetzende algorithmisch gebildete Risikoprofile allgemeinen Einzug in die Versorgungspraxis nehmen? Welche Rechte, Ansprüche und Verpflichtungen ergeben sich für den Einzelnen, wenn gesundheitsbezogene Daten umfassend gesammelt und genutzt werden können? Welche neuen Anforderungen entstehen für Patienten, Ärzte, Pflegende und Personen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko? Angesichts dessen, dass die Grenze zwischen Life-Style-Optimierung, Prävention und Gesundheitsförderung zunehmend verschwimmt, wird etwa zu klären sein, wie die Autonomie und der Schutz der Privatsphäre der involvierten Personen sichergestellt werden können.

Ein zweiter Themenkomplex ist den „Interaktionen im therapeutischen/pflegerischen Bereich“ gewidmet. Hier wird unter anderem diskutiert, welche Auswirkungen die Digitalisierung in der Medizin für die Rolle von Ärzten und Pflegekräften haben wird. Welche Änderungen zeichnen sich bereits ab und wie soll mit ihnen umgegangen werden? Wie können angehenden Ärzten und Pflegekräften die für den Umgang mit digitalen Entwicklungen erforderlichen Kompetenzen vermittelt werden? Ein weiteres Thema wird sein, welche Bedeutung die Digitalisierung für die ärztliche und pflegerische Aus‑, Fort- und Weiterbildung hat. Welche Kompetenzen müssen heute und künftig vermittelt werden? Angesichts der zunehmenden Verfügbarkeit gesundheitsrelevanter Daten auch für Fachfremde ist außerdem danach zu fragen, ob und wie die Vermittlung sachgerechter gesundheitsrelevanter Informationen befördert und gewährleistet werden kann. Die Frage richtet sich nicht nur darauf, wie man sachgerechte von nicht-sachgerechten Gesundheitsinformationen im Internet unterscheiden kann. Es muss geklärt werden, welche Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten medizinischen Fachvertretern sowie Vertretern gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Interessen zukommen.

In einem dritten Komplex stehen Fragen der „Gerechtigkeit, Solidarität und Governance“ im Mittelpunkt. Sie betreffen unter anderem Implikationen für unser gesellschaftliches Selbstverständnis – etwa wenn es um den gerechten und solidarisch getragenen Zugang zu digitalen Gesundheitsleistungen geht. Es gilt als weitgehend unbestritten, dass neue Technologien möglichst effizient genutzt und nach Maßgabe der Prinzipien von Evidenzbasierung und Solidarität gewährleistet werden sollten. Unklar ist jedoch, welche Bedingungen hierfür geschaffen werden müssen. Zu fragen ist hier z. B. nach den möglichen Auswirkungen verhaltensbasierter Bonussysteme und Versicherungsmodelle auf die solidarische Krankenversicherung, wenn mithilfe digitaler Technologien immer mehr und immer vielfältigere Verhaltensdaten in Echtzeit erhoben und ausgewertet werden können. Wie wird sich unser gesellschaftliches Verständnis gesundheitlicher Solidarität und Eigenverantwortung ändern? Welche ethischen Erwägungen sind zu bedenken?

Die Entwicklung zeigt, dass eine grundlegende Auseinandersetzung mit den ethischen Implikationen der Digitalisierung in der Medizin erforderlich ist. Grund genug, das Thema auf der diesjährigen Jahrestagung der Akademie für Ethik in der Medizin in der Zeit vom 13.–15. September 2018 in Köln intensiver zu beleuchten. Gemeinsam wollen wir uns mit den Chancen, Risiken und Herausforderungen der Digitalisierung in der Medizin auseinandersetzen und unterschiedliche Disziplinen, wie etwa Philosophie, Theologie, Medizin, Pflege- und Gesundheitswissenschaften, Soziologie, (Bio‑/Medizin‑)Informatik und Rechtswissenschaften, zu Wort kommen lassen. Alle Informationen zur Tagung finden Sie unter: http://ceres.uni-koeln.de sowie http://www.aem-online.de. Wir freuen uns darauf, Sie im spätsommerlichen Köln begrüßen zu dürfen!